Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Der Kassenbuchhalter Weidenmann war pensionsberechtigt. Als er knapp sechzig Jahre alt war, ließ er die Schultern ein 88 wenig hängen, neigte verzichtend den Kopf und sagte: »Werde mich wohl pensionieren lassen müssen, wie?«
»Ja ja, Herr Weidenmann«, meinten die Leute.
Sofort richtete sich der Kopf gerade. »Nun, ich denke, es hat noch Zeit«, sagte er und ging stramm ins Geschäft. Nur die Schultern hingen ein wenig abwärts.
Knapp vor dem fünfundsechzigsten war es, daß die anderen fragten: »Nun, Herr Weidenmann, wie ist es mit der Pensionierung?«
Jetzt wurden auch die Schultern gerade. »Pensionierung?« fragte er verwundert, als hörte er zum erstenmal dies Wort. »Pensionierung? Ach so, nun, ich denke, ihr werdet es wohl erwarten können.«
Nun marschierte er auf Siebzig zu. Dann und wann riß es ihn freilich zusammen, so daß er zu Hause bleiben mußte. Alterszeichen im Rückgrat, in den Füßen; aber ins Geschäft schrieb er von einem miserablen Zahnweh auf dem hintersten Stockzahn unten rechts. In dem Briefe nahm sich der hinterste Stockzahn unten rechts fast jugendlich aus.
»Donnerwetter, mit fast siebzig Jahren!« sagte Herr Kramer beim Lesen der Entschuldigung und untersuchte mit der Zungenspitze unwillkürlich seine eigenen Zähne.
Der Prokurist aber lächelte. Einmal hatte er mit dem Buchhalter einen scharfen Streit gehabt und zum Schluß gewettert: »Herr Weidenmann, reißen Sie den Mund gefälligst nicht gar so weit auf!« Und bei eben jenem vermahnten Mundaufreißen hatte er festgestellt, daß der hinterste Stockzahn unten rechts bei Herrn Weidenmann gar nicht vorhanden war.
Aber es waren nicht die Zähne allein. Auch die Füße ließen nach. Bei Siebzig ist das keine Schande. Trotzdem kaufte sich Herr Weidenmann hilfreiche Gummiabsätze.
»Als ob das etwas hülfe«, sagten die anderen, »wenn einmal die Füße nachlassen.« Die Füße, sagten sie, und auf die Stirn deuteten sie und lächelten. Wie eben Freunde lächeln, wenn sie anderen was am Zeuge flicken können.
Auch der alte Bürodiener Schwalbenmann hatte gelächelt, als ihm neulich der Weidenmann auf ein Versehen in der Registratur gekommen war und gemeint hatte: »Na, 89 Schwalbenmann, wie haben Sie nur Steinbeiß unter Sch registrieren können.«
»Ach«, gab der Beamte treuherzig zur Antwort, »wenn man einmal so alt ist, wie ich und Sie, dann laßt's halt aus, Herr Weidenmann.«
»Nun, was mich betrifft, ich merke nichts davon.«
»Ja ja, das glaub i schon aber die anderen, Herr Buchhalter, die anderen!«
Zu diesen anderen gehörte auch der Prokurist, der klagte: »Es geht nicht mehr so weiter, Herr Kramer, mit dem alten Weidenmann.«
»Was ist denn schon wieder?«
»Er hat das Delkredere-Konto schon wieder in die Bilanz gebracht, anstatt es vorher abzubuchen.«
»Hm, das ist eine dumme Sache – das Alter eben, das Alter.«
»Er muß sich pensionieren lassen.«
»Das ist eine heikle Sache – seit fünfunddreißig Jahren im Dienst, und nun auf einmal futsch. Wollen Sie's ihm sagen?«
»Ich dachte, daß Sie selbst am besten –«
»Gewiß, gewiß, aber in diesem besonderen Falle wäre es mir doch lieber gewesen, Sie hätten das gemacht, mein lieber Mathis.«
»Mein Lieber?« Der Prokurist lächelte. Und in diesem besonderen Falle? Hm, der besondere Fall, der war, daß Herr Kramer auch nicht mehr sehr weit von den Siebzig war.
