Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Eine Hochzeit der Wölfe.
Auf dem Tummelplatz der Wölfe, dem Hinterhofe von des weisen Nathan Grundstück, ging es an einem schönen Sommerabend gar lustig her. Jeder hatte zu dem gemeinschaftlichen Freudenfeuer sein Scherflein, oder vielmehr reinen Span, ein zerbrochenes Stuhlbein oder einen Kistendeckel beigetragen. Jeder hatte die Hände gerührt, gefegt, gekratzt und wer weiß was sonst noch getan; auch hatten sich bei jedem noch einige Pfennige vorgefunden, um die betreffenden Getränke nicht zu früh eintrocknen zu lassen; kurz, es war alles geschehen, was nur immer möglich war, um das seltene Fest einer Hochzeit nach besten Kräften zu verherrlichen. Wer der Bräutigam, wer die Braut war, kam weniger zur Sprache; sie gehörten eben zur Sippe der Wölfe, und das genügte, allen Mietern des weisen Nathan den Kopf zu verrücken.
Der Hof und die ihn umringenden Baulichkeiten waren freilich dieselben geblieben: derselbe Kehrichtduft und dieselben schadhaften Wände, dieselben schielenden Fensteröffnungen und klapperigen Ladenreste, dieselben aus Mauerlöchern weit hinausragenden Stangen mit zum Trocknen aufgehangenen Wäschestücken, die an Papiermühlen erinnerten, und endlich dieselben wunderlichen Kreide- und Kohlenzeichnungen aus den noch zu Kunstwerken geeigneten Mauerflächen; und dennoch hatte der äußere Charakter des ganzen sich wesentlich zu seinem Vorteil verändert: da hingen sieben oder acht farbige Papierlaternen mit Unschlittkerzen auf solchen Stellen, auf die das von dem Feuer ausströmende Licht zu matt wirkte; da war der Kehricht geebnet, festgestampft und dann wieder sauber gefegt und sogar mit weißem Sand bestreut worden; da standen ringsumher Schemel – manche auf drei, manche auf vier Beinen – und Bänke, sinnig hergestellt aus je zwei Eimern und darüber hingelegten Brettern. Auf einem Sägebock ruhte ein Faß Bier, umringt von Tassen, Töpfen und Gläsern, deren manche fußlos, in den nachgiebigen Kehricht eingedrückt waren. In nächster Nachbarschaft überwachte eine Megäre Flaschen mit verschiedenen Branntweinsorten, während einige Schritte weiter eine halb in die Glut geschobene riesenhafte Kaffeekanne dampfte. Aber auch Eßwaren spreizten sich in Fülle auf drei nebeneinander umgekehrten Schiebkarren und verwaltet von einer mit Krücken bewaffneten Lumpensammlerin; lauter delikate Sachen: kleine Weißbrote, ähnlich geformte Käse, Würste und sonstige nach Knoblauch duftende Fleischspeisen. Denn nichts, gar nichts war vergessen worden, was die Herzen der Wölfe hätte erfreuen, ihre tolle Laune bis auf den Gipfel hinaufschnellen können. Und die Wölfe selber endlich? Diese mit Hunger, Not und Elend, mit schwerer Arbeit, Müßiggang und Verbrechen vertraute gemischte Gesellschaft? Die prangte in ihrem besten Sonntagsstaat und bot ein so buntes Gewirre von zerlumpten Kindern, flatterhaubigen und schlotterröckigen Weibern und hemdärmeligen Männern, daß ein beobachtendes Auge, wenn plötzlich dorthin versetzt, längere Zeit gebrauchte, diese oder jene Gestalt von dem beweglichen Quodlibet zu trennen.
Einen Ehrenplatz nahmen selbstverständlich die Musikanten ein. Sie saßen so viel höher, als alle andern, wie die einem Sitzbrett untergeschobenen leeren Kalktonnen über die Bankeimer und Schemel hinausragten. Und eine stattliche Auswahl von Künstlern war es obendrein; alle geschmückt mit Papiermützen und Rußschnurrbärten, um ihre Jugend zu verdecken, und obwohl ohne Kapellmeister, spielten sie so taktfest, daß der Dirigent einer Konzerttruppe dadurch hätte beschämt werden können.
Zunächst machte sich bemerklich die mit unerschöpflichem Atem ausgerüstete Ziehharmonika; zu dieser gesellten sich zwei Naturvirtuosen, die auf in Papier gewickelten Kämmen jede Melodie, sogar ohne Noten zurecht grunzten; ferner trommelte ein fingergewandter Bursche mit zwei außer Kurs gesetzten hölzernen Küchenquirlen auf einer leeren Zigarrenkiste. Auch fehlte nicht der Beckenschläger, dem aus einem bevorzugteren Hausstande zwei Blechdeckel zur Verfügung gestellt worden waren; ebensowenig ein an dünnem Faden hängender eiserner Ladestock, welcher sich im Tone kaum von dem allerbesten Triangel unterschied. Und wie das alles klappte und klingelte, namentlich in den Zwischenpausen, in den immer und immer wieder der Jung und Alt begeisternde Refrain nach der Melodie der von einem Könige komponierten und auf die Leierkasten verirrten Gavotte in die Nacht hinaus gejodelt und gesungen wurde:
»Keinen Tropfen Wasser trinkt das Huhn,
Ohne einen Blick zum Himmel 'rauf zu tun!«
zum fünfzigsten, zum hundertsten Male.
»Einen Walzer, meine Herren!« brüllte der Lampendoktor, indem er die in einem grellfarbigen Wollenkleide und in einem Blumenturban prangende Braut umschlang und sich zum Tanze anschickte, »einen Walzer und einen zerbrochenen Schädel euch allen, wenn ihr 'nen einzigen Takt verfehlt!«
»Hurrah, einen Walzer!« dröhnte und gellte es ringsum. Was Arme zum Halten hatte, umklammerte sich gegenseitig, was Füße zum springen hatte, machte den Kehrichtstaub aufwirbeln. Dazwischen bellten Hunde und kreischten sich balgende Kinder. Weiber jauchzten, Männer wetterten; doch lauter als alles ertönte die wilde Janitscharenmusik der rußbärtigen jungen Galgenvögel, während bedächtigere Seelen, denen die Behendigkeit der Glieder mangelte, je nach ihren Neigungen, sich zutraulich dem Bierfaß, den Branntweinflaschen oder der Kaffeekanne näherten, und mutwillige Burschen durch Schüren des Feuers eine Illumination erzeugten, gegen die die Papierlaternen elende Schatten genannt zu werden verdienten.
»Eine lustige Nacht,« meinte die bei dem Faß aufgestellte Megäre, indem sie behutsam von dem Bier in eine als Becher dienende alte Austernbüchse laufen ließ, zu ihrer Nachbarin, der siebzigjährigen Schänkmamsell bei den Branntweinflaschen, »'ne Nacht, wie damals, als ich selber noch 'ne Krone trug; bessere Zeiten damals,« und sie trank bedächtig aus der Austernbüchse.
»Muß lange her sein,« zweifelte die Siebzigjährige, ihre Geiernase ein Weilchen über dem vollen Spitzglase rümpfend, bevor sie ihre Enthaltsamkeit sich gebührend belohnte, »denn so lange ich denken kann, war mit der Krone nicht viel los.«
»Hol's der Teufel,« entschied die erstere, »Krone oder nicht, lustige Burschen bleiben die Hauptsache. Schade drum, daß der Kettenvogt nicht zur Hand ist, in dem steckt Leben für zehn.«
»Es ist besser so,« versetzte die andere mit hochweisem Ausdruck, »denn er und der Lampendoktor sind einander gram. Haben sie etwas im Kopfe, so liegen sie sich gleich in den Haaren, und anstatt im Ländler lustig hinten auszuschlagen, müssen die Weiber ihnen die abgeschundenen Beulen kühlen.«
»Ich halt's dennoch mit dem Kettenvogt,« hieß es auf der anderen Seite; »ist immer ein Mann auf dem Platz, und vornehm geworden ist er obendrein; man sieht ihn nicht anders, als mit der Zigarre. Möchte wissen, wo er steckt.«
»Wie lange ist er fort?«
»Seit vier Tagen.«
»Und wohin?«
»Der Teufel mag's wissen. Sprach schon immer von Amerika und Australien. Traue ihm zu, daß er Ernst damit machte, denn spurlos verschwunden ist er, und 's Schlafstellengeld soll er heute noch bezahlen.«
»Zum Reisen gehört erst recht Geld.«
»Der Kettenvogt ist der Mann dazu, solches anzuschaffen, und müßte er es von den eigenen Rippen herunterschneiden.«
Hier wurde die Unterhaltung der beiden Weiber durch das Getöse unterbrochen, mit dem nach Einstellung der Musik die Paare sich voneinander trennten und in ihrer Raserei eine Art von Knäuel bildeten, von welchem die einzelnen Gestalten sich nur mit Mühe abzuwickeln schienen. Jauchzen, Gellen und Fluchen vermischte sich mit dem dichten, in der Luft schwebenden Kehrichtstaub. Es war ein Höllenlärm und ein Höllenanblick.
»Keinen Tropfen Wasser!« jodelte der Lampendoktor, mit seiner Tänzerin auf die Biertonne losstürzend.
Das Orchester fiel mit Kraft ein, und Ohren zerreißend und Sinne betäubend brüllte und heulte alles mit:
»Keinen Tropfen Wasser trinkt das Huhn,
Ohne einen Blick zum Himmel 'rauf zu tun!«
Die morschen Gebäude ringsum schienen in ihren Fundamenten zu beben und sich über die tolle Gesellschaft hinwerfen zu wollen. Die Sterne funkelten, die Augen glühten, die Laternen trauerten, das Feuer loderte.
»Ein Hurrah dem schönsten Brautpaar, das jemals mit zehn Groschen in der Tasche 'nen Hausstand gründete!« rief der Lampendoktor, mit der einen Hand seine Soldatenmütze, mit der anderen einen vollen Henkeltopf schwingend.
Ein furchtbares Geheul begleitete seinen wohlgemeinten Toast. Klirrend und jammernd unterstützten ihn die Instrumente; aus dem chaotischen Getöse aber entwickelte sich wieder jener ewige, unabänderliche Refrain.
Hei! wie das gellte und tobte und wie es durch die morschen Baulichkeiten hindurch bis auf den stillen Vorhof drang! Sogar in dem Wohnhause des weisen Nathan, das an dem heutigen Abend von oben bis unten verödet war, ließ sich der Lärm als eine Art dumpfen Brausens unterscheiden. Der weise Nathan achtete indessen wohl kaum darauf; aufmerksamer lauschte dagegen der rotbärtige Kettenvogt auf die fernen dumpfen Töne, wie um aus denselben die allgemeine Stimmung und den Stand der Festlichkeit zu berechnen. Denn der Kettenvogt war ebensowenig nach Amerika oder Australien gegangen, wie nach dem Monde. Der befand sich weit näher als irgendeiner auf dem Tummelplatz der Wölfe geglaubt hätte. Der lag wohlgemut in dem Raume oberhalb des Kontors des weisen Nathan, die herkulischen Glieder behaglich auf den zusammengeschobenen Wagenkissen reckend, mit denen Röchler die Öffnung im Fußboden zu bedecken pflegte. Seit vier Tagen hatte er dort oben gelebt, und sicher hätte er noch einige Tage, ohne Not zu leiden, daselbst zubringen können, wie mehrere volle Flaschen und ein kleiner Vorrat von Lebensmitteln in seiner Nähe zwischen einer Anhäufung fettigen Papiers verrieten. In seinem Bereich lagen ein kurzes Brecheisen, mehrere Schraubenzieher, Stahlbohrer, Dietriche, eine zusammengerollte Leine und eine Art Schmetterlingsnetz, lauter Gegenstände, die er allmählich, ohne durch Röchler gestört zu werden, dort oben zusammengetragen hatte. Sogar einen eigenen Schlüssel zu dem Zimmer hatte er sich nach einem Wachsabdruck angefertigt, um sein Treiben in dem staubigen Raume vor Röchler verheimlichen zu können. Acht Monate waren verstrichen, seitdem er zum erstenmal dort oben eingeführt worden war und durch die dünne Scheidewand hindurch dem berauschenden Klingen des Goldes gelauscht hatte, und acht Monate hatte er geduldig an seinen umfassenden Vorbereitungen gearbeitet, bevor er endlich in der das Vorderhaus entvölkernden Hochzeit der Wölfe eine günstige Gelegenheit zu seinem Vorhaben entdeckte. Denn während auf dem Hinterhofe ein wahres Höllenbacchanal gefeiert wurde, lag der Kettenvogt auf den von Motten zerfressenen Wagenkissen, das Haupt der Stelle in der Fußbodenöffnung zugeneigt, auf der nur die dünne Lehmschicht zwischen den Stäben es ihm erleichterte, mit scharfem Ohr jede unter ihm stattfindende Bewegung genau zu beobachten.
Der weise Nathan hatte bis in die Nacht hinein Geschäftsbesuch, mit dem er mancherlei kleine Unternehmen beriet, die indessen in ihrer steten Wiederholung selbst dem geduldigen Kettenvogt nur zu bald langweilig wurden. Man prüfte Wechsel von vornehmen jungen Leuten, namentlich von Offizieren, und vereinbarte die Bedingungen weiterer Prolongationen. Mit einer gewissen Vorliebe behandelte man vereinzelte gefälschte Dokumente, durch die die Aussteller in die verzweifelte Lage gerieten, entweder ihren Namen gebrandmarkt zu sehen oder ihre Freiheit und Sicherheit unter den erdenklichsten Opfern zurückzuerkaufen. Von diesem allem verstand der Kettenvogt überhaupt nur so viel, daß der weise Nathan eine Art Fabrik gegründet hatte, zu welcher er selbst die betreffenden Vorschüsse leistete, wogegen seine Myrmidonen auf eigene Gefahr, im geheimen wie durch öffentliche, etwas verblümte Ankündigungen die eigentlichen Netze für Gimpel und leichtsinnige Zeisige stellten.
Endlich rüstete der Besucher sich zum Aufbruch.
»Haben Sie einen endgültigen Entschluß betreffs der Subhastation des Ulrichschen Gutes gefaßt?« fragte eine Stimme.
»Wann findet der Verkauf statt?« fragte Nathan zurück, obwohl niemand den Termin besser kannte, als er selber.
»Über drei Wochen,« lautete die Antwort.
»Nun, in dieser Zeit läuft bergab sehr viel Wasser,« versetzte Nathan, »jedenfalls möchte ich selbst als Hauptgläubiger nicht auftreten, auch nicht als Hauptbieter. Würde der junge Mensch doch erraten, daß mir gelegen sei an der Feldmark, und treiben hinauf durch seine Freunde den Preis noch um zehntausend Taler. Nein, nein, einer von euch muß mich überbieten um 'ne nicht unerhebliche Kleinigkeit, auf daß es heißt: wenn nicht will haben der weise Nathan die Feldmark, und zieht vor 'nen Verlust an dem auf dem Grundstück stehenden Gelde, so ist nicht zu machen 'n Geschäft, und es werden zurücktreten alle.«
»Aber die Nachbarn?« hieß es weiter.
»Die Baulichkeiten sind geraten in Verfall,« erwiderte Nathan spöttisch. »Unkraut wuchert auf den Feldern, und des Nathan Schuldforderungen sind groß. Unter solchen Verhältnissen werden sich hüten die Nachbarn, auf ihre Schultern zu laden 'ne Last in dem wüsten Hof und den brachen Feldern, am wenigsten aber zahlen 'nen Preis, so hinausreicht über meine Forderungen. Doch drei Wochen ist 'ne lange Zeit und werden wir sprechen weiter darüber.«
Es erfolgte nunmehr wirklich der Aufbruch. Nathan gab seinem Gaste das Geleite bis auf den Flur hinaus; dann in gewohnter Weise die Doppeltür von innen verschließend und verriegelnd, begab er sich durch die beiden Kontorräume nach den Hinterzimmern. Mehrere Türen fielen rasselnd zu; Riegel schlugen in ihre Haften, dann war alles still. Nur vom Hinterhofe, wie aus weiter, weiter Ferne, drang dumpf herüber die lustige Gavotte:
»Keinen Tropfen Wasser trinkt das Huhn.«
Eine Weile lauschte der Kettenvogt atemlos. Dann zündete er eine Blendlaterne an, bei deren Schein er die bereits bis auf einen dünnen Splitter durchgeschnittenen Querhölzer mit Leichtigkeit emporhob, wobei er, sobald die erste schmale Fuge es ihm gestattete, das Schmetterlingsnetz benutzte, um den losbröckelnden Kalk aufzufangen und dadurch verräterischem Poltern vorzubeugen. In wenigen Minuten war die Öffnung so groß, daß zwei Männer nebeneinander hätten hindurchschlüpfen können. Ohne Säumen entfernte der Kettenvogt die letzten Kalkteile, worauf er die durch Zusammenknoten in eine Art Strickleiter verwandelte Doppelleine um den Sockel des schweren Ofens schnürte, das lose Ende dagegen behutsam in das Kontor hinabließ. Schnell bewaffnete er sich mit seinen Werkzeugen; flüchtig prüfte er noch einmal die Haltbarkeit der Leine, und mit den Füßen in die Öffnung hinabsteigend, in der einen Hand die Laterne, mit der anderen die Leine umklammernd, sank er in das Erdgeschoß hinab. Er hatte indessen kaum festen Fuß im Kontor gefaßt, als oben die von ihm selbst in Schloß und Angeln sorgfältig geölte Tür sich unhörbar öffnete und ein Schatten in den eben von ihm verlassenen Raum hineinglitt. Zögernd kroch der geheimnisvolle Späher nach dem Ofen hinüber; dort lauschte er ein Weilchen; sobald er aber an dem durch die Öffnung heraufdringenden Schein erkannte, daß der Kettenvogt sich in das anstoßende Gemach begab, zog er ein Messer hervor, womit er in den um den Ofen liegenden Strick so tief einschnitt, daß dieser unter dem Gewicht eines Kindes hätte zerreißen müssen, und geräuschlos, wie er gekommen war, entfernte er sich wieder.
Der Kettenvogt, der sich seiner Schuhe entledigt hatte, war unterdessen vor das eiserne Spinde hingetreten. Er trat auf die eine Seite, und einen Zentrumbohrer von der Härte eines Diamanten hervorziehend, begann er da, wo, wie er wußte, sich ihm der geringste Widerstand entgegenstellen würde, mit großer Hast zu arbeiten. Er trug sich mit dem wohlüberlegten Plane, zunächst eine Öffnung für die Brechstange zu schaffen, dann durch mehrere nebeneinander gefügte Löcher die Wandfüllung hinlänglich zu schwächen, um ein seinem Vorhaben entsprechendes Stück entweder ganz auszubrechen oder so weit abzubiegen, wie erforderlich war, um mit der Hand und anderen Werkzeugen hineinzufahren und auch die zweite Wand zu zertrümmern. Eine leichte Aufgabe war es gewiß nicht, die vor ihm lag; bei seiner ungewöhnlichen Körperkraft und den vorzüglichen Instrumenten dagegen keine unausführbare. Er durfte nur nicht gestört werden, um nach seiner Berechnung nach Ablauf von höchstens zwei Stunden mit goldgefüllten Taschen den Rückweg wieder anzutreten.
Mit gutem Mut und vollen Kräften arbeitete er daher, und leichter, als er befürchtet hatte, gelang es ihm, ein Loch nach dem anderen durch die äußere Eisenverkleidung hindurch zu schneiden; namentlich glückte es ihm mehrfach, Schrauben zu vernichten, die die doppelten Wände miteinander vereinigten.
So war es zwei Uhr geworden. Auf dem Tummelplatz der Wölfe hatte der Hochzeitsjubel den höchsten Gipfel erreicht und Nathan lag in seinem besten Schlaf, als er plötzlich durch Klopfen an das vergitterte Hoffenster geweckt wurde.
»Herr Nathan,« unterschied er gleich darauf seines Schreibers gedämpfte Stimme, »mir war, als hörte ich ein seltsames Geräusch im Kontor; vielleicht eine Katze oder ein Hund, die hineinschlüpften, als Sie die Tür öffneten.«
Nathan fuhr empor und lauschte, ohne etwas zu vernehmen; als er sich aber in den rußigen Küchenraum begab, der die Hinterzimmer von dem Kontor trennte, traf seine Ohren ein leise mahlendes Geräusch, das ihm das Blut in den Adern erstarren machte. Behutsam schlich er ans Hoffenster zurück, um sich mit Röchler ins Einvernehmen zu setzen; doch dieser, nachdem er meinte, seine Schuldigkeit getan zu haben, war bereits in seine Wohnung zurückgekehrt, um das Ende einer Begebenheit abzuwarten, die mit so viel schlauer Berechnung eingeleitet worden war und zugleich als Abschluß einer langsam, aber sicher vorbereiteten Rache gelten konnte.
Der Kettenvogt arbeitete zu derselben Zeit unverdrossen weiter. Je näher er seinem Ziele zuzurücken meinte, um so mehr schienen seine Kräfte zu wachsen. Der Schweiß rieselte ihm von der Stirn, allein er achtete dessen nicht; das behutsame Offnen von Türen aber und leises Einherschleichen gingen für ihn verloren in dem eigentümlichen Knirschen, mit dem der Bohrer sich in die Eisenplatte hineinnagte.
Plötzlich streifte ein heller Schimmer seine Augen. Erschreckt sah er empor und gerade in das Antlitz des weisen Nathan, der, ein Bild tödlichen Entsetzens, in der einen Hand ein brennendes Licht, mit der anderen den Schafspelz um sich zusammenziehend, in der nach den Hintergemächern führenden Tür stand und vor Schreck das Bewußtsein verloren zu haben schien.
Doch auch dem Kettenvogt schlotterten die Knie; den Bohrer ließ er zur Erde fallen, während er sich mit der rechten Hand auf das noch in einem Bohrloch haftende Brecheisen stützte.
»Kettenvogt,« stotterte Nathan endlich, seine Hand nach dem Räuber ausstreckend, wie um ihn zu halten; denn angesichts der Gefahr, die seinen Schätzen drohte, überwog sein Mut alle anderen Empfindungen, selbst die Furcht vor dem Tode; »Kettenvogt, du bist ein Schurke, du willst mich bestehlen!«
»So mach' ich's mit dir nicht besser, als du mit anderen Menschenkindern verfährst,« erwiderte der Kettenvogt, zu dessen Raubgier sich nunmehr der Selbsterhaltungstrieb gesellte; »ich gebrauche Geld, viel Geld, und du bist der Mann dazu, es mir zu geben, oder ich will verdammt sein!« und unheimlich funkelten seine Augen und fester umklammerte die rechte Faust das schwere Eisen.
Einige Sekunden starrte Nathan auf den grimmigen Einbrecher, als hätte er ihn mit den Blicken zermalmen mögen. Dann näherte er sich ihm mit den schleichenden Bewegungen einer Katze.
»Also Geld gebrauchst du?« flüsterte er kaum verständlich, »von meinem Gelde, was ich mühsam ersparte, Kettenvogt –« und mit dem Mute der Verzweiflung auf ihn einspringend, umschlang er seinen Hals mit beiden Armen, und: »Hilfe! Hilfe!« gellte seine kreischende Stimme durch das Haus.
Der Kettenvogt war indessen nicht der Mann, durch einen plötzlichen Angriff sich einschüchtern oder gutwillig eine lebenswierige Kerkerhaft über sich verhängen zu lassen. Wie der verwundete Bär einen Hund, so schüttelte er den Greis von sich, und bevor dieser den Hilferuf zum dritten Male wiederholte, schmetterte er die scharfkantige Brechstange auf dessen unbedecktes Haupt nieder, daß er lautlos zu Boden sank und ein dicker Blutstrahl sein fahles Gesicht überströmte.
Ob der Kettenvogt wirklich die Absicht gehegt hatte, den alten Wucherer zu töten, wäre schwer zu entscheiden gewesen. Anstatt beim Anblick des Ermordeten von Verzweiflung ergriffen zu werden, schien, wie bei einem Tiger, nachdem er einmal Blut kostete, eine Art Tollwut sich des Kettenvogtes zu bemächtigen. Seine Augen unterliefen rot und drängten sich weit aus ihren Höhlen, seine Zähne knirschten hörbar aufeinander, und indem er argwöhnisch auf die mögliche Wirkung von des Erschlagenen Hilferuf lauschte, bewies er durch seine Stellung, daß er vor neuen Morden nicht zurückschreckte, um sich seine Freiheit zu bewahren.
Doch alles blieb still. Die Straße vor dem Hause war leer, das Haus selbst verödet und vereinsamt. Vom Hinterhofe aber tönte durch Mauern und dumpfige Räume hindurch das dämonische Kreischen und Jauchzen herüber.
Flucht, schleunige Flucht war der nächste Gedanke des Mörders, nachdem er sich überzeugt hatte, daß bisher noch keine Entdeckung stattgefunden. Doch wohin sollte er fliehen, wohin ohne Geld und Mittel? Schaudernd betrachtete er die leblose, von Blut überströmte Gestalt. Er dachte an eiserne Fesseln und Henkerbeile. In jedem Augenblicke meinte er, daß der Erschlagene sich erheben, als Gespenst sich an seine Fersen heften und, ihn auf Schritt und Tritt verfolgend, vor der ganzen Welt als Mörder bezeichnen und anklagen würde. So furchtbar hatte er sich die Folgen eines Mordes nicht vorgestellt.
»Fort! fort!« summte und heulte es ihm in den Ohren, und dennoch, wohin sollte er sich wenden, wo sich entziehen dem Arme der irdischen Gerechtigkeit?
Wie um sich zu ermutigen, sich zu stählen, beugte er sich zu seinem Opfer nieder; zuerst auf die blutfreie Schläfe, dann auf die Herzgegend legte er seine Hand. Der alte Mann war tot; sein letzter Pulsschlag war mit dem nach ihm geführten furchtbaren Hiebe zusammengefallen. Vor der Phantasie des Kettenvogts tauchte Röchlers Bild auf, der ihn einst auf die Stelle führte, auf der beim unsichtbaren Klingen des Goldes zum ersten Male der Gedanke an einen Raubmord in ihm erwachte und ihn seitdem nicht wieder verlassen hatte. Indem er aber der schlau berechneten Worte sich entsann, bemächtigte sich seiner neue Wut. Wäre Röchler ihm erreichbar gewesen, mit Wollust hätte er ihn erdrosselt, mit Wollust sich geweidet an dem Anblick des unter seinen Händen gräßlich Erstickenden. Es war ein entsetzliches Schwanken zwischen Blutdurst und Feigheit; zwischen dem Trotz eines verstockten Mörders und dem Grausen eines von allen Furien der Hölle Gehetzten. Meinte er in dieser Minute eine gewisse Beruhigung zu schöpfen aus dem Umstande, daß den alten Wucherer ein wohlverdientes Geschick ereilt habe, so erschütterte ihn in der nächsten Minute die furchtbare Mahnung, daß auch ihn die rächende Hand der Vergeltung ereilen werde. Die Augen des Toten standen halb offen; ausdruckslos stierten sie ins Leere, und doch meinte der Mörder, daß sie ihm bis ins Herz hineinschauten. Von Grauen erfüllt, zog er den Schoß des Pelzes über das blutige Haupt hin. Da durchströmte es seine Adern plötzlich wieder wie flüssiges Erz: indem er an dem Pelze zupfte und zog, war ein eigentümliches Klirren aus demselben zu seinen Ohren gedrungen. Hastig, als hätte seine Rettung davon abgehangen, suchte er zwischen den Falten. Gleich darauf zog er ein Bund Schlüssel hervor, und laut aufbrüllen hätte er mögen vor wildem Entzücken, als er die eigentümlich geformten Schlüssel des Geldspindes erkannte. Er war gezwungen, niederzusitzen, um seine Gedanken zu ordnen, das fieberisch durch seine Adern jagende Blut zu beruhigen.
»Gerettet,« stöhnte er, die Schlüssel aufmerksam betrachtend; »mit Gold beladen ziehe ich von dannen, und den will ich sehen, der Verdacht gegen mich schöpft. Nicht einmal zu fliehen brauche ich. Verdammt! Flucht würde Mißtrauen erwecken. Kettenvogt, sei stark! Wenn sie dich auffordern, ihm gegenüber zu treten, mußt du ihm in die starren Augen blicken ohne zu zittern oder zu erbleichen. Pah! Ein Toter kann nicht sprechen, nicht zum Ankläger werden.«
Wie um sich auf alle Fälle vorzubereiten, zog er den Pelz von dem furchtbar entstellten Antlitz zurück. Trotzig wollte er in die gebrochenen Augen schauen, allein heftiges Beben erschütterte seine Gestalt und deutlich fühlte er, wie er erbleichte.
»Fort, fort!« flüsterte er, dann lauschte er wieder argwöhnisch.
»Keinen Tropfen Wasser trinkt das Huhn,
Ohne einen Blick zum Himmel 'rauf zu tun!«
drang wieder einmal jener Allerweltsvers herüber.
»Hol sie alle der Satan!« fluchte er, sich schüttelnd, wie ein dem Wasser entstiegener Hund, »und dennoch, wer so lustig sein könnte, wie sie! Doch sie wissen nicht, was es bedeutet –« er stockte und wagte den Gedanken nicht auszusprechen; aber vor den toten Nathan hintretend, stieß er ihn verächtlich mit dem Fuß an die Schulter.
»Ich fürchte dich nicht«, hob er mit unsicherer Stimme an. Dann kehrte er sich hastig um, und nachdem er das Nathan entfallene Licht an seiner Blendlaterne angezündet hatte, stellte er beides oben auf das Spind. Vertraut mit dem Mechanismus solcher Behälter, schob er die beiden Rosetten auf der Mittelfüllung der Tür zur Seite, und gleich darauf haftete ein Schlüssel in der betreffenden Öffnung. Rechts herum drehte er; neues Nachschieben und wieder links herum. Ein ähnliches Verfahren mit einem zweiten Schlüssel auf der anderen Stelle, und er brauchte die schwere Tür nur nach sich zu ziehen, um des weisen Nathan Schätze freizulegen. Noch zögerte er; der Mut schien ihm zu versagen, und um sich an die Notwendigkeit des Raubes und der Flucht zu mahnen, sandte er wieder einen Blick zu seinem Opfer hinüber.
»Wie großmütig du geworden bist«, höhnte er mit wahnwitzigem Ausdruck, »da stehe ich vor deiner offenen Schatzkammer und du sagst kein Wort dazu! Nun, alter Gauner, wieviel soll ich mir aneignen? So viel mir gefällt? Recht so; 's kommt dir wohl hart an? Ei, verdammt! So hindere mich doch, wenns deine Genehmigung nicht findet! Rufe um Hilfe!«
Mit sicherer Hand faßte er die Tür. Eine Handbreit folgte sie willig dem auf sie ausgeübten Druck: dann aber schien sie nicht weiter weichen zu wollen. Er hatte versäumt – was er freilich nicht ahnen konnte – oberhalb der Türeinfassung einen kaum bemerkbaren eisernen Knebel zu drehen, wodurch innerhalb des Spindes ein Fallhaken aus einem an der Tür befestigten Ringe gehoben wurde, ein Verfahren, das Nathan, so oft er das Spinde öffnete, jedesmal mit Sorgfalt beobachtete. Der Kettenvogt dagegen, das Hindernis anderen Ursachen zuschreibend, trat vor die Spalte hin, und mit der rechten Schulter sich gegen das Spinde stemmend, gelang es ihm leicht, den geheimnisvollen Widerstand zu beseitigen. Mit vierfachem dumpfen Krachen, begleitet von schwachem Blitzen und einer schwachen Rauchwolke, flog die Tür auf. Der Kettenvogt aber taumelte zurück, und die Arme krampfhaft auf seinen Leib pressend, starrte er mit grausig verzerrten Zügen zu dem toten Nathan nieder. Das Krachen hatte er vernommen, Rauch und Blitz gesehen; allein nach längerem Ringen gegen ein ohnmachtähnliches Gefühl begriff er erst, daß Nathan, nicht zufrieden mit den eisernen Wänden seiner Schatzkammer, innerhalb derselben vier festzusammengefügte Terzerole sinnig angebracht und derartige Vorkehrungen getroffen hatte, daß sie, sobald die Tür von einem Uneingeweihten geöffnet wurde, sich entladen mußten. Mindestens zwei Dutzend grober Schrotkörner waren dem elenden Mörder in den Leib gedrungen, ohne indessen ihn gleich zu töten. Nicht einmal zu Boden stürzte er, obwohl er fühlte, daß er nicht lange mehr sich aufrecht halten würde. Das Entsetzen, neben seinem Opfer in hilflosem Zustande gefunden zu werden, verlieh ihm dagegen übermenschliche Kräfte. Unbestimmte Hoffnung auf Rettung, wohl gar, den Verdacht des Mordes von sich abzuwälzen, durchzuckte sein Gehirn. Nicht mehr an das Gold dachte er, nach dem er nur seine Hand auszustrecken brauchte, nicht mehr an die Mordwaffe und die ringsum auf der Erde liegenden Werkzeuge. Seine Hoffnung auf Entkommen aber erhielt dadurch neue Nahrung, daß auch die von allen Seiten eingetretenen Schüsse dumpf verhallt waren, ohne auf der Straße oder im Hause Aufmerksamkeit zu erregen.
Fortwährend die Arme über seinen Leib gepreßt, schlich er nach dem Kontor. Der Anblick der Strickleiter ermutigte ihn. Krampfhaft ergriff er sie mit beiden Händen; sobald er aber mühsam den einen Fuß in die als Stufe dienende Schlinge gestellt hatte, erhielt er eine heftige Erschütterung. Die um den Ofen geschlungene Leine war gerissen, und indem er kraftlos zu Boden sank, fiel die Strickleiter über ihn hin.
Er war gefangen. Nirgends bot sich ihm ein Ausweg. Dieser Gedanke aber wirkte so niederschmetternd auf ihn ein, daß er die Besinnung verlor. Nur noch einmal gelangte er zum Bewußtsein seiner Lage; es geschah, als einzelne Hochzeitsgäste vom Hinterhofe in das Vorderhaus zurückkehrten, trotz der von Nathan streng gehandhabten Hausgesetze geräuschvoll die Treppe hinaufpolterten und unmelodisch den Refrain wiederholten, der ihnen allmählich ins Fleisch und Blut übergegangen war.
»Keinen Tropfen Wasser trinkt das Huhn,
Ohne einen Blick zum Himmel 'rauf zu tun«
summte und grunzte es in allen Winkeln des Hauses. Jeder, gleichviel ob alt oder jung, was er mehr als tausendmal in seinem Leben in allen nur denkbaren Tonarten gesungen hatte, es verfolgte ihn auf Schritt und Tritt. Was der Kettenvogt selber bei jeder Gelegenheit nach besten Kräften angewendet hatte, es vibrierte fort und fort in seinen Ohren; er konnte die Melodie nicht los werden.
Der tote Nathan lag unterdessen bei seinen Schätzen so ruhig und friedlich, so unbesorgt und gleichmütig, wie schwerlich jemals in seinem Leben. Die gebrochenen Augen stierten mit geisterhaftem Ausdruck auf die offene Tür des feuerfesten Spindes, aus dem kleine, übelduftende Rauchwolken ins Zimmer hineinzogen. Das Feuer der Terzerole, mitten aus einer Anhäufung von Papierpacketen hervorbrechend, hatte gezündet. Jedoch nicht in Flammen und Flämmchen wirkte der versteckte Brand, sondern langsam glimmend. Vernichtend schlich er von einem Paket Papiere nach dem andern hinüber, nichts hinter sich zurücklassend, als Aschenhäufchen, höchstens in der Mitte der Pakete, wo sie durch Schnüre zusammengehalten wurden, ein Bündelchen gebräunten Blätterwerks, das man bei einem oberflächlichen Hinblick für sorgfältig sortierten Tabak hätte hinnehmen können. Von andern Rollen blieben nur die Ränder übrig, wieder von andern kaum die innersten Anfänge derselben.
Und so kletterte das hinterlistige Element geduldig und gewandt langsam von Fach zu Fach, hinauf und wieder hinunter und seitwärts. Wo nur erst ein Fünkchen festen Fuß gefaßt hatte, da erweiterte es sehr schnell seinen Wirkungskreis. Denn die Papiere, gleichviel ob Aktien, Schuldverschreibungen oder Wechsel, ob Hypothekeninstrumente, Prolongationsscheine oder Banknoten, alles zündete und glimmte, als wäre auf seiner bald kürzeren, bald längeren Wanderung durch saubere und unsaubere Hände überall etwas von dem höllischen Zündstoff verrotteter Seelen an ihm haften geblieben, als hätte es vor Scham über die Zwecke, zu den es vielfach benutzt worden, selbstmörderisch gewissermaßen sich selbst den Tod gegeben. Das Feuer aber, obwohl gern bereit, jenen mit tausendfachen Flüchen beladenen Papieren von der Welt zu helfen, ging nicht über die ihm für heute vorgeschriebenen Grenzen hinaus. Es schien den starren Blick Nathans zu fürchten, sich zu scheuen, durch weitere Ausdehnung das Leben zahlreicher Wölfe zu gefährden, die nach dem lustigen Hochzeitsfeste sich einem Schlafe hingegeben hatten, der sich nur dadurch von dem des weisen Nathans unterschied, daß ihnen ein Erwachen, wenn auch mit wüstem Kopfe und zu Not und Elend bevorstand.
So glimmte und sengte es in dem feuerfesten Spinde, und so hielt der weise Nathan Wache bei seinen der Vernichtung verfallenen Schätzen. Dichter und dichter hüllte die Raubhöhle einer von ihrem Geschick ereilten Hyäne sich in ätzenden Rauch. Denn zu fest und sorgfältig waren die Türen und Fensterläden gearbeitet, um dem Brandgeruch einen Weg ins Freie zu gestatten. Selbst durch die geöffnete Zimmerdecke steigend, traf er auf undurchdringliche Schranken. Und so hinderte denn nichts die Funken, fortgesetzt ihr Wesen zu treiben, als hätten sie die Zerstörung in Akkord übernommen gehabt; denn nachdem sie ein recht wertvolles Dokument in schwarze Asche verwandelt hatten, eilten einzelne von ihnen immer wieder zurück, um im flüchtigen Hinundherschlüpfen sich zu überzeugen, daß nichts vergessen worden. Sogar an die schweren Erzrollen wagten sie sich heran, um die schönen Gold- und Silbermünzen ihrer papierenen Röcklein zu entkleiden und ihnen die Freiheit zu geben, daß sie auseinanderfielen, manche sogar aus dem Spinde herausklirrten und, einmal in Bewegung, nicht nur nach dem blutigen Haupte des weisen Nathan hinrollten, sondern auch bis in die Nähe des betäubten Mörders, wie um ihm beim Erwachen einen recht verführerischen Anblick zu bereiten.
Der Tag graute bereits, als der letzte der Hochzeitsgäste die knarrende Treppe hinaufkroch und seine unsicheren Bewegungen mit dem ebenso unsicher vorgetragenen Allerweltsrefrain begleitete. – –
Um dieselbe Zeit machte auch auf dem Parkettboden eine glücklichere Hyäne Feierabend.
Der biedere, warmherzige Nailleka! Wenn es ihm gut erging, wenn er selbst Ursache hatte, heiter zu sein, duldete er nicht gern finstere Gesichter in seiner Umgebung. Alle mußten sich mit ihm freuen, alle mittelbar teilnehmen an den goldenen Früchten, die ein gerechtes Geschick ihm in den Schoß warf. Und nachdem er den Gram über den elenden Zusammenbruch der Zentrifugalbank und das damit verbundene Unglück so vieler braver Menschen überwunden hatte, war er gewiß der Mann dazu, seinen zum Teil sehr hochgestellten Gästen eine glänzende, genußreiche Nacht zu bereiten. Nach Gründen aber zu Festlichkeiten brauchte er nicht lange zu suchen, zumal es von jeher in seiner Natur lag, besondere Ereignisse auf seine eigene Art zu verherrlichen; und wie er es früher in seinem großen Wirkungskreise gehalten hatte, so sollte es auch jetzt bleiben, da er mit seltener Selbstverleugnung von seiner Höhe einige Schritte rückwärts getan hatte. Die Gründung der weltberühmten Bank wurde einst von ihm solenn gefeiert; nicht minder der günstige Verkauf seiner kleinen Firma an die Herren Aktionäre, womit zusammenfiel, daß er sein Haus, trotz des ungewöhnlich hohen Preises mit schwerem Herzen an die Gesellschaft abtrat, um dafür schüchtern, jedoch mutig das Direktorat zu übernehmen und wiederum in seine alten, jedoch standesgemäß hergerichteten Räume einzuziehen. Heute nun feierte er den Rückkauf seiner gediegenen Firma. Obwohl zerfallen mit sich und der ganzen Welt – wie er vor wenigen Wochen noch jedem, der es hören wollte, eidlich beteuerte – und fest entschlossen, sich jeglichem Geschäftsverkehr fernzuhalten, war er doch schwach genug gewesen, endlich dem Ansinnen vieler Freunde, namentlich des früheren Aufsichtsrates der verschollenen Bank, nachzugeben und wenigstens seine Firma der Nachwelt zu erhalten, zumal dieselbe ihm samt dem stolzen Bankgebäude und allen Utensilien, wie solche noch recht wohl erhalten aus dem Ruin hervorgegangen waren, zu einem Spottpreise überlassen wurde. Er dachte dabei wiederum mehr an andere, als an sich selbst – wie er seine Inkonsequenz verschämt entschuldigte – und zum Beweise seiner Anspruchslosigkeit wurde dieser Rückschritt zu den alten Verhältnissen ganz mit demselben Pomp gefeiert, wie einst die vielversprechende Gründung der Zentrifugalbank.
Dieses Fest des Rückkaufs bildete gleichsam den Schlußstein der Regulierung des traurigen, durch übelwollende Menschen herbeigeführten Konkurses. Wie überall, so war auch bei dieser Regulierung Nailleka die eigentliche Seele gewesen; dafür aber hatte er das große Glück, seine endlosen Bemühungen für die armen Aktionäre dadurch gekrönt zu sehen – er beteuerte es in jener schönen Nacht mehrfach tränenden Auges und mit gen Himmel erhobenen Blicken – daß ihnen aus der Masse noch volle zwei und ein halbes Prozent ausgezahlt werden konnten.
Der biedere Nailleka, er war zu glücklich in seiner Demut, so glücklich, daß, hätten die Wölfe aus des alten Nathan Behausung sich als Zuschauer in der Nähe befunden, sie ohne Zweifel aus vollem Herzen ihren Lieblingsvers, wenn auch mit einigen unwesentlichen Abänderungen, auf seine Person würden angewendet haben. Und dann die liebe, straff geschnürte, nervenschwache Frau Bankdirektor – der Titel wurde ja beibehalten – und endlich die für den Beweis der Darwinschen Theorie wie geschaffenen kleinen Damen! –