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Über Tod und Grab hinaus.
Es mochte gegen halb zwölf Uhr sein, als Ellenborough in seine Wohnung zurückkehrte. Die Haustür lehnte er nur an; ebenso blieb die Zimmertür unverschlossen, und ohne zuvor ein Licht angezündet zu haben, warf er sich auf sein Lager.
Manche, manche tadelnswerte Handlung hatte er sich zuschulden kommen lassen; manche Handlung, zu deren Ausführung es mehr als gewöhnlichen Mannesmutes, sogar eines gewissen Zerfallenseins mit sich und der ganzen Welt bedurfte; allein nie war er von dem Ernst seiner Lage höher durchdrungen gewesen, als jetzt, da er sich die Aufgabe gestellt hatte, Gerhards Verfolger von dessen Spur abzulenken. Regungslos starrte er auf die beiden sich nur matt auszeichnenden Fenster, während er sein Leben noch einmal vor seinem Geiste vorüberrollen ließ. Es bot ihm nur wenig Punkte, vor denen er länger hätte weilen mögen, wenig Ereignisse, die ihm in dieser ernsten Stunde zum Trost gereicht hätten. Die erste Erschütterung erhielt sein verdorrtes Herz damals, als seine Tochter unerwartet vor ihn hintrat und er in ihren Augen nicht nur las, daß sie ihn erkannt hatte, sondern auch wie verächtlich ihr jetzt der erschien, dessen sie bisher nur als eines geliebten, neben ihrer armen Mutter schlummernden Toten gedacht hatte. Was ihr seit den Tagen ihrer Kindheit am heiligsten gewesen, die treue Erinnerung an ihre heimgegangenen Eltern, es war ihr mit einem Schlage geraubt und vernichtet worden; vernichtet in einer Weise, daß sie bis in den Mittelpunkt der Erde hinein hätte fliehen mögen, um nie wieder ein bekanntes Auge in Liebe und Vertrauen auf sich gerichtet zu sehen. Keinen anderen Ausweg entdeckte sie in ihrer Not, als sich ihm anzuschließen, mit ihm zu teilen das Los, das er sich selber bereitet hatte. Und welches Los! Nachdem er auf Grund eines unerhörten Betruges die Heimat verlassen hatte, war es, als ob die finstersten Dämonen der Hölle ihn hätten für seine kühne Tat lohnen wollen. Denn was er beginnen mochte: alles glückte, alles brachte ihm reichen Gewinn, zuerst auf dem Wege rechtlicher Arbeit und in Ausübung seines ärztlichen Berufes, bis er endlich, reicheren Vorteilen nachjagend, sich den südlichen Verschworenen anschloß.
Da traf ihn ein neuer, der härteste Schlag. Es geschah in jener verhängnisvollen Stunde, in der er, Gerhard argwöhnisch belauschend, den eigentlichen Umfang des Opfers kennen lernte, zu dem Esther durch ihr Zusammentreffen mit ihm gezwungen worden war. Bis in den innersten Lebensnerv hinein erschüttert, ließ die furchtbare Entdeckung seinem Dasein nur noch in so weit einen Wert, als er es für denjenigen einsetzen konnte, an dessen Untergang, wenn auch widerwillig und mittelbar, er mitgearbeitet hatte. Schaudernd vergegenwärtigte er sich die Folgen, wenn er im entscheidenden Augenblick nicht heimgekehrt und daher nicht in der Lage gewesen wäre, sich auf der Außenseite des Gartens nahe der Laube im Unkraut zu verbergen.
Seine Betrachtungen stockten, die Zeit verrann. Mitternacht war vorüber und noch immer ließen die Gesellen des teuflischen Clans auf sich warten. Er erhob sich und schritt nach dem Fenster hinüber. Eine Gruppe schwarzer Gestalten bewegte sich durch den Vorgarten auf die Haustür zu. Eine andere Abteilung begab sich nach der Hintertür, wogegen eine dritte sich auf die verschiedenen Fenster verteilte. Ellenborough lächelte bitter, als er die umfassenden Maßregeln sah, die getroffen wurden, um einem einzelnen, harmlosen jungen Manne den Untergang zu bereiten, weil man von dessen unerschütterlicher Rechtlichkeit glaubte Verrat befürchten zu müssen. Doch er wußte, daß die Rachehandlungen der südstaatlichen Verbrüderungen absichtlich mit einem gewissen Pomp und unter zahlreicher Beteiligung ins Werk gesetzt wurden, um dadurch einen nachhaltigeren Eindruck zu erzeugen und größeren Schrecken zu verbreiten.
Die einzelnen Abteilungen hatten kaum ihre Posten eingenommen, als Ellenborough hörte, daß die Haustür behutsam geöffnet wurde. Er trat einige Schritte zurück und zog die Pistole. Auf dem Flur wurde ein Licht angezündet, die Zimmertür wich nach innen, ein Lichtstrahl fiel auf das Bett und zugleich wurde der Lauf eines Doppelgewehrs sichtbar.
»Bei Gott, er liegt nicht drinnen!« flüsterte es seitwärts von Ellenborough und nur durch die Türbretter von ihm getrennt. Dieser schauderte. Er hatte die Stimme Highways erkannt, desselben Highway, mit dem er so lange in geschäftlichem Verkehr gestanden, dem Verderber Elses, dem hundertfachen Mörder. War er bisher auf das Äußerste gefaßt gewesen, so wußte er jetzt, daß eine unwiderrufliche Entscheidung über Leben und Tod nahe sei.
Weiter öffnete sich die Tür, und vor ihn hin trat Highway selber in der ihm nur zu vertrauten Verkleidung. Noch hatte er ihm den Rücken zugekehrt, offenbar um den nachdrängenden Genossen freien Raum zum Gebrauch ihrer Waffen zu geben und ihnen zu leuchten. Plötzlich aber kehrte er sich bei einer zufälligen Bewegung ihm zu, und durch die Augenlöcher der Schleiermaske hindurch meinte er die auf ihm haftenden, vor Erstaunen und Wut glühenden Blicke zu fühlen. Er begriff, daß sein Tod, wenn man ihn erkannte, Gerhard nicht gegen weitere Nachstellungen schützen würde, und sein letzter Entschluß war gefaßt.
»Bei der ewigen Verdammnis! Hier ist –!« schrie Highway auf und zugleich hob er das Licht höher. Bevor er aber den Namen auszusprechen vermochte, erschütterte ein Schuß das Haus, und von Ellenboroughs Kugel durch den Kopf getroffen, brach er lautlos zusammen, im Fallen das Licht verlöschend.
Ein Aufschrei der Wut folgte auf diesen unvorhergesehenen Angriff, sich schnell fortpflanzend vom Flur ins Freie hinaus und um das ganze Haus herum.
»Besetzt Türen und Fenster!« rief gellend derselbe Kaufmann, mit dem Ellenborough vor wenigen Stunden noch verkehrte, und zugleich verließ er mit den Genossen den finsteren Flur. Die Minute grenzenloser Verwirrung aber benutzte Ellenborough, die Bettdecke über sein Haupt zu werfen und den Oberkörper so einzuhüllen, daß nur die mit dem Revolver bewaffnete Faust frei blieb. Was auch immer vorher sein Entschluß gewesen, angesichts eines unvermeidlichen Endes erwachte in ihm der Selbsterhaltungstrieb. Mit dem wohlüberlegten Verlangen, unerkannt zu bleiben, verband er die Hoffnung, nach dem Boden des Hauses hinauf zu entkommen und von dort über das Dach fort seine Flucht weiter zu bewerkstelligen. Doch ihn umringten Feinde, die nicht gewohnt waren, ihre Opfer entschlüpfen zu lassen. Er hatte die Zimmertür noch nicht erreicht, als vor den Fenstern Strohfackeln aufflammten, Fensterscheiben klirrten, die Vorhänge mit Gedankenschnelligkeit vom Feuer verzehrt wurden und bei der unheimlichen Beleuchtung wohl ein halbes Dutzend Gewehrschüsse auf die verhüllte Gestalt abgefeuert wurden, in der man augenscheinlich den mit teuflischer Ausdauer verfolgten Gerhard vermutete.
Von zahlreichen Rehposten durchbohrt, stürzte Ellenborough neben Highways blutige Leiche hin. Draußen aber stritt man sich noch darüber, ob man letztere mit fortnehmen oder unter der Asche des Hauses begraben solle, als die Fackelträger ihre lodernden Strohbündel mitten in das Zimmer hineinschleuderten. Neue Strohbündel, deren Hof und Stall einen reichen Vorrat bargen, folgten und binnen wenigen Minuten erfüllte eine knisternde Lohe und erstickender Rauch den blutigen Raum. Ähnlich verfuhr man auf den anderen Seiten des Hauses, und keine zehn Minuten waren nach dem ersten Angriff verstrichen, da schlugen die Flammen ringsum weit über das leicht brennbare, mit dürren Schindeln gedeckte Dach hinaus. –
Auf den benachbarten Farmen wurde der Feuerruf laut. Die Landstraßen und Seitenwege belebten sich mit Wagen, Reitern und Fußgängern. Man eilte herbei, um zu löschen und zu retten. Wer indessen so weit gelangte, daß er die von den Flammen grell beleuchteten Teufelsgestalten zu unterscheiden vermochte, dem entschlüpfte wohl das verhängnisvolle Wort »Ku-Klux-Clan«, und sich scheu umkehrend, beeilte er sich, dem Bereiche derjenigen zu entkommen, deren Rache er glaubte fürchten zu müssen. –
Nur eine einzelne Reiterin wagte sich trotz der ihr entgegenschallenden Drohrufe bis auf die Brandstätte. Sie war sichtbar erschöpft von einer anstrengenden Reise auf Wagen und Eisenbahnen; das in der nächsten Stadt gemietete und schäumende Pferd drohte unter seiner leichten Last zusammenzubrechen.
Angesichts des wild lodernden Brandes hielt sie ihr Pferd an, und mit einem Antlitz, auf das der Tod seine kalte Hand gelegt zu haben schien, so starr und doch so schön, blickte sie vor sich in die Glut.
»Wo ist der junge Deutsche, den man bis hierher verfolgte?« fragte sie mit unheimlicher Entschlossenheit.
Niemand antwortete; dagegen suchten die in ihrer Nähe befindlichen Teufelsmasken sich aus dem Bereich ihrer Blicke zu entfernen.
»Er ist tot, er ist ermordet!« fuhr Claudia mit einem Ausdruck fort, wie er nur durch Entsetzen erzeugt werden konnte; dann sich wieder ermannend, fragte sie weiter:
»Wo ist Highway? Wo ist mein Vater? Er muß hier sein! Unter welcher Hülle steckt er? Ich bin hier, um Rechenschaft von ihm zu fordern, ihn zu fragen, warum er seine eigene Tochter dazu benutzte, einen Unschuldigen ins Verderben zu treiben!«
Tiefes Schweigen ringsum. Nur die Flammen sausten, indem sie knisternd die trockenen Bretterwände und Schindeln verzehrten.
»Gut, mein Vater,« rief sie verzweiflungsvoll aus, daß es schauerlich durch die Nacht hinschallte, »du scheust den Anblick deines eigenen Kindes! Wohlan, ich will dich desselben für immer entheben! Nicht mehr unter demselben Dach mit dir will ich hausen, und wäre ich gezwungen, gemeinschaftlich mit der von dir geopferten Lehrertochter rastlos die Sümpfe zu durchstreifen; denn sie allein war es, der ich die Kunde von dem beabsichtigten Verbrechen verdanke!«
Mit dumpfem Gepolter brach das Haus zusammen. Lange noch stierte Claudia in die Glut, aus der ein entsetzlicher Duft ihr entgegenströmte. Als sei sie ein böser Geist gewesen, Tod und Verderben um sich her verbreitend, schlichen die Teufelsmasken aus der grellen Beleuchtung in die Schatten der Nacht hinein. Sogar ihre verstockten Gemüter schauerten ängstlich zusammen, als sie die Tochter mit einem Fluch auf den Lippen vor dem Grabe ihres Vaters halten sahen.
»Zu spät, zu spät,« flüsterte Claudia über die Mähne ihres Pferdes hin, »möge diejenigen des Himmels Rache treffen, welche ein solches Elend verschuldeten!«
Langsam wandte sie ihr Pferd, und bald darauf war sie in Nacht und Dunkelheit verschwunden. Hinter ihr leuchteten die Flammen noch lange, aber nicht mehr so weithin sichtbar. Nur der geschwärzte Schornstein, seltsam geschmückt mit blutroten Reflexen, ragte noch hoch empor. Alles übrige war Holzwerk gewesen und daher leicht und schnell von dem Feuer vernichtet worden.
Als der Morgen graute, spielte die sanfte Luftströmung nur noch mit weißer Asche, unter der in einem Trümmerhaufen die letzte Kohlenglut erstickte. –
Den roten Feuerschein am fernen Horizont hatten weder Gerhard noch Esther bemerkt, denn als ersterer nach halbstündiger schneller Wanderung den in der Nachbarschaft eines größeren Gehöftes haltenden Einspänner erreichte, da saß Esther auf der Wagenbank, als ob sie entschlafen gewesen sei. Das leise Wiehern des Pferdes verriet ihr die Annäherung eines Fremden. Sie richtete sich empor, und rückwärts spähend, unterschied sie die Gestalt eines Mannes, der gerade auf sie zuschritt.
»Bist du es, Vater?« fragte sie gedämpft.
»Dein Vater sendet mich,« antwortete Gerhard hochklopfenden Herzens und durch diese Andeutung sein unerwartetes Erscheinen entschuldigend.
»Gerhard!« rief Esther vorwurfsvoll und dennoch mit einem unbeschreiblichen Ausdruck innigen Entzückens, als ob nunmehr alle Last von ihrem Herzen genommen wäre, »Gerhard – du suchtest ihn dennoch auf – warum hast du mir das angetan?«
»Ich forschte nicht nach ihm,« versetzte Gerhard tief bewegt, die ihm vom Wagen niedergereichte Hand an seine Lippen pressend, »nein, er suchte mich auf – alles vertraute er mir an, und mir allein gehörst du, seitdem er selber dich meiner Sorge übergab –«
»Nimmermehr!« klagte Esther, ihre Hand auf Gerhards Stirn legend, »du kannst nicht alles wissen, unmöglich kann er dir alles anvertraut haben.«
»Teuerste Esther,« flüsterte Gerhard dem ihm zugeneigten Antlitz so leise entgegen, als hätte er von der Nacht selber eine Verbreitung des Geheimnisses befürchtet, »meine erste Handlung wird sein, in seinem Auftrage und in dem deinigen eine bestimmte Geldsumme nebst langjährigen Zinsen an eine Lebensversicherungsgesellschaft als das Vermächtnis eines unbekannten Verstorbenen auszuzahlen. Genügt diese Beteuerung, dich –«
»Es ist genug, Gerhard,« versetzte Esther bestürzt, »aber nicht weiter gehe mit deinen Offenbarungen. Laß in ewige Vergessenheit begraben sein, was mich noch heute um meinen Verstand zu bringen droht – und daß du jetzt noch zu mir kommst, jetzt noch deine alte Treue mir bewahrst – o, Gerhard, und wenn meine ganze Seele sich dagegen sträubt, den meinem Namen anhaftenden Makel auf dich zu übertragen, ich kann nicht – nein, ich kann mich nicht von dir wenden. Meine Liebe zu dir überwiegt alle anderen Rücksichten; mir ist, als beginge ich ein Verbrechen an dir, führe ich fort, zu zweifeln und zu bangen. Von meinen Empfindungen allein will ich mich leiten lassen, und Gott wird mir verzeihen, wenn ich unrecht an dir handle – ich kann nicht anders –« heftiges Schluchzen erstickte ihre Stimme. Gerhard war zu ihr auf den Wagen gestiegen und hatte neben ihr Platz genommen. Seinen Arm legte er um die Geliebte, und als hätte das Pferd, sich selbst überlassen, Verständnis für die augenblickliche Lage besessen, setzte es sich langsam in Bewegung.
Stumm lehnte sich Esther an Gerhards Brust. Sie war so glücklich und doch so bange, aber reichlich flossen ihre Tränen, während Gerhard ihr Ellenboroughs Grüße darbrachte, sein letztes kurzes Zusammensein mit ihm schilderte.
»Was du mir sagst,« nahm Esther endlich wieder tief bewegt das Wort, »es klingt wie der letzte Gruß eines Sterbenden. Bange Ahnungen bestürmen mich. Mir ist, als sollten wir ihn nicht wiedersehen.«
»Ihn – nicht wiedersehen?« fragte Gerhard erschreckt, und jetzt, da er seine geliebte Esther im Arm hielt, gewannen beim Rückblick Ellenboroughs Aufträge und sein ganzes Verfahren plötzlich eine andere Bedeutung – »nicht wiedersehen? Unmöglich – er versprach, sich um die Mittagszeit uns zuzugesellen.«
»Nein, Gerhard,« versetzte Esther, noch immer leise weinend, »ich täusche mich nicht, sein Abschied, als ich mich von ihm trennte, war ein anderer, als gewöhnlich. Ernste Gedanken bewegten ihn, und Worte verließen seine Lippen, wie sie wohl auf einem Sterbelager gesprochen werden.«
Gerhard wagte nicht, eine Meinung zu bekämpfen, die bei ihm selbst schnell zur Überzeugung wurde. Aber fester drückte er die Geliebte an sich, während sein geistiger Blick in die Zukunft drang, sich weidend an den holdesten Szenen des Friedens und des Glücks.
Das Pferd verfolgte unterdessen ruhig seinen Weg. Bald über Fluren hin, bald durch Haine und an Ansiedlungen und vereinzelten Gehöften vorbei auf wohlgebahnter Landstraße. Über den Niederungen schwebten Nebelschleier; mit geheimnisvollem Säuseln hauchte durch die Wipfel der Bäume die kühle Morgenbrise. Bald hier, bald dort bellte ein wachsamer Hofhund. Hin und wieder krähte ein Hahn.
Beim hellsten Morgensonnenschein erreichten die beiden Reisenden die ihnen bezeichnete Ortschaft, wo die Vorkehrungen zur Weiterreise fast den ganzen Vormittag in Anspruch nahmen. Ellenborough war nicht eingetroffen. Der Brief an Esther wurde daher erbrochen. Dessen Inhalt bestätigte Esthers bange Ahnungen.
». . . Ihr werdet daher nicht säumen,« schloß der Brief, »bevor Ihr Eure Reise fortsetzt, Euch durch einen Notar der Landessitte gemäß trauen und in das betreffende Register als Ehegatten eintragen zu lassen. Ihr vereinfacht dadurch nicht nur Eure Reise durch die Euch fremden Landesteile, sondern erhöht auch Eure beiderseitige Sicherheit. In Neuyork übermittelt sogleich die in Gerhards Händen befindlichen Briefe an ihre Adressen. Durch diese wird das Ordnen meiner Vermögensverhältnisse – im Fall ein Unglück mich ereilen sollte – wesentlich erleichtert und gefördert. Der bei weitem größte Teil meiner Habe kommt selbstverständlich den Bewohnern der Sumpfkolonien zugute.
Ich setze voraus, daß Ihr Neuyork nicht zur Begründung Eures Hausstandes wählt. Gibt es doch in der alten Heimat Gelegenheit genug für einen strebsamen jungen Mann zum Broterwerb. Aber wohin Ihr Euch wenden mögt, mein Segen begleite Euch auf allen Wegen und in allen Lebenslagen, mein Segen und meine Dankbarkeit für den Trost, der mir in meiner letzten Stunde – Gott mag wissen, wann sie schlägt – durch die Erinnerung an Euch gewährt wird.«
Nachdem sie den Brief gelesen hatten, reichten sie sich die Hände. Was sie hätten aussprechen mögen, es ruhte in ihren Augen, in ihren ernsten Blicken, die sich über das beschriebene Blatt hin begegneten.
Als sie gegen Abend den Ort verließen, hatte Esther Gerhards Namen angenommen.
Ihr Aufenthalt in Neuyork dauerte länger, als sie erwarteten. Wie ihr Vater gestorben war, erfuhr Esther nicht. Selbst Gerhard ersah es nur zufällig aus einer Zeitung, in der, unter Hinweis auf das fortgesetzte verbrecherische Treiben des Ku-Klux-Clan, die Ermordung eines jungen Deutschen, Namens Gerhard, ausführlich geschildert wurde. Zugleich sprach man von dem geheimnisvollen Verschwinden eines der verrufensten Sezessionisten, und daß die in dem Schutt des niedergebrannten Hauses aufgefundenen Überreste eines zweiten Mannes wohl die des vielleicht im Kampfe mit dem jungen Fremden gefallenen Pflanzers Highway gewesen sein möchten.
Die Übermittelung der Summe, über die Ellenborough zugunsten der Bewohner von Nailleka verfügte, veranlaßte Gerhard, genauere Erkundigungen über die Kolonie einzuziehen. Claudia hatte, als alleinige Erbin, die Besitzung ihres Vaters verkauft und war mit ihrer Mutter nach einer größeren Stadt gezogen. Den alten Androklus hatte David nördlich zu Verwandten geschickt. Mit ihm verließen die meisten Farbigen die Sümpfe. Die Zurückbleibenden suchten auf Davids Rat Beschäftigung auf Highways Plantage, wo ihnen solche von dem neuen Besitzer gegen entsprechenden Lohn im Überfluß geboten wurde. David selber blieb noch. Er schien sich von der Stätte seiner früheren Tätigkeit nicht losreißen zu können.
Durch die von Ellenborough ihnen zugewandten Geldmittel vermochten die weißen Arbeiter nicht nur ihre als Sklavenketten benutzten Schulden zu tilgen, sondern auch Landstriche aufzusuchen, auf denen Klima und Bodengestaltung sie gleichsam gastlich begrüßten, ihnen reichen Ertrag für ihre Mühen versprachen. Doch bevor sie dahin gelangten –!
Wie eine Botschaft vom Himmel traf die Bewohner der Sumpfkolonien die Kunde ihrer Befreiung. Was sie kaum noch zu hoffen wagten, was von der Gottheit zu erflehen ihnen der Mut fehlte, unerwartet war es in Erfüllung gegangen. Tränen der Dankbarkeit verschleierten die Blicke, indem diese Kunde von Haus zu Haus getragen wurde, und doch wollte eine eigentliche Fröhlichkeit nicht zum Durchbruch gelangen. Denn was die Erde einmal in Empfang genommen hat, das gibt sie nicht wieder heraus! Mit der Trennung von dem Schauplatz unsäglichen Elends war der Abschied von Gräbern verbunden, in denen so manche Lebensfreude, so manche Lebenshoffnung der Ewigkeit entgegenschlummerte. Es war ein zu schwerer, ein unsäglich trauriger Gedanke, und viele gab es, die sich am liebsten zu den Teuren in die kalte Sumpferde gebettet hätten, anstatt aufs neue einer ungewissen Zukunft entgegenzuziehen, und zwar mit gebrochenem Herzen, gebrochener Gesundheit und gebrochenem Mute. Fehlten doch diejenigen, für die man länger hätte leben, Geist und Arme zu neuen Anstrengungen erheben mögen!
Und dennoch, welch scharfer Unterschied herrschte zwischen dem Früher und dem Jetzt – zwischen jenen Tagen, in den die mit der letzten Habe erkauften Landbesitztitel den nur zu gern zu überspannten Hoffnungen hinneigenden Gemütern einen trügerischen Rückhalt boten, und dem Jetzt, da man zagend die erlahmten Kräfte beim Schnüren der kleinen Bündel prüfte! Damals verblendet und berauscht durch falsche Vorspiegelungen und in dem Wahne, in ein irdisches Paradies einzuziehen, sagte man jetzt mit leeren Händen und hoffnungslos einer Landscholle Lebewohl, die eben nur durch die in ihr ruhenden Teuren den Charakter einer Heimstätte erhalten hatte. Auf die unberechtigten, durch verbrecherisches Beginnen künstlich emporgeschraubten Erwartungen und Träume war ein entsetzliches Erwachen gefolgt, ein ohnmächtiges, qualvolles Winden in Sklavenketten. Dem seiner letzten Hoffnungen Beraubten, der außer dem Wanderstabe kaum noch etwas sein Eigentum nannte, winkten dagegen in fernen Distrikten ein heimatliches Klima und der anregende Wechsel der Jahreszeiten; winkten ein gastlicher dankbarer Boden und endlich Freundeshände, bereit, den Schwankenden zu stützen, zugleich ehrend in der Freiheit des Denkens und Schaffens den Mitmenschen und in ihm das Ebenbild einer schöpferischen Gottheit.
Familienweise waren die Bewohner der Sumpfkolonien aufgebrochen, familienweise und je nachdem es der Gesundheitszustand der einzelnen Mitglieder zuließ. Die gemeinschaftlich ertragenen Leiden hatten alle einander nähergeführt, die gelichteten Kreise gleichsam zu einer einzigen Familie vereinigt. Unter Tränen nahm man voneinander Abschied, und unter den aufrichtigsten Versprechungen, auch in den fernen glücklichen Distrikten sich gegenseitig aufsuchen zu wollen.
So war eine Hütte nach der andern in Nailleka leer geworden, bis endlich nur noch einige junge Männer bei dem alten Schulmeister blieben, um den tiefgebeugten Hausfreund aller nicht gänzlich vereinsamt seinem Geschick zu überlassen. Denn niemand besaß den Mut, ihn aufzufordern, sich den Scheidenden anzuschließen, ihn, der Tag und Nacht darauf harrte, daß seine unglückliche Tochter sich ihm wieder zugesellen und ihn von dannen begleiten würde. Tag und Nacht wartete er, und mit ihm warteten seine Freunde. Es war als ob das Scheiden so vieler Leidensgenossen die Ärmste mit Scheu erfüllt hätte, als wäre sie von Furcht erfüllt gewesen, mit Gewalt einer Umgebung entrissen zu werden, auf welcher mit einem Stück ihres Körpers auch ein Teil ihrer Seele begraben worden war, jenen zum Dahinwelken, diesen zum planlosen Umherschweifen zwischen wirren Phantasien vorbereitend. Man hörte wohl zur nächtlichen Stunde vielfach ihre sanfte Stimme, indem sie bald hier, bald dort ihre formlosen Ideen in melancholische Melodien kleidete, allein das leiseste Rauschen der Blätter in ihrer Nähe verursachte, daß sie wie ein Schatten verschwand, um erst wieder aus der Ferne durch einen Klagegesang ihre Anwesenheit zu verraten.
So folgten Tage auf Nächte und Nächte auf Tage; ratloser schaute der alte Lauter in die Zukunft, und dringender wurden seine Bitten an die jungen Leute, ihn und seine Tochter ihrem Schicksal zu überlassen, ein Ansinnen, dem Folge zu leisten diese sich standhaft weigerten.
Eine neue Nacht war hereingebrochen, eine Nacht, so lieblich, als sei sie eigens dazu bestimmt gewesen, die Sterblichen nach des Tages Hitze zu erquicken, und wie um ihnen auf ihren einsamen Spaziergängen zuvorkommend zu leuchten, sandte der volle Mond seine milden Strahlen auf die dichten Waldungen wie auf die Gefilde, auf klare Wasserspiegel und menschenfeindlich belebte Sümpfe nieder.
Lauter rastete auf einer Schilfanhäufung unter dem vorspringenden Dache seiner traurig verödeten Hütte. Seine Freunde, vier rüstige junge Männer, hatten bis gegen Mitternacht bei ihm gesessen; dann hatten sie sich entfernt, um innerhalb der Hütte ihr gewohntes Lager aufzusuchen.
Traurig blickte er in der Richtung nach der Beerdigungsstätte hinüber, von woher Bruchstücke einzelner Melodien zu ihm drangen. Schon als die jungen Leute sich noch bei ihm befanden, hatten die klagenden Töne zuweilen die Stille der Nacht unterbrochen, aber zusammenhängender waren sie gewesen und heller. Den Rat, sich der Ärmsten von verschiedenen Seiten zu nähern und mit freundlicher Gewalt sie wieder an die Lebenden zu ketten, hatte der alte Mann dagegen zurückgewiesen. Und nun lauschte er fortgesetzt hinüber, einen unsäglich schmerzlichen Genuß suchend in der sanften Stimme, die eigentlich das letzte, was ihm von einem einst zahlreichen Familienkreise geblieben.
»Schlaf in süßer Ruh –«
tönte das holde Wiegenlied zu ihm herüber.
Seine Blicke verdunkelten sich. Während heiße Tränen über seine eingefallenen Wangen rollten und die gefalteten Hände benetzten, begann seine Phantasie mächtig zu arbeiten. Er vergegenwärtigte sich jene Zeiten, in den er selbst dieses Lied über einen schlummernden Engel hinsang, der treuen Gattin dadurch Muße verschaffend, unter einer Anzahl nicht minder teurer Kinder mütterlich zu walten. Er vergegenwärtigte sich jene Zeiten der Sorgen, in den die gesunde Nachkommenschaft trotz des trockenen Brotes kräftig heranwuchs, ihm zur Freude, der Mutter zum Stolz.
Zwischen den Gräbern war es still geworden.
»Der Wolf, der hat das Schaf gebissen –«
hallte es plötzlich wieder unbeschreiblich sanft, wie unter dem Einfluß nahender Träume herüber.
»Ja, der Wolf, der hat das Schaf gebissen,« wiederholte der alte Mann, und verzweiflungsvoll bedeckte er sein Antlitz mit beiden Händen.
Der Schmerz hatte ihn erschöpft. Tiefe, unwiderstehliche Müdigkeit, wie erzeugt durch den leisen Kuß des bleichen Mondes, bemächtigte sich seiner.
»Schlaf in süßer Ruh –«
unterbrach es nach einer längeren Pause wieder geisterhaft die nächtliche Stille.
Des Schulmeisters Haupt war auf seine emporgezogenen Knie gesunken. Wohltätige Vergessenheit legte sich um seine Sinne.
»Schlaf in süßer Ruh!«
hallte es zart und leise. Dann noch einmal:
»in – süßer – Ruh –«
und auch auf der Beerdigungsstätte trat Stille ein.
Selbst das Pochen eines armen, gequälten Herzens hatte aufgehört. Süße, ewige Ruhe war an Stelle der rastlos arbeitenden Phantasien getreten. Durch die Wipfel der Bäume zog es wie heiliges, segnendes Geflüster. Mit milchweißen Nebelstreifen spielte das bläuliche Mondlicht. Armen ähnlich streckte es sich zwischen den dicht verschlungenen Zweigen hindurch, wie Arme, sehnsüchtig ausgebreitet, einen Engel zu empfangen, ihn sanft hinüberzuführen in seine himmlische Heimat. – – –
Glänzender Sonnenschein, funkelnde Tauperlen und heller Jubel der befiederten Waldsänger begrüßten den alten Schulmeister bei seinem Erwachen. Er hatte so süß geruht, nachdem er in den Schlaf gesungen worden von seiner eigenen Tochter.
Die jungen Leute waren längst munter. Als er ihrer ansichtig wurde, rief er sie herbei. Er entsann sich der letzten Minuten, bevor der Schlaf ihn überwältigte, entsann sich des träumerischen Ausdruckes, mit dem die Schlußworte des Wiegenliedes zu ihm herüberdrangen.
»Begleitet mich,« sprach er gedämpft, wie um eine Schlummernde nicht zu stören, »ich weiß jetzt, wo mein armes Kind weilt. Es schläft; die Erschöpfung hat es übermannt; aber behutsam tretet auf, um es nicht zu wecken.«
Dann schritt er ihnen voraus mit unsicheren schwankenden Bewegungen der Beerdigungsstätte zu, voraus im glänzenden Sonnenschein und durch funkelnde Tauperlen.
Als er sich der Stelle näherte, auf der ein winziges Hügelchen die Reihe der seine Angehörigen bergenden Gräber abschloß, entdeckte er in der Tat Else, und noch behutsamer schlichen er und seine Freunde einher, bis er sich endlich vor seinem letzten Kinde befand. Zu Häupten des Hügelchens saß die Ärmste, den Rücken angelehnt an das Grab, unter dem ihre eigene Mutter schlummerte. Das Haupt mit dem lang niederwallenden schönen Haar hatte sie tief auf die Brust geneigt, das marmorbleiche Antlitz vergraben in die Blätter eines Magnoliazweiges, welchen sie mit beiden Händen an ihr Herz drückte.
Zitternd vor Jammer legte der Schulmeister seine Hand auf das betaute Haupt. Was seine Freunde längst erraten hatten, er konnte es ja nicht glauben.
»Else, mein liebes, liebes Kind, warum weilst du deinem Vater stets fern?« versuchte er sie sanft zu ermuntern – »wache auf mein geliebtes, armes Kind! Wache auf und folge mir, daß ich nicht länger so vereinsamt –«
Er stockte. Heftiges Zittern erschütterte seine Gestalt; dann aber die Hände erhebend, sandte er einen Blick des entsetzlichsten Vorwurfs zum Himmel empor.
»Herr, Herr, womit habe ich das verdient?« rief er verzweiflungsvoll aus. »Was habe ich verbrochen, daß du mir auch noch dieses letzte Kleinod raubst?«
Dann hafteten seine Blicke lange starr auf der geliebten Toten. Er mochte sich die Ursachen vergegenwärtigen, welchen er seine jammervolle Lage, den jähen Verlust aller der Seinigen verdankte; denn eine tiefe Röte breitete sich über sein gramdurchfurchtes Antlitz aus.
Plötzlich richtete er sich wieder empor. Seine Augen glühten, und während er den Arm mit der geschlossenen Faust über seine Tochter hinstreckte, entwand es sich schwer, aber mit wachsender Kraft der keuchenden Brust:
»Dir meinen Segen, du armes, armes Wesen; meinen innigsten, ewigen Segen! Mein über das Grab hinausreichender Fluch dagegen denjenigen, die mich, den arglos Vertrauenden, in Jammer und Elend hinausjagten, meine geringe Habe mir raubten und die meinigen mordeten! Fluch, tausendfacher Fluch den Hyänen des Kapitals; ihnen und ihrer am blutbesudelten Raube sich atzenden Brut! Möge die Rache des Himmels auf diese scheußlichsten aller Verbrecher niederfahren! Möge er sie, die durch Lug und Betrug das Lebensmark ihrer Mitmenschen verräterisch einheimsen, die das Lebensglück Tausender von Familien frohlockend unter die Füße treten und spöttelnd den schamlos Betörten den Glauben an eine rächende Vorsehung gewaltsam entreißen, um ihnen dafür die Tore zum ewigen Jammer zu öffnen, möge er sie von der Erde vertilgen, wie die Sonne die Nacht verdrängt, ihr Name aber verflucht sein bis in die Ewigkeit!«
»Und dieser Fluch,« fuhr er nach einer kurzen Pause wilder, leidenschaftlicher fort, »entsprungen einem Herzen, das bisher nur Versöhnung und Nächstenliebe kannte, und angesichts einer geliebten Toten! O, möchte ich die Kraft besitzen, ihn jeder einzelnen dieser Hyänen in die Ohren zu schreien in der Stunde, in der der Tod seine Hand nach ihr ausstreckt, um sie vor ihren letzten Richter hinzuführen! Der gesättigte Tiger verliert vorübergehend seine Mordlust, allein unersättlich bleiben diese Hyänen!« Er lachte mit dem Ausdruck des Wahnwitzes, daß es seine jungen Freunde durchschauerte, dann fuhr er fort: »O, mein Gott, wie ärmlich sind die Strafen, welche irdische Gerechtigkeit diesen Verhöhnern aller göttlichen Gesetze zuerkennt! Der Darbende, wenn er die Hand heimlich nach einem Laib Brot ausstreckt, verfällt in Strafen, erleidet Ehrenverlust, wogegen die Hyänen des Kapitals mit ihrer Unantastbarkeit sich freventlich brüsten, sogar die verlangenden Blicke auf Titel und schillernde äußere Auszeichnungen richten!«
Wiederum lachte er unheimlich in den tauigen Morgen hinaus. Dann sank er auf die Knie vor der geliebten Leiche, und deren schönes, in einem süßen und doch unbeschreiblich wehevollen Lächeln erstarrtes Antlitz zwischen beide Hände nehmend, herzte und küßte er es, als hätte er dadurch die Teure zu neuem Leben wachrufen wollen.
Mit tiefer Wehmut beobachteten ihn die jungen Männer. Keiner befand sich unter ihnen, der nicht in glücklicheren Tagen mit heimlichen Sehnen die Blicke zu der schönen Schulmeisterstochter erhoben hätte, und nun saß sie da, kalt und tot, übersät mit funkelnden Tautropfen, als ob der Himmel selber seine Tränen auf sie herabgeweint hätte. Schon manchen hatten sie in der Sumpfkolonie sterben sehen, Freunde und Angehörige; vor manchem Grabe geweint und geklagt; allem jetzt, da sie die arme Else in ihrem dürftigen Anzuge und mit allen äußeren Spuren nur durch den Tod heilbarer Seelenleiden betrachteten, meinten sie, nie Schwereres erlebt zu haben.
Eine Weile ließen sie den jammernden Vater ungestört. Dann richteten sie ihn mit sanfter Gewalt empor, ihn mahnend, daß nicht gesäumt werden dürfe, die jugendliche Tote der Erde zu übergeben.
Wie aus einem wüsten Traum erwachend, blickte Lauter um sich. Willig duldete er, daß die jungen Leute seinen Liebling in den Schatten einer Zypresse hinübertrugen und mit Palmenwedeln und duftenden Sassafraszweigen bedeckten. Willig folgte er ihnen, als sie sich nach den Hütten zurückbegaben, um die entsprechenden Vorbereitungen zur Beerdigung zu treffen und demnächst ein letztes Grab in der langen Reihe der Gräber zu schaufeln. – –
Zur späten Nachmittagsstunde wurde der aus rohen Brettern zusammengefügte Sarg in die feuchte Gruft hinabgesenkt. Blumen in den mannigfaltigsten Farben hatten bei der Toten das Sterbekleid ersetzt. In ihren Armen hielt sie den Magnoliazweig. Gern ließ man ihr das von einem jungen Stämmchen gewaltsam losgetrennte und eine tötliche Verblutung erzeugende Reis, dieses, ihre eigenen Qualen versinnbildende Zeichen. Auf einem Lager von Zypressenzweigen ruhte der Sarg; Palmenwedel schieden ihn an den Seiten und von oben von dem schwarzen, feuchten Erdreich. –
»Die Rache ist mein, ich will vergelten! spricht der Herr,« begann der Vater die Leichenrede vor der offenen Gruft mit fester Stimme. Dem ersten Ausbruch der Verzweiflung waren ernste männliche Ruhe und fromme Ergebung in einen höheren Willen gefolgt: durch das schrecklichste Strafgericht konnte das Verlorene ihm nicht zurückgegeben werden. – »Der Herr segne deinen Eingang und deinen Ausgang,« schloß er mit bebenden Lippen, indem er die erste Handvoll Erde zu seinem geliebten Kinde hinabsandte. Dann beobachtete er stumm, wie unter den schaffenden Händen die Gruft sich füllte und neben dem kleinen Hügelchen ein neuer Hügel sich wölbte. Ein Weilchen rastete er noch zwischen den teuren Gräbern, während die jungen Leute sich nach den Hütten begaben und ihre Schultern mit den besten Habseligkeiten beluden. Es war so wenig, und das Wenige so leicht; die Geldmittel aber, die ihnen durch Ellenboroughs letzten Willen zugewandt worden waren, sie achteten ihrer kaum. –
Im letzten Abendsonnenschein verließen sie die Kolonie, die Stätte unsäglichen Elends. Im letzten Abendsonnenschein nahmen sie den alten Schulmeister zwischen sich und erstiegen den Hügel, von dem aus sie die Sumpfniederung noch einmal weithin überblickten.
Schweigend sahen sie hinab auf die im üppigsten Naturschmuck prangende Landschaft. So still, so friedlich lag sie da, zauberisch angehaucht vom purpurn glühenden Abendrot. Kein Lüftchen regte sich. Domförmig wölbten sich die vereinzelten Palmen; himmelwärts wiesen die Riesenblätter der saftreichen Bananenstauden. Fledermäuse tummelten sich in den Lüften; Heimchen zirpten auf dem Hügelabhange. Giftiges Gewürm und scheußlich gepanzerte Amphibien entkrochen den schädliche Miasmen aushauchenden Morästen.
»In der Natur wie bei den Menschen,« sprach Lauter träumerisch, »oft, oft bergen vielverheißende und einladend geschmückte Außenseiten einen verrotteten, feindlich wirkenden Kern.«
Die fünf Wanderer bogen in den Weg ein, welcher sie nach dem nächsten Städtchen führte. Anspruchslos, wie das ihnen vorschwebende Endziel war, die Hoffnung es zu erreichen, stählte ihren Mut, beflügelte ihre Schritte. –
Weit hinter ihnen mit dem frisch aufgeworfenen Grabhügel koste das Mondlicht. Ein Mann saß zu Häupten desselben, wie rastend nach schwerem Tagewerk. Neben ihm lehnte eine Schaufel an ein eben gepflanztes Magnoliabäumchen.
»Es wird sterben,« sprach er traurig vor sich hin, indem er den jungen Stamm sinnend betrachtete, »sterben in dem feuchten Erdreich, sterben wie sie, deren Leben eine fremde Atmosphäre vergiftete und tötete.«
Tief auf seufzte er. Er hatte sie zu sehr geliebt, die arme Else, und noch immer liebte er sie, zu der er bei ihren Lebzeiten nur wie aus dem Staube zu einer Heiligen emporzublicken wagte. Weder sie noch ein anderer hatten jemals sein ängstlich bewachtes Geheimnis geahnt. Heute dagegen, da die Letzten aus der Kolonie fortgegangen waren und niemand ihn sah, durfte er, ein Farbiger, wohl bei ihr sitzen, die, frei von aller Pein, sanft der Ewigkeit entgegenschlummerte.
Bekannte, Freunde und sogar der eigene Vater, alle, alle waren sie fortgezogen von der armen Else! Der Mond schien hell; der Tau perlte; der Morgen graute; neben ihrem Grabe saß aber noch immer schmerzerfüllt der getreue David. – –