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Die Altertümlerin.
In einer Vorstadt der Metropole, aber in einer Gegend, die bereits in den lebhafteren Weltverkehr hineingezogen wurde, liegt ein Haus, das vor einer noch nicht allzu langen Reihe von Jahren einem begüterten Patrizier als ländlicher Sommersitz diente. Der ursprünglich dazugehörende Grund und Boden ist indessen im Laufe der Zeit bis auf einen Garten von der Größe eines Morgens beschränkt worden. Das Haus selber ist einstöckig und schwer gebaut. Neugierig schauen oft die Vorübergehenden nach dem stillen, grauen Gebäude hinüber; manche lesen auch, so oft ihr Weg sie dort vorbeiführt, gewohnheitsmäßig immer wieder den an dem einen Torpfeiler auf einem großen Porzellanschilde auffällig prangenden Namen Kabul.
Ob dieses »Kabul« eine männliche oder weibliche Person bezeichnet, wissen die wenigsten Menschen. Noch weniger ahnt jemand, daß seine auffallende Größe und Deutlichkeit den Zweck hat, jedem vom Zufall dort vorbeigeführten Kabul und jede Kabulin anzulocken, damit die Stammesgenossenschaft festgestellt und erörtert werden könne. –
So grau und verwittert das Haus äußerlich wirkte, so seltsam war seine innere Einrichtung. Sogar die Klingel war von ganz anderer Art, als ihr sonst eigentümlich ist. Wo bei gewöhnlichen Menschenkindern ein ausdrucksloser Klöppel gegen die großmäulige Glocke schmettert, da wurde bei Meredith Kabuls Klingel durch eine sinnige Vorrichtung das Visier eines mittelalterlichen Turnierhelms emporgeschlagen, um es sogleich wieder leise klirrend in seine alte Lage zurücksinken zu lassen. Das Bildnis eines schlachtgewohnten Ritters war dadurch vervollