Balduin Möllhausen
Die Hyänen des Kapitals
Balduin Möllhausen

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Zwölftes Kapitel.

In der Schatzkammer und unter dem Strohdache.

Meredith hatte ihren Nachbar, den armen Maller, fast sinnlos vor Freude über den glücklichen Wechsel seiner äußeren Verhältnisse gesehen; und einige Tage später war sie Zeuge seiner Verzweiflung und endlosen Selbstvorwürfe.

Hausse und Baisse! Wie das Zünglein schwankt! Wie die Schalen abwechselnd hinauf- und hinunterschnellen! Bald langsam, bald in heftigen Stößen, je nachdem die Spekulation, wie der den Käse teilende Affe in der Fabel, bald diese, bald jene Schale, um das Gleichgewicht herzustellen, erleichtert und das für überflüssig Befundene in den eigenen Rachen schiebt!

Hausse und Baisse! Hohe Dividenden und Zahlungseinstellungen! Ungetreue Buchhalter und prassende Direktoren! Hei! Wie die Hyänen ihre Zähne wetzen, um, nachdem der eine Jagdgrund rein gefegt worden ist, auf einem andern Felde mit erneuten Kräften ans Werk zu gehen! –

Die gute, ehrliche Meredith, was wußte sie von solchen Dingen, als sie sich auf den Weg begab, um an der eigentlichen Quelle Beruhigung für den verzweifelnden Maller und nebenbei für sich selbst zu schöpfen? Wo aber hätte sie eine richtigere Quelle gefunden, als gerade in den Räumen der Zentrifugalbank selber, in dieser Schatzkammer schnellwachsenden Reichtums? Sollten die beiden Direktoren doch freundlich entgegenkommende Leute sein, die niemand ohne heiteren Trost entließen, geschweige denn eine einzelne Dame, die vorzugsweise die Besorgnis um andere trieb.

So dachte Meredith, als sie den Zutritt zu den Geschäftsräumen der Zentrifugalbank erzwang und ihre Blicke nach allen Richtungen verstörten Physiognomien und angstvoll starrenden Augen begegneten. Langsam mit dem Strome schwimmend, erreichte sie endlich die Kassenhalle. Nur wenig Geld wurde daselbst ausgezahlt, dies dafür aber um so bereitwilliger; denn nur wenige verstanden sich dazu, den Verlust der Hälfte ihres dort angelegten Geldes durch Verkauf gleichsam zu quittieren. Meredith sah verständnislos über das geschäftige Treiben hin. Dabei fielen ihre Blicke auf die seitwärts stehenden Direktoren, und ihr war als wenn die kalte Hand des Todes sich auf ihr Herz legte.

Sie hatte Spark erkannt, und vergessen war alles, was sie in der Bank gewollt hatte. Gesenkten Hauptes schlich sie auf die Straße hinaus und ihrer Wohnung zu.

»Wäre sein Körper zu Asche und Schlacken verbrannt, wie seine Seele, ich würde seine Nähe gefühlt haben!« flüsterte sie im Weitergehen. »O, mein Gott, warum ließ ich mich zu diesem unglückseligen Schritte verleiten? Der Elende, jetzt weiß ich, daß alles – alles verloren ist! Unwiederbringlich verloren! Daß er mich beraubte, ich klage nicht darüber; aber meine arme Esther, der arme Maller und alle die Menschen, die sich heute noch zu ihm drängen! Und ich darf nicht sprechen, muß seine Mitschuldige werden durch mein Schweigen.«

In ihrer Wohnung angelangt riegelte sie alle Türen fest hinter sich zu, auch die Fenster verhing sie. Sie fürchtete, daß Maller kommen konnte, fürchtete den Anblick seiner Verzweiflung. Und er kam in der Tat, als der Abend bereits heimlich durch die Straßen schlich, und enttäuscht mit kummervoller Haltung entfernte er sich wieder, nachdem er vergeblich Einlaß begehrt hatte. In der Hand trug er ein Zeitungsblatt. Den letzten Tagesschimmer benutzte er dazu, während des Gehens noch einmal den Bericht zu lesen, den er bereits auswendig kannte.

»In Aktien der Allgemeinen deutschen Zentrifugalbank für transatlantische Kolonisation und Missionswesen äußerst lebhafter Verkehr bei schwankenden Kursen,« hieß die betreffende Stelle. »Mancherlei Gerüchte jagen sich im Publikum, ohne daß eine wirklich klare Veranlassung dazu vorläge. Beim Schlusse der Börse wurden sie zu dreißig gehandelt und gefragt. Man setzt voraus – und wohl nicht mit Unrecht –, daß selbst bei einer Zahlungseinstellung die Landbesitztitel den obengenannten Wert von dreißig Talern noch weit übersteigen. Der Generalbevollmächtigte für die Kolonien begibt sich in den nächsten Tagen auf seinen Posten zurück, um neue Ländereien anzukaufen. Einen größeren Andrang von Europamüden betrachtet man als die nächste Folge des geheimnisvollen Heruntergehens der Aktien.«

»Wo soll das enden, wo soll das enden?« ächzte Maller leise.

Lange wandelte er vor seiner Wohnung auf und ab. Ihm war, als hätte er ein Verbrechen begangen, als hätte er die Blicke der Seinigen nicht mehr zu ertragen vermocht. –

Während Meredith auf solche Weise von einer Sorge in die andere hineingejagt wurde, während Maller, schier verzweifelnd, zur Arbeit kaum noch seine Gedanken zu sammeln vermochte, selbst Gerhard den gesunkenen Wert der Aktien zum Gegenstand seiner Unterhaltung mit Esther wählte, diese dagegen zu seinem Verdruß alle Geldgeschäfte nach dem Monde hinaufwünschte, zogen Schwärmer und Maßlieb von Dorf zu Dorf, von Haus zu Haus, durch Spiel und Gesang alle Menschen erfreuend, deren Herzen und Hände öffnend, und wo sie zu der entsprechenden Zeit erschienen, da fanden sie einen Platz am Tisch, ein Winkelchen, ihre müden Glieder eine Nacht zu beherbergen.

Der Abend war hereingebrochen und traulich saßen die beiden Gefährten im strohgedeckten Hause eines Büdners vor dem lodernden Herdfeuer, über dem in einem an schwerer Kette niederhängenden Kessel das Mahl für alle Hausbewohner brodelte. Herr wie Gesinde, Mutter wie Kinder, alle hatten sich um sie gereiht und aufmerksam den Melodien und Akkorden gelauscht, die Schwärmer mit großer Gewandheit seinem Instrument entlockte. Die alte Schauspielernatur war wieder erwacht. Die tiefe Stille ringsum, das auf allen Gesichtern ausgeprägte Erstaunen über seine Kunstfertigkeit versetzten ihn in jene Tage zurück, in denen er als verkanntes Genie über die Kurzsichtigkeit und Ungerechtigkeit der Menschen trauerte. Mehr und mehr erwärmte sich das alte Herz. Das Strohdach über ihm wurde zum vergoldeten Plafond, das Herdfeuer zum strahlenden Kronleuchter. Die rußigen Kaminmauern verwandelten sich in Kulissen, in einen emporgezogenen Vorhang der schwarze Rauchfang. Er spielte nicht mehr um eine elende Mahlzeit für sich und seinen Liebling, nicht mehr um ein Nachtlager für sie beide, sondern um einen Beifall, der über seine augenblickliche Umgebung hinausreichte.

Maßlieb sah unterdessen träumerisch in die Flammen. Sie lächelte wohl, wenn Schwärmer gelegentlich durch Blicke auch um ihren Beifall flehte, allein dieses Lächeln kam aus einem bedrängten Gemüt. Anstatt sie zu erfreuen, erwirkten des greisen Komödianten Anstrengungen ihr Mitleid. Sie bedauerte, ihn mit ersterbender Kraft nach Bewunderung haschen zu sehen, und Scham zog bei dem Gedanken durch ihre Seele, singend um ihr Stücklein Brot vielleicht ähnlich beurteilt zu werden. Was Schwärmer für hinreißend hielt, übte auf sie eine entgegengesetzte Wirkung aus. Sie beneidete die sie umringenden Leute um das Los, im Schweiße des Angesichts ihr Brot zu essen, nichts zu kennen, als schwere Arbeit auf der bescheidenen Heimstätte und gesunden Schlaf auf hartem Lager unter einem Strohdach; sie beneidete sie um die Einfalt, mit der sie Leistungen, wie die ihres greisen Begleiters, als etwas Unerhörtes anstaunten. Sie betrachtete die runden, vor Gesundheit strotzenden Bauernmädchen. Auch sie sangen gewiß oft genug, um sich die Arbeit zu erleichtern, nicht aber um Pfennige oder eine Mahlzeit. Tiefe Schwermut bemächtigte sich ihrer und helle Tränen rollten über ihre Wangen. Des alten Komödianten Finger tanzten dagegen lustig auf den Saiten herum, und atemlos lauschten alt und jung auf die seltsamen spanischen Fandangoweisen und die dazwischen gestreuten glockenreinen Flageolettöne. Niemand achtete darauf, daß auf der Straße ein Wagen hielt und Schritte sich der Haustür näherten.

Ein Bauernbursche lugte herein und schaute ebenso schnell wieder zurück.

»Ja, ja, sie sind es beide,« rief er dienstfertig aus, »der alte Mann und das Mädchen; ich wußte, daß sie hier hineingegangen waren!«

»Gott sei Dank!« antwortete eine rauhe Weiberstimme mit überschwenglichem Ausdruck, »mein Kind, meine Tochter! Ach, welche Freude nach so viel Angst und Kummer!«

Schwärmer hatte beim ersten Ton der ihm fremden Stimme sein Spiel eingestellt und lenkte dadurch, daß er Maßlieb besorgt ansah, auch der übrigen Anwesenden Aufmerksamkeit auf sie hin. Maßlieb saß da, als sei sie plötzlich in Marmor verwandelt worden, so bleich und starr. Leises Zittern lief durch ihre schlanke Gestalt, während ihre Augen ratlos im Kreise schweiften.

Die Karussellmutter war unterdessen hereingestürmt, und zu Maßlieb hineilend, schloß sie die Bestürzte in ihre Arme. »Maßlieb, du böses Herzenskind,« stöhnte sie unter hervorbrechenden Tränen und heftigem Schluchzen, »warum hast du mir das angetan? Warum deine armen Eltern in ein Meer des Kummers und der Sorgen gestürzt? Doch du lebst, du bist gesund, und alles, alles soll verziehen und vergessen sein!«

»Sie ist nicht meine Mutter!« Mehr vermochte Maßlieb in ihrem Entsetzen nicht hervorzubringen.

»Noch immer eigensinnig?« rief die Karussellmutter traurig aus, und neue Küsse regnete es auf Maßliebs Stirn, »hörst du denn nicht, daß alles vergeben und vergessen sein soll? Siehst du nicht, wie alle die guten Leute hier erstaunen, daß solch junges Mädchen die Liebe seiner Eltern verleugnet? O, Maßlieb, möge Gott dir den Gram, den du uns bereitetest, verzeihen, wie deine Eltern ihn dir bereits verziehen haben! Seit du dich heimlich entferntest, ist kein Schlaf in meine Augen gekommen!«

Neues Schluchzen erstickte ihre Stimme. Diese Pause benutzte der Admiral, näher zu treten, sichtbar gerührt Schwärmers Hand zu ergreifen und tief bewegt ihm zu danken für den Schutz, den er seiner Tochter habe angedeihen lassen.

»Tochter nennen Sie das Kind,« stammelte der so barsch aus seinem Kunsthimmel gestoßene Komödiant befangen, »ich glaube Ursache zu haben, zu bezweifeln, daß ein wirkliches Recht Ihnen –«

»O, du böses Maßliebchen,« tadelte der Admiral liebevoll. »Du böses Maßliebchen! Was sollen die braven Leute denken, wenn du sogar in ihrer Gegenwart die Wahrheit entstellst –«

»Sie sind nicht meine Eltern!« rief Maßlieb, ihren ganzen Mut zusammenraffend, aus, und ihre Hände flehentlich den Bauersleuten entgegenstreckend, »wären sie es, könnten sie mich nicht so peinigen.«

»O, du ungeratenes Kind,« sprach jetzt der Admiral mit väterlicher Strenge, die gänzlich Verwirrte der Tür zuziehend, wie schlecht lohnst du unsere Güte. Aber in der Freude des Wiedersehens soll dir alles verziehen sein. Komme jetzt nur. Gute Nacht, Ihr lieben Leute!« rief er zurück, »Gottes Segen über Euch alle!« Die Karussellmutter folgte ihm auf dem Fuße, und gleich darauf fiel die Haustür hinter den Scheidenden zu.

Maßlieb war vor Entsetzen völlig willenlos geworden. Und als sie wieder zusammenhängend zu denken vermochte, da saß sie auf einem offenen Bankwagen zwischen den beiden Karusselleltern. Sie wollte um Hilfe rufen; doch neues Entsetzen packte sie: der Mann auf dem Kutschersitz war der Kettenvogt. Sie erkannte ihn an seinem schadenfrohen Lachen, an seiner Stimme, als er höhnisch fragte, ob der Vogel willig ins Netz gegangen sei. – –

 


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