»Man könnte es schmerzlos mit einem Jubiläum versuchen?«
»Wenn Sie meinen, ganz wie Sie meinen.«
Und Herr Mathis meinte so, daß er dem siebzigsten Geburtstag des Buchhalters Weidenmann im nächsten Monat ein öffentliches Gepräge geben wollte. Er machte eine kleine, nette Feier, zu der auch die Angestellten geladen wurden. Nichts fehlte, die üblichen Blumen waren da, die übliche Adresse wurde überreicht, die üblichen Reden wurden gewechselt –
». . . und so habe ich denn unserem allverehrten Herrn Buchhalter Weidenmann im Auftrage des leider 90 verhinderten Herrn Kramer diese Widmung für seine treugeleisteten Dienste . . .«
Jetzt stellte sich auch die übliche Rührung ein. Und dann war ganz am Ende der Ansprache die Rede davon, daß es dem Herrn Jubilar trotz seiner bewundernswerten Frische niemand verargen könne, wenn er jetzt ein Bedürfnis nach wohlverdienter Ruhe verspüren sollte und wenn . . .
Und nun war alles gespannt auf die Erwiderung.
Die hatte der Buchhalter vorzüglich vorbereitet, wie Oel floß sie in jungem Schwunge. Erst am Ende war sie stockend. Am Ende, wo das Nichtvorbereitete drankam, das von der Pensionierung:
». . . nein, ich gehöre nicht zu jenen, nicht zu jenen, die ein vorhandenes Pensionsrecht ausnützen – rücksichtslos ausnützen – nein, dazu gehöre ich nicht. Ich fühle mich noch fest und kräftig mit dem Geschäft verwachsen, und da der Herr Prokurist eben selbst noch die Güte hatte, von bewundernswerter Frische zu sprechen, so . . .«
Der Prokurist trommelte nervös auf den Tisch. Und am andern Morgen mußte er berichten: »Es war nichts zu machen, Herr Kramer. Ein unglaublich zäher Mensch, dieser Weidenmann.«
»Was ist mit ihm; machen Sie's kurz, Mathis.«
»Er bleibt.«
»Er bleibt?! Gut – einen Augenblick, bitte.« Herr Kramer drückte auf einen Knopf. Der alte Schwalbenmann schlurfte herein. »Herr Weidenmann soll kommen!«
Der Herr Weidenmann kam ein wenig unsicher. Mit einem merkwürdig verschwiemelten Gesicht. Einem Gesicht, wie er's all die fünfunddreißig Jahre her noch nie herumgetragen hatte. Das Jubiläum eben, das Jubiläum gestern, und der famose Wein . . .
»Mein lieber Weidenmann«, sagte Herr Kramer und streckte ihm herzlich die Hand hin, »mein lieber Weidenmann, ich höre also, daß Sie sich nun doch zur Pensionierung entschlossen haben.«
Der Buchhalter machte ein angestrengtes Gesicht. Donnerwetter, sollte er also gestern doch in der Weinlaune –?
»– aber ich kann Sie verstehen, mein lieber Weidenmann. 91 Alles in der Welt hat mal ein Ende. Und die Firma begreift es, daß jemand nach fünfunddreißig Jahren –«
»Aber Herr Kramer!«
»Daß jemand nach fünfunddreißig Jahren ruhebedürftig ist. Wir begreifen nicht nur, Herr Weidenmann, wir tun noch ein übriges und pensionieren Sie mit vollem Gehalt, Herr Weidenmann, trotzdem ja eigentlich noch ein Pensionszehntel theoretisch fehlt.«
»Ich gratuliere, Herr Weidenmann«, sagte der Prokurist. Und der alte Buchhalter schüttelte ein wenig zögernd und ein wenig verworren die Hände seiner Vorgesetzten und schlich müde gegen die Türe. Diesmal hingen die Schultern arg, und der Kopf dachte nicht daran, sich aufzurichten.
»Einen Augenblick noch, Herr Weidenmann, am nächsten Ersten also, nicht wahr? – Sie arbeiten bis dahin den Herrn Schwankhardt vollends ein, und außerdem wird der Herr Laxmeier . . .«
Der Buchhalter hörte nichts mehr. Auf seinem Platze saß er vor der Probebilanz und addierte mechanisch. Nein, nein, das ging nicht. Jedesmal kam was anderes heraus. Er wollte lieber nachdenken.
»Herr Weidenmann, kann ich vielleicht die Probebilanz addieren?« Der Herr Schwankhardt, sein Nachfolger, hatte es höflich und dienstbereit gesagt.
»Lassen Sie mich in Ruhe. Noch hin ich auf meinem Posten!«
»Aber, Herr Weidenmann, ich wollte doch nur –«
»Schon gut, stören Sie mich jetzt nicht weiter. Sieben – dreizehn – einundzwanzig – fünfundzwanzig – dreiunddreißig . . .«
Es nützte nichts: wieder kam was anderes heraus. Die Bleistiftspitze zitterte wie ein Bajonett, das sich auf rebellisch gewordene Soldaten richten mußte. Ei, nun hatte er sie fünfunddreißig Jahre unumschränkt beherrscht, diese Soldaten, zu Bataillonen formiert, zu Schlachten geführt, zu Siegen – und jetzt versagten sie den Dienst, jetzt wimmelten sie ihm halb betrunken durcheinander?
Aber er würde sie schon noch einmal zwingen, diese Kerle. Bis zum nächsten Ersten mußten sie ja unter seiner Fuchtel 92 bleiben. Und nachher mochte ein anderer sehen, wie er mit ihnen fertig wurde. Ein anderer? Ach, richtig der Schwankhardt. Ob der freilich dem gewachsen war? Hm, tüchtig war er schon. Aber Buchhalter? Ihn ersetzen? Alle Bilanzfeinheiten, die er in fünfunddreißigjähriger Wirksamkeit herausgeklügelt.
Nun, man würde ihn dann eben holen lassen müssen. An seine Wohnungstüre werden sie klopfen. »Ach, Herr Weidenmann, Herr Kramer läßt bitten, ob Sie sich nicht doch noch einmal der Bilanz annehmen wollten. Wissen Sie, der Herr Schwankhardt . . .«
»Hm, eigentlich habe ich gerade heute keine Zeit. Aber wenn es Herr Kramer selber wünscht – na, sagen Sie ihm, in einer Stunde würde ich drüben sein.«
Ja ja, so würde es kommen. So! Und jetzt gehorchten auch die Ziffern wieder – zweiundsechzig – neunundsechzig – vierundsiebzig – einundachtzig . . .
* * *
Als Herr Weidenmann zu gewohnter Zeit aus dem Schlaf erwachte, war es der Erste im Monat. Gestern hatte er seinem Nachfolger alles übergeben. Aber wie er jetzt den dünnen Schlaf aus den Augen rieb, hatte er das schon wieder vergessen, dachte nicht daran, daß heute Herr Schwankhardt auf dem Buchhalterplatze sitzen würde, pünktlich um acht Uhr.
Ja ja, um acht Uhr erst würde Herr Schwankhardt kommen, wogegen er schon immer um halb acht Uhr durch das Tor marschierte. Nicht, daß er es gewußt hätte, aber er war es noch von früher her gewohnt, und um diese halbe Stunde war er allen Beamten vorausgeblieben bis gestern. Nein, bis heute; denn der alte Buchhalter ging wie gewohnt den alten Weg. Gebückt, beklemmt; es war ihm immer, als hätte er für heute etwas besonders Wichtiges vor. Was war es doch? Gleichviel, bei seiner Arbeit würde es ihm schon einfallen. Sicher hatte er sich's auf seinem Merkblock notiert. Hm, war es nicht das Delkredere-Konto?
»Hopla!« sagte ein Bäckerjunge, der den alten Mann mit den schweren Füßen über einen Randstein stolpern sah. Aber das Lachen verging ihm, als der Alte zusammensank und nach 93 Atem rang. Geschwind stellte er den Semmelkorb auf die Seite und half, faßte unter die Arme, hob und zog. Aber da war der Alte schon wieder notdürftig auf den Beinen.
»So so, ich danke; es geht schon wieder. Nur der Atem wird ein wenig kurz, das ist alles. Was – begleiten? Ich finde meinen Weg schon selbst. Guten Tag und danke schön.«
Und er fand den Weg wie an jedem Tag dieser fünfunddreißig Jahre. Nur daß er ein wenig schwankte, als er durch das Tor ging. Er merkte es nicht, wie der Hausverwalter erstaunt grüßte und die Bürodiener hinter ihm herflüsterten: »Jetzt kommt er also doch wieder, und wir dachten . . .«
Es kam ihm kaum klar zum Bewußtsein, daß er ein wenig benommen auf seinem alten Platze saß und plötzlich erstaunte:
»Ader, Herr Müller, Sie haben ja noch gar nicht meine Bücher aus dem Schrank gebracht!«
»Ich glaubte – ich dachte«, stotterte ich.
»Sie haben nichts zu glauben. Marsch, ein bißchen fix! Das ist doch wahrhaftig das erstemal, daß meine Bücher nicht zur rechten Zeit – ja ja, die jungen Leute heutzutage . . .«
Das Hauptbuch lag da und er schlug es mitten auf. Teufel, schon wieder diese Atemnot! Und nur von der kleinen Anstrengung. Ob er vielleicht für sein Alter doch zu schwere, fette Speisen aß? Nun, er würde es heute der Frau Rüchenmann einmal sagen müssen.
Die Geschäftsräume füllten sich. Nach den Bürodienern und Lehrlingen kamen die ersten Angestellten. Sie gingen durch den Buchhaltungsraum und sahen verwundert den alten Weidenmann am Fenster sitzen, ganz vergraben in sein Hauptbuch. Und sie wollten etwas sagen. Aber irgendein Lehrling oder ein Bürodiener legte den Finger an den Mund und deutete ein »Bscht« an und flüsterte: »Er ist wie immer gekommen. Vielleicht, daß Herr Kramer doch wieder . . .«
Kopfschüttelnd wandten sich die Beamten zu ihren Plätzen. Und jetzt kam auch Herr Schwankhardt. Er blieb wie vom Blitz getroffen an der Türe stehen. Aller Augen richteten sich auf ihn. Was würde er jetzt sagen? Was würde er jetzt tun?
Aber noch ehe er den Mund geöffnet hatte, stand der 94 Prokurist an seiner Seite und schaute mit einem verlegenen Lächeln vom Nachfolger hinüber zum Vorgänger am Fensterplatz, der noch immer ganz vergraben in seinem Bücherberg dasaß und anscheinend kein Wort von dem Gesumme um ihn vernahm.
»Herr Mathis, Herr Mathis«, brachte der Nachfolger mühsam heraus, »das ist, das ist eine Beleidigung. Ich verlange von Ihnen, daß Sie dem Herrn Weidenmann sofort mitteilen, daß er seine Rolle endlich ausgespielt hat und daß –«
Herr Kramer ging an den beiden vorbei, schweigend und entschlossen auf den Fensterplatz zu, wo der alte Buchhalter noch immer tief gebeugt zwischen seinen Büchern saß und tat, als ginge ihn das alles gar nichts an.
Eine schwere Hand legte sich ihm auf die Schulter. »Herr Weidenmann, darf ich bitten!«
Aber da zuckte Herr Kramer plötzlich zusammen, zog rasch die Hand zurück und sagte beherrscht zu den staunenden Beamten: »Sie haben recht, Herr Weidenmann hat seine Rolle wirklich ausgespielt – aber sagen kann ich's ihm nicht mehr, denn er ist tot.«