Balduin Möllhausen
Die Hyänen des Kapitals
Balduin Möllhausen

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Fünfunddreißigstes Kapitel.

Der Besuch im Armenhause.

Die Verkündigung des Testamentes und die sichere Unterbringung des flüssigen Geldes hatte auch nach anderen Richtungen hin Veränderungen im Gefolge; Pläne gelangten zum Abschluß, die von Maller und dem geschäftskundigen Gerhard längst heimlich eingeleitet und gefördert worden waren: Das Haus, das Meredith so lange als Mieterin bewohnte, war ihr Eigentum geworden. Als Anzahlung genügten die aus den Trümmern der Zentrifugalbank geretteten zwei und ein halb Prozent ihres Vermögens; dagegen begrüßte die Vormundschaft mit Freuden die Gelegenheit, die Hauptsumme aus Maßliebs Vermögen hypothekarisch auf das Grundstück eintragen zu lassen. Gerhard und Esther behielten als Mieter die eine Hälfte des Hauses, während Meredith in ihren alten Räumlichkeiten ungestört weiterlebte und Maßlieb sich mit ihr in diese teilte. Die Verhältnisse hatten sich dadurch so gestaltet, daß Meredith den Verlust ihres Geldes nur in soweit empfand, als ihr die Mittel zu neuen Ankäufen von Altertümern fehlten. Letzteres war ihr um so weniger eine schmerzliche Prüfung, als die krankhafte Vorliebe für solche seit Kappels geheimen Mitteilungen schlafen gegangen war. Ein bescheidenes Auskommen sicherten ihr die aus dem Hause gezogenen Mietserträge; eine Erhöhung derselben versprach der voraussichtliche Verkauf eines entbehrlichen Teiles des die Straße begrenzenden Gartens. Maßliebs Vermögensverhältnisse waren bis auf einige noch angezweifelte Außenstände, namentlich die zwischen Ulrich und Nathan schwebenden Beziehungen, geordnet worden. Sie selbst gewann es nicht über sich, denselben ihre Teilnahme zuzuwenden; ruhte doch alles in Mallers sicheren Händen, dem durch die gewissenhafte Verwaltung eine willkommene Nebeneinnahme zu seinem zwar erhöhten, jedoch immer noch sehr mäßigen Gehalt zufloß. Dem greisen Schwärmer war ein Giebelstübchen auf Gerhards Wohnungsseite eingeräumt worden, für ihn, den so vielfach Enttäuschten, eine Art irdischen Paradieses, zumal seine Kräfte noch ausreichten, die Stelle eines Haushofmeisters und Gärtners auszufüllen. Er ging störrisch davon aus, sich bis zu seiner letzten Lebensstunde redlich ernähren zu können.

Der heruntergekommene Korpsbursche hatte dagegen das Haus verlassen. Es war Gerhard gelungen, in dem Bankhause, in dem er selbst als Prokurist tätig war, eine Stelle für ihn zu erwirken. Bei seinen Kenntnissen und seiner Gewissenhaftigkeit wurde ihm sogar die Aussicht auf Avancement eröffnet, was ihn indessen ziemlich kalt ließ. Denn im Grunde sehnte das alte verdorbene Genie sich wieder nach Wald und Feld hinaus, wo keine Mauern ihn von Gottes freier Natur trennten. –

Ein trüber, gewitterschwüler Nachmittag lagerte über der Hauptstadt, als Maßlieb und Meredith sich auf dem Weg nach einem der verrufensten Stadtteile begaben. Bei ihnen befand sich der biedere Kappel, der, fußend auf seinen Ortssinn und prangend in stattlicher Sonntagsgarderobe, sich als Führer angeboten hatte. Trotz des alten Korpsburschen Pfadfindertalentes streiften sie lange in elenden Gassen und Gäßchen umher, bevor sie an die richtige Tür gelangten, die ihnen aber erst nach mehrfachem Klopfen geöffnet wurde. Die Mutter Sarah trat ihnen entgegen, mit dem Wesen einer unter dem Drucke trauriger Verhältnisse schwer leidenden Arbeiterfrau nach ihrem Begehr fragend.

»Ich wünsche eine Person namens Rosamunda zu sprechen,« antwortete Meredith mit drohender Entschiedenheit.

Das Weib zuckte die Achseln und beschwor bei allem, was ihr heilig sei, nie in ihrem Leben eine Rosamunda gesehen zu haben. Sie hatte indessen kaum ausgesprochen, als sie Maßliebs ansichtig wurde. Ein Ausruf des Erstaunens entschlüpfte ihrem zahnlosen Munde; dann aber heftete sie einen so frechen und zugleich schadenfroh verständnisvollen Blick auf Maßlieb, daß diese wie von einem tödlichen Hauch bis ins Herz hinein getroffen wurde. Die anfängliche Scheu des Weibes schien durch Maßliebs Anwesenheit beseitigt zu werden, denn sie lachte in Entsetzen erregender Weise.

»Hoho, mein Täubchen,« begann sie mit nichtswürdiger Berechnung, »man hat also jemand gefunden, der sich des tugendsamen Kindes erbarmte – 'nen Baron, 'nen Grafen oder gar 'nen Gründer – und kommt nun, um die Bekanntschaft mit der lieben Mutter Sarah für 'ne runde Summe vergessen zu machen? Und dann mein schöner weißer Ballanzug! Ei, ei, was der gute Herr Nathan wohl dazu sagte, wenn er noch lebte, um's zu wissen!«

Maßlieb war einer Ohnmacht nahe.

Kappel gewahrte es und drängte sich zu der Megäre auf den finsteren Hausflur, ihr dadurch den Anblick Maßliebs entziehend.

»Noch ein einziges Wort,« rief er zähneknirschend aus, »nur noch eine Silbe aus Ihrem geifernden Munde, und ich führe Leute hierher, die Sie ausfragen werden, wer im vorigen Jahre dem sterbenden Fremden seiner Geldmittel und seiner Uhr beraubte, und schließlich den seinen Wunden Erliegenden –«

»Nicht so laut, nicht so laut,« lispelte das Weib, plötzlich in sich zusammenschauernd, »'s war alles Schein, ich weiß nichts, weder von einem Fremden, noch von einer Rosamunda –«

»Auch nicht, daß jene Rosamunda dem Sterbenden den letzten Dienst leistete?« fuhr Kappel ingrimmig fort, »nicht, daß ein Weibsbild in Teufelsgestalt die Treppe hinunterkroch, die den Tod des Unglücklichen nicht erwarten konnte und dennoch vor dem Tode zitterte?«

»Was soll's – ich weiß nichts,« röchelte das Weib, von Todesangst ergriffen, »ich bin zu allem bereit, was nicht die Rechtschaffenheit –«

»Die Rosamunda will ich sprechen,« fiel Kappel ungeduldig ein, »führen Sie mich zu ihr, oder sie zu uns heraus, und was sonst noch Sie selber für das Zuchthaus reif macht, soll mich nicht kümmern!«

»Die Rosamunda?« fragte das Scheusal nachdenklich, und wiederum suchten die giftigen Blicke Maßliebs Augen, »hm, die Rosamunda? Ja, ja, ich entsinne mich – sechs oder sieben Monate mag's her sein, da erkrankte sie schwer, daß sie ins Armenhaus geschafft werden mußte. Alles, was ihr Eigentum war, nahm sie mit, und da sie nicht Abschied von mir nahm, hatte ich keinen Grund, mich weiter um sie zu härmen.«

»Im Armenhause?« fragte Kappel streng, »gut, wir werden dort nach ihr forschen; aber wehe Ihnen, wenn wir den Weg vergeblich machen!«

»Ins Armenhaus,« bestätigte das Weib noch einmal. Sobald aber Meredith und Kappel sich von ihr abgewandt hatten, Maßliebs Blicke dagegen, wie durch Zauberkraft gebannt, noch auf ihr ruhten, verzerrte sie ihre scheußliche Physiognomie zu einem so gehässigen, schadenfrohen Grinsen, als wäre jeder Hauch von ihr mit einem besonderen Fluch vermischt gewesen, so daß Maßlieb bis in ihr armes Herz hinein erbebte.

Und ins Armenhaus begaben sich die drei in der Tat auf dem nächsten Wege. Denn auf Maßliebs Seele ruhte es wie das erdrückende Bewußtsein einer ungelösten Pflicht der Dankbarkeit. Diejenigen aber, die mit zärtlicher Liebe an ihr hingen, boten gern alles in ihren Kräften Stehende auf, jenen Schleier sanfter Schwermut, der sich selbst in ihrem herzigsten Entgegenkommen verriet, von ihrem Gemüt zu entfernen. Wie der Kristall, wenn aus scharfer Kälte plötzlich in eine warme Atmosphäre hinübergetragen, den Glanz seiner tadellos geschliffenen Flächen verliert, um ihn erst dann wieder zurückzugewinnen, wenn die Wärme ihn gänzlich durchdrang, so bildete es sich wie ein trübender Hauch um die schüchtern und oftmals mit heimlichem Bangen in die Zukunft schauende reine Seele. Die sich in ihr spiegelnde Liebe fand wohl eine bleibende Stätte, zugleich aber war sie dem lange nachwirkenden Eindruck der gehässigsten aller Leidenschaften unterworfen, die ihr nie verziehen, daß sie dem Pfuhle des Lasters und des Verbrechens ungefährdet entschwebt war. –

Im Armenhause hatten im Verlauf der letzten sechs oder sieben Monate gar viele ihren Einzug und Auszug gehalten. Manche, um zu ihrer gewohnten ehrlichen Arbeit zurückzukehren; manche, um unter einem Erdhügel eine Wohnung zu finden, aus der sie niemand mehr vertrieb. Andere griffen wieder zu ihrem alten Gewerbe, einem Gewerbe, das sich gern der Öffentlichkeit entzog; und noch andere, kaum gesundet, sahen sich der Not und dem Elend preisgegeben und griffen nur zu bald zu Mitteln, die sie unter polizeiliche Aufsicht und schließlich hinter feste Mauern und eiserne Gitter brachten.

Lange suchte der Inspektor in den Listen nach einer Rosamunda; und als er diesen Namen endlich fand, zuckte er geringschätzig die Achseln.

»Innerlich unheilbar erkrankt,« bemerkte er gleichmütig, »äußerlich die Spuren vielfach wiederholter schwerer Mißhandlungen, so ist sie hier aufgenommen worden. Sie sprach kein Wort, weigerte sich, Arzneien zu nehmen, war überhaupt ein störrischer Charakter, wie man solche vielfach in der Verbrecherwelt vertreten findet. Drei Wochen befand sie sich in der Anstalt, als sie starb. Ihr Leben hätte noch Monate hingehalten werden können, allein mit raffinierter Bosheit trug sie das ihrige dazu bei, ihr Ende zu beschleunigen. Nur einmal, wenige Tage vor ihrem Tode, gewann es den Anschein, als ob neue Lebenslust sie anwandle. Sie bat um Schreibmaterialien und setzte einen Brief auf, den ich auf ihr dringendes Flehen an den Herrn Bankdirektor Nailleka beförderte. Ich hätte es sollen bleiben lassen, allein Sterbenden gegenüber, wenn auch der verworfensten Menschenklasse angehörend, beschleicht mich immer eine gewisse Teilnahme.«

»Und welche Antwort wurde ihr?« fragte Meredith nach einem besorgten Blick in Maßliebs angstvolle, gespannte Augen.

»Eigentlich gar keine, gerade so, wie ich es erwartete,« versetzte der Inspektor, »der Herr Bankdirektor schickten geneigtest den offenen Brief – der sicherste Beweis, daß die Person kein Recht besaß, ihn durch Zudringlichkeiten zu belästigen – mit einem durchaus nicht schmeichelhaften Kompliment an mich zurück – doch hier liegt er bei den Akten jenes Monats,« und ein Schreiben zwischen den Heften hervorziehend, reichte er es Meredith dar.

Diese betrachtete die unsicheren, kaum leserlichen Schriftzüge, dann las sie laut:

»Herr Bankdirektor! Bei den Erinnerungen, die sich an das verfehlte Dasein einer Unglücklichen knüpfen, beschwöre ich Sie, flehe ich zu Ihnen: Schützen Sie meine Leiche gegen das Seziermesser!

Rosamunda

»Ihr Geist mußte nicht mehr recht klar sein, als sie solche Zumutungen an einen ihr fernstehenden, hochgeachteten Herrn richtete,« schaltete der Inspektor ein, während Maßlieb, von namenlosem Grauen erfüllt, sich auf den ihr höflich gebotenen Arm Kappels lehnte.

Meredith lächelte feindselig, worauf sie fortfuhr:

»Der Bescheid auf das unerhörte Ansinnen ist gleich hier unten beigefügt,« und lesend: »Beifolgend zwanzig Taler zu Preisen für die Kinder des Armenhauses, die sich durch bereitwilligen und regelmäßigen Besuch der Betstunden auszeichnen. Ergebene Bitte an den Herrn Inspektor, fernere Anregungen zu gern von mir gewährten Beiträgen zu wohltätigen Zwecken, insbesondere zu gunsten dero segensreicher Anstalt, mir in einer anderen Form, als der von einer Verworfenen beliebten, zugehen zu lassen. Mit vorzüglicher Hochachtung und Ergebenheit,

Nailleka

»Mit vorzüglicher Hochachtung und Ergebenheit,« wiederholte Meredith mit unverkennbarem Hohn, »ei, ei, der wohltätige, fromme Herr Bankdirektor, wie sein jungfräuliches Gemüt sich empört bei derartigen Zumutungen! Und die unverschämte Bettlerin, diese Wespe, die, in den letzten Zügen liegend, sich an dem Kapital zu rächen, den guten Ruf eines edelgesinnten, frommen Mannes zu begeifern gedachte, was meinte sie zu dieser Antwort?«

»Sie lachte gellend wie eine Wahnwitzige,« erwiderte der Inspektor befremdet, »dann kehrte sie sich der Wand zu; sie aß nicht mehr, noch trank sie, kein Laut kam über ihre Lippen und am dritten Tage wurde sie hinausgetragen.«

»Nach dem Seziersaal?« fragte Meredith höhnisch, »oder fühlten der fromme und wohltätige Herr Bankdirektor sich dennoch bewogen, die Wünsche einer Sterbenden zu berücksichtigen?«

»Der Herr Bankdirektor scheinen bei Ihnen in keinem guten Andenken zu stehen,« meinte der Inspektor bedauernd, »und doch wüßte ich keinen Menschen, der gerechtere Ansprüche auf die allgemeine Hochachtung hätte, als gerade er, dessen Edelmut selbst durch die harten Schläge, die ihm aus der Undankbarkeit seines Mitdirektors erwuchsen, nicht erschüttert werden konnte. Es ist schmachvoll, wie sein blindes Vertrauen in die Menschheit getäuscht wurde; trotzdem sollte er seinen Wohltätigkeitssinn an die Überreste einer elenden Person verschwenden, die sich einer abscheulichen Überhebung gegen ihn schuldig machte? Ich selbst würde ihm abgeraten haben; dagegen fügte ich das von ihm großmütig übersandte Geldgeschenk gewissenhaft unserer Weihnachtskasse bei. Eigentlich gegen den vielfach ausgesprochenen Wunsch des edlen Gönners unserer Anstalt trug ich seinen Namen in die Liste ein, und merkwürdigerweise kam er gleich hinter den Namen Seiner Hoheit –«

»Und die elende Person verfiel dem Seziermesser?« fragte Meredith wiederum ungeduldig, während sie Maßliebs Hand ermutigend drückte.

»Nein,« antwortete der Inspektor, den ihm zurückgegebenen Brief wieder zwischen die Akten schiebend, »man bemühte sich nicht um sie; die jungen Mediziner sind zuweilen wählerisch, und sie war in der Tat –«

»Genug, genug,« unterbrach Meredith ihn mit einer Gebärde der Abscheu, »ich sehe wie die Sachen stehen. Mag das arme Geschöpf im Tode die Ruhe finden, die im Leben ein Schurke ihr raubte, um sie demnächst erbarmungslos ins Verderben hinabzustoßen. Sie, die nur den Mund zu öffnen brauchte, um eine Bestie in Menschengestalt, einen nichtswürdigen Heuchler zu entlarven, aber vorzog, ihre Geheimnisse mit ins Grab zu nehmen, sie steht höher, als irgend jemand, der von seinem Raube ein Scherflein an die Armen schenkt.«

»Ihre Bemerkung kann sich unmöglich auf den hochgeachteten Herrn Bankdirektor beziehen,« warf der Inspektor sich zu Naillekas Verteidiger auf.

»Sie bezieht sich auf einen Schuldigen,« versetzte Meredith, indem sie sich zum Gehen anschickte; »sollten der Herr Bankdirektor gelegentlich wieder einmal seine Großmut Ihren Armen zuwenden, dann mögen Sie ihm immerhin von meinem Besuch erzählen. Fügen Sie hinzu, daß in den Kolonien der Zentrifugalbank Hunderte von Gräbern um Rache zum Himmel schreien; die Geister elendiglich Gemordeter sich als Furien an die Fersen ihrer Verderber hängen, sie noch in ihrer letzten Stunde mit Schlangengeißeln peitschen und foltern würden. Ja, das sagen Sie ihm; aus Ihrem Mund klingt's vielleicht freundlicher, als aus dem meinigen.«

Sich leicht verneigend trat sie, Maßlieb an der Hand und gefolgt von Kappel, aus dem Zimmer. Der Armenhausinspektor gab ihnen das Geleite bis an die Straßenpforte, wo er sich von ihnen verabschiedete. Er war scharfsinnig genug, zu erraten, daß nicht um geringer Ursache halber sie die Anstalt besucht hatten. Sein Glaube an die fromme Rechtschaffenheit Naillekas hatte indessen zu tief Wurzel geschlagen, als daß er durch die geheimnisvollen Andeutungen einer Fremden zu erschüttern gewesen wäre. –

Mehrere Straßen hatten die Heimkehrenden durchwandert, und Maßlieb schritt neben Meredith einher, als ob sie nur noch ein Traumleben geführt habe, als Kappel, im Hinblick auf das tiefernste bleiche Antlitz seines Lieblings, das drückende Schweigen nicht länger zu ertragen vermochte.

»Eine freundliche Genugtuung gewährt es mir,« hob er an, »daß es mir beschieden gewesen, bei meinem Besuch in jenem verrufenen Hause der Ärmsten für ihre uneigennützige Sorge um einen dem Tod Verfallenen meine aufrichtige Anerkennung auszusprechen.«

»Was sie in ihrem Leben verbrach, sie hat es schwer gesühnt,« versetzte Meredith düster, »und ich bin die letzte, die einen Stein auf sie wirft, weil sie den auf sie einstürmenden Verhältnissen unterlag. Zwischen Hungertod und Schande wählen zu müssen, ist eine entsetzliche Lage.«

»Spuren harter Mißhandlung trug sie auf ihrem Körper,« schien Maßlieb vor sich aus dem Staube der Straße abzulesen; »ich ahne, der Umstand, daß sie mir zur Flucht verhalf, besiegelte ihr furchtbares Schicksal.«

»Wenn solches geschah,« fügte Meredith hinzu, »so war die Erinnerung an das Opfer, welches sie dir uneigennützig brachte, der Engel der Barmherzigkeit, der ihr die letzten Lebensstunden erleichterte, ihren Eingang zum ewigen Licht versüßte.«

Wiederum das dumpfe Schweigen.

»Die Blicke der schrecklichen Frau und ihre höhnischen, rätselhaften Bemerkungen – vergeblich trachte ich, beides zu vergessen,« flüsterte Maßlieb nach einer Weile; »was habe ich ihr getan, ihr und derjenigen, die mich zwang, sie so lange Mutter zu nennen, was habe ich ihnen getan, daß sie mich hassen, mir Ruhe und Frieden raubten, meine eigenen und bösesten Erfahrungen zu meinen unerbittlichsten Verfolgern machten?«

Meredith wechselte einen besorgten Blick mit Kappel.

»Und gilt es dir nichts,« fragte sie darauf Maßlieb, deren Arm inniger an sich drückend, »gar nichts, daß du Glück und Freude um dich her verbreitest, alle guten Menschen sich dir mit herzlicher Liebe zuneigen?«

»Wird Geschehenes dadurch ungeschehen gemacht?« fragte Maßlieb leise zurück; »tötet die nachsichtige Liebe anderer mein Bewußtsein, daß ich so lange in jenem entsetzlichen Hause lebte und mich tätig an dem Gewerbe der Hehlerei beteiligte? Daß ich vor seiner – vor der Leute Türen als Land –«

»Nicht weiter, liebes Kind«, fiel Meredith milde tadelnd ein, »wo das Geschick uns Wunden schlug, da sollen wir nicht einen grausamen Genuß darin suchen, sie offen zu halten, sondern alles aufbieten, deren Heilung zu beschleunigen. Glaube mir, ich kenne das. O, ich könnte dir aus meinem Leben Ereignisse schildern, daß dein armes liebes Herz sich vor Mitleid zusammenkrampfte; Ereignisse, gegen die deine Erfahrungen, die am wenigsten von dir selber gelenkt werden konnten, kaum ein Schatten genannt zu werden verdienen. Trotzdem lebe ich noch und erwärmt sich mein Herz wieder beim Anblick fremden Glückes. Und auch du wirst die Heiterkeit des Lebens zurückgewinnen, wirst an die jetzigen Stunden ohne Zagen zurückdenken, sogar Trost in deinen trübsten Rückerinnerungen finden. Wie oft nach schmerzlichen Eindrücken sorgt die Vorsehung selber dafür, daß sie schnell wieder durch unvorhergesehene, freundlichere, gemildert, vermischt werden!«

Ein Schauder durchlief Maßliebs Gestalt. Meredith fühlte ihr Zittern, und wie ins Leere hineinstarrend, suchte sie sich die Bilder zu vergegenwärtigen, die nicht aus der unstet arbeitenden Phantasie ihres Schützlings weichen wollten. Der bereits hübsch emporgekommene Korpsbursche kaute verzweiflungsvoll auf seinem Schnurrbart. Wie gern hätte er sein Leben hingeworfen, wäre auch nur die leiseste Möglichkeit vorhanden gewesen, dadurch Maßliebs Seelenfrieden zurückzukaufen!

Indem die Freunde um die Straßenecke bogen, bemerkten sie einen Kohlenwagen, dessen Ladung mittels Tragekörben in das nächste Haus hineingeschafft wurde. Eine kurze Stockung in der Arbeit war Ursache, daß der freie Verkehr vorübergehend gehemmt wurde. Indem Kappel aber einen Weg durch das Gedränge zu bahnen suchte, prallte er mit einem hochgewachsenen, vierschrötigen Arbeiter zusammen, der eben mit einem leeren Korbe aus der Haustür trat und sofort sein geschwärztes Gesicht den drei Fußgängern zukehrte. Verdrossen, jedoch nicht unhöflich wollte er ausweichen. Kaum aber hatte er einen Blick auf Maßliebs Antlitz geworfen, als er vor Erstaunen einen Schritt zurücktrat und den Korb von seiner Schulter vor sich auf die Erde stellte.

»Soll mich Gott strafen, wenn das nicht unsere Nachtigall ist,« sprach er, indem er fortgesetzt auf Maßliebs erbleichendes Antlitz schaute und dann seine prüfenden Blicke über ihre zwar schmucklose, jedoch anmutig geordnete Bekleidung hingleiten ließ; »nun, kleine Nachtigall,« fuhr er fort, und im Tone seiner Stimme offenbarte sich rauhe Herzlichkeit, »wenn ich jemand in der Welt 'n gutes Glück wünsche, so ist's keine andere, als du – ich wollte sagen: Sie, denn Sie sind ja 'ne wahre Dame geworden.«

Kappel, die Bemerkung des Kohlenträgers für übel angebrachten Spott haltend, wollte dazwischen treten, als Maßliebs Antlitz sich zu einem süßen Lächeln verklärte. Sie seufzte erleichtert auf, und sich Meredith zukehrend, sprach sie mit freudiger Erregung:

»Der Lampendoktor ist es, derselbe Mann, von dem ich so viel Gutes erzählte.«

»Wofür Sie herzlich bedankt sein sollen,« versetzte der Kohlenträger triumphierend, und seine Mütze vor Meredith ziehend, die ihn mit sichtbarem Wohlwollen betrachtete, entfernte er die schweren Wassertropfen von seiner geschwärzten Stirn, »herzlich bedankt, kleine Nachtigall – hab's immer nicht glauben wollen, was die Leute Wunderbares munkelten; nun aber seh ich's mit klaren Augen, und ich sag's noch 'mal, 'ne rechte Freude ist mir's, daß es Ihnen glückte.«

Sie hatten sich einige Schritte von dem Gedränge entfernt, wo sie wieder stehen blieben.

»Und Ihnen?« fragte Maßlieb in ihrer schüchternen, herzgewinnenden Weise, »wie ergeht es Ihnen? Wohnen Sie noch in dem schrecklichen Hause?«

»Seit dem Tage des Unglücks nicht mehr,« versetzte der Lampendoktor schaudernd, »'ne Lehre war's für mich, daß mir die Augen hätten übergehen mögen; und ich sagte mir, wohin 's mit 'nem Menschen kommen könne, wenn er auf der faulen Haut liege, 's Arbeiten verlerne und über den Durst trinke. Und da suchte ich mir 'ne Schlafstelle bei 'nem Fabrikanten und Arbeit zugleich. Mit dem Trinken ist's vorbei, aber 'ne paar Groschen spare ich alle Tage, und sind erst 'n fünfzig Taler zusammen, dann gehe ich über's Meer, um nicht mehr an die schlechten Zeiten erinnert zu werden; 's war zu schrecklich.«

»Wie lange wird es dauern, bis Sie Ihr Überfahrtsgeld erspart haben?« beteiligte Meredith sich an dem Gespräch.

»Zwölf bis achtzehn Monate,« antwortete der Lampendoktor, »das heißt, wenn ich gesund bleibe und die Zeiten nicht zu teuer werden.«

»Eine lange Zeit,« bemerkte Meredith mit einem gespannten Blick auf Maßlieb.

Diese schien nachzusinnen. Plötzlich errötete sie wie eine junge Rose, und Merediths Hand ergreifend, sah sie zutraulich zu ihr empor.

»Bin ich in der Lage, ihn zu unterstützen?« fragte sie mit einem Ausdruck, daß Kappel so heftig an seinem Knebelbart riß, daß ihm das helle Wasser in den Augen zusammenlief und er gezwungen war, in eine andere Richtung zu schauen. Meredith nickte zustimmend; das Sprechen schien ihr schwer zu werden.

»Kann ich – darf ich – ich meine das ganze Überfahrtsgeld?« fragte Maßlieb weiter zu des Kohlenträgers namenlosem Erstaunen.

Meredith nickte wiederum.

»Auch noch etwas mehr?« fuhr Maßlieb freier fort.

»Sie sehen, was das Kind will,« nahm Meredith nunmehr, Maßlieb zu Hilfe kommend, das Wort, »und ein liebes, dankbares Kind ist sie obenein, Ihre Nachtigall. Sie vergißt nicht leicht ihr geleistete Dienste, und hier haben Sie ein Zettelchen, darauf steht meine Wohnung verzeichnet. Scheuen Sie sich also nicht, sondern besuchen Sie mich, wann es Ihnen gelegen ist; das übrige wird sich dann finden.«

Der Lampendoktor schien seinen Sinnen nicht zu trauen.

»Maßliebchen – Nachtigall – Fräulein – ich weiß nicht,« stotterte er verwirrt, »mir armem Teufel – das ganze Überfahrtsgeld?«

»Und noch etwas mehr,« bestätigte Maßlieb gerührt.

Auf den geschwärzten Zügen des Kohlenträgers zuckte es seltsam. Dann streckte er seine rußige Hand Maßlieb entgegen; zog sie aber sogleich wieder zurück.

»Ihre feinen Hände – die feinen Handschuhe,« entschuldigte er sich, als Maßlieb nunmehr ihrerseits seine Hand nahm.

Maßlieb lachte und mit ihr lachten Meredith und Kappel.

»Sind meine Handschuhe besser, als Ihre fleißigen Hände?« fragte sie, die schwarze, schwielige Faust noch immer haltend. Sie wurde gewahr, daß Leute sich um sie sammelten, und ihre Scheu gewann wieder die Oberhand. »Also auf Wiedersehen,« flüsterte sie dem Lampendoktor zu, und hastig zog sie Meredith mit sich fort.

Bis zur nächsten Straßenecke blickte der Lampendoktor ihr nach. Dann betrachtete er den Zettel, wie um sich zu überzeugen, daß er nicht geträumt habe, und eifrig begab er sich wieder an seine Arbeit. So leicht wie heute war ihm noch nie die Last eines gefüllten Kohlenkorbes geworden, so leicht wie heute hatte ihm aber auch noch nie das Herz in der breiten Brust geschlagen, und dennoch verschmähte er hartnäckig die ihm von seinen Arbeitsgenossen dargereichte Flasche. –

»Wie oft nach schmerzlichen Eindrücken sorgt die Vorsehung selber dafür, daß unerwartete freundliche Ereignisse diese mildern«, wiederholte Meredith ihre kurz vor dem Zusammentreffen mit dem Kohlenträger angewandten Trostesgründe.

Maßlieb blickte lächelnd zu ihr empor. Eine schwermütige Zustimmung lag in diesem Lächeln. Dann wandelten sie weiter durch die belebten Straßen, schweigend und jeder mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, weiter und weiter der traulichen Heimstätte zu.

 


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