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War das ein Getue und Geraune, als das erste Fräulein eintrat. Schon bei der dritten fiel das Raunen fort. Das Getue aber schwand auch bei der zehnten nicht. Es fiel auf ein erträglich Maß.
Die Else Wacker war die zwölfte. Das Getue beschränkte sich auf Adolf Sturmbrenner, den Volontär. Ich als Mitlehrling war empört. Denn ich hatte kein Getue mit der Else Wacker. Ich verehrte sie in aller Stille.
Es ist wahr, sie war die erste nicht. Da war vor einem Jahr die Olga Hüttelmann gewesen, die Tochter unsres Lagerhalters. Sie hatte mir erlaubt, an einem Sonntagvormittag unter den Arkaden mit ihr auf- und abzugehen. Aber das war auch das Ende. Ich weiß nicht, wie wir draufgekommen sind. Ich glaube sie erzählte, daß ihr Bruder wegen der Geometrie sitzengeblieben sei. Darauf sagte ich, mir hätte so was nie passieren können. Zum Beweise erzählte ich ihr von den vier Kongruenzfällen der Dreiecke. Die hatte ich noch gut im Kopf. Ich zeichnete sie mit dem Stock in den Arkadensand vor der Bank. Um elf sagte sie, sie müsse heim. »Einen Augenblick, Fräulein Olga«, sagte ich, »bis ich den vierten Kongruenzfall –« Aber sie beharrte auf dem Heimgang. Sie hat mich zu meinem Erstaunen nie wieder unter die Arkaden bestellt.
Um mich vor ähnlichen Enttäuschungen zu hüten, beschloß ich, meine zweite Liebe stille zu verehren. Damit fiel ich auf der andern Seite in das Wasser. Denn nun schöpfte Adolf Sturmbrenner den Rahm ab. Uebrigens ein Mensch, der ein halbes Jahr nach der Schule keine Ahnung mehr von den vier Kongruenzfällen hatte. Dafür wußte er Bescheid im Herzenknicken. In der Schule hatte er das nicht gelernt. Er mußte ein geheimes Mittel haben. Ihm flogen Herzen nur so zu. Mochten sie, schwer können solche Herzen doch nicht wiegen, hatte ich mich bisher getröstet. Von der Else Wacker aber hätt' es mich gewurmt. Denn deren Herz war keine leichte Ware, glaubte ich zu fühlen. Man fühlt ja, was man wünscht.
Aber einmal sah ich, wie sie einen Brief las. Auch Adolf 183 Sturmbrenner sah es. Sofort setzte er ein schmerzliches Gesicht auf. Jetzt schaute Else Wacker auf sein Pult hinüber. Feierlich und voller Weltschmerz nickte er ihr zu. Dunkles Mitleid huschte über ihre Züge. Ah, dachte ich, das ist also ein geheimes Mittel, na, warte nur . . .
Er konnte ruhig warten. Denn in Mitleid konnte ich nicht machen. Von den vier Kongruenzfällen abgesehen, stand mir da zuviel im Wege.
Das Schiebefenster vom Prokuristenzimmer klirrte auf: »Einen Auszug vom Konto Hunzinger & Co., Fräulein Wacker!« rief der Prokurist.
»Fräulein Wacker ist am Telephon«, sagte jemand, »darf's vielleicht der Müller machen?«
Ich durfte. Ich wälzte ihr Kontokorrent. Ein Brief flog auf. Unterschrift: »Ihr tiefgebeugter Adolf Sturmbrenner.« Ich weiß, ich hätte mir daran genügen lassen sollen. Zeig mir aber einer einen, der das könnte, wenn der Nebenbuhler tiefgebeugt an die Geliebte schriebe.
Ich las den Brief. Es standen große Worte drin von Schmerz und Unglück, von der Eitelkeit des Glücks und den Hinfälligkeiten des Menschenlebens. So überzeugend stand es da, daß mich selber fast das Mitleid packte: der arme Sturmbrenner.
»Konto Hunzinger schon fertig?« klirrte ein Fenster. Hui, da brannte mir ein anderer Sturm auf meinen Fingern. Aber zwischenhinein tauchte das gramzerwühlte Antlitz immer wieder aus dem Brief.
»An Saldovortrag«, schrieb ich, »Gott, wenn's ihm wirklich gar so schlecht geht . . .«
»Okt. 15. Per Rimesse«, schrieb ich, »hm, wenn ich ihn doch falsch beurteilt hätte . . .«
»Dez. 3. An Zucker«, schrieb ich, »der arme Teufel, wenn er gar so glücklos ist, so ist's wohl meine Pflicht, zu seinen Gunsten zu verzich –«
»Heda«, klirrte das Fenster, »soll ich ewig auf den Kontoauszug Hunzinger & Co. –?«
»Hier ist er bitte.«
»Ist gut.« Er setzte schon zur Unterschrift die Feder an, ließ sie aber sinken: »Was haben Sie denn da geschrieben: 184 »Saldo schlechtgeht . . . Okt. 15. Per Rimesse falsch beurteilt . . . Dez. 3. An Zuckerpflichtverzicht – Mensch, sind Sie verrückt geworden oder – oder –« Er sah mich scharf an: »– oder verliebt?
»Nein«, stammelte ich, »ein anderer –«
Er pfiff leise durch die Zähne: »Aha – sind reichlich jung für solche Dinge, junger Mann – na, seien Sie vergnügt, daß es ein anderer ist und schreiben Sie das Konto nochmal.«
Abends auf dem Heimweg gab ich mir einen Ruck. Die Verehrung von Fräulein Else wollte ich mir aus dem Herzen reißen. Großmut üben gegen den Rivalen.
»Sturmbrenner«, sagte ich, »Sie tun mir leid.«
»Warum denn?« lachte er.
»Sie müssen in einer schrecklichen Verfassung gewesen sein, gestern abend.«
»I wo, pudelwohl ist mir gewesen bei drei Maß Bier und einem Pfund Leberkäs.«
»Aber der Brief, den Sie an – an –«
»Hat sie Ihnen was gebeichtet, he?«
Ich wurde rot: »Nein, sie nicht, aber aber –«
Er hörte gar nicht zu. Er ließ elegant das Stöckchen flirren. Er markierte Don Juan und Weltmann: »Lieber Freund, so sind nun mal die Weiber – mit Mitleid fängt man keine Fische, aber Mädchens – und geht's mit Briefen nicht, dann hab' ich noch ein Mittel, das ist unfehlbar – Sie sind ja noch 'n Grünling – aber wenn Sie mir versprechen, bei der Wacker meine Kreise nicht zu stören, will ich's Ihnen sagen – na, was ist, sind Sie verrückt geworden oder – oder –«
Ich war empört in eine Nebenstraße abgeschwenkt. Ging da nicht die Else Wacker? In einer Wallung kam ich auf sie zu: »Fräulein Wacker, Sie müssen nicht alles für bare Münze nehmen, was Herr Sturmbrenner Ihnen etwa schreibt –«
»Ach«, sagte sie aufrichtig bekümmert, »was er schreibt, ist nicht das schlimmste, aber was er mündlich –« Sie unterbrach sich, sah mich prüfend von der Seite an und fuhr dann offenherzig fort: »Sehen Sie, ich hab' mir nichts aus ihm gemacht. Er läßt mir aber keine Ruhe. Jetzt droht er gar, wenn ich ihn nicht erhöre, sich was anzutun.«
185 »Keine Sorge, Fräulein Wacker«, sagte ich eifrig, »er spielt ja nur mit Ihnen und –«
»Aber denken Sie, wenn ich das Leben eines Menschen auf dem Gewissen –«
»Ohne Sorge, so was sagt man oder schreibt man, aber bis zum Tun ist noch ein weiter –«
»Nein, nein«, sagte sie ängstlich, »er hat mir doch das Fläschchen selbst gezeigt.«
»Welches Fläschchen?«
»Ein Totenkopf ist drauf mit gekreuzten Knochen und darunter steht Gift, o Gift – o Herr Müller, wenn Sie ihm das nehmen könnten – so dankbar, wie ich Ihnen wäre –«
»Wollen sehen, wollen sehen«, murmelte ich zwiespältig und nahm vor ihrem Hause Abschied.
Diese Nacht führten Totenköpfe einen Tanz auf um mein Bett. Auf jedem dieser Köpfe trommelten zwei Knochen Generalmarsch. Ich duckte mich unter die Decke. Da tanzten und trommelten sie noch näher. Mir brach der Schweiß aus. Da kam eine Stimme: »Pack doch zu!« Da nahm ich meinen Mut zusammen. Nach einem Schädel griff ich. Er zerfiel in Staub. Nach einem zweiten langte ich, nach einem dritten, einem vierten. Sie zerfielen alle. Gewonnen hatte ich, gewonnen.
Froh und früh ging ich ins Geschäft am andern Morgen. Es war eine Viertelstunde vor der Zeit, als ich vor der Glastür des Kontors stand. Stimmen? Ich stellte mich auf die Zehen: Ah, Fräulein Wacker und Herr Sturmbrenner. Und ihre Stimmen gingen hoch.
»Um Gotteswillen, tun Sie sich nichts an!«
»Was liegt an meinem Leben«, kam die Antwort theatralisch, »wenn Sie mich nicht lieben – mein Fläschchen hier wird aller Not ein Ende machen.«
»Tun Sie's fort, Herr Adolf –«
»Erst müssen Sie mir sagen: Adolf, ich liebe Sie!«
»Nun denn, in Gottesnamen –«
»Nein, in Teufelsnamen!« schrie ich, rannte durch die Türe, riß ihm das Fläschchen aus der Hand, entkorkte seine Totenknochen, hob es an den Mund und –
186 »Herr im Himmel«, rief sie, »er vergiftet sich!« Sie versuchte mich zu hindern. Aber ich hatte es schon ausgetrunken. Mit einem Schluck. Und lachte: »Keine Angst, ich sah's ihm am Gesicht an: Der Fläschcheninhalt war, was seiner Liebe Inhalt ist: Wasser!«
Vom Prokuristenzimmer klirrte das Schubfenster: »Schön, daß Sie schon früher an die Arbeit gehn – es ist Bilanz und Inventurzeit, da tut ganze Arbeit not und reiner Tisch.«
Das Fenster klirrte zurück. Wir gingen still an unsere Pulte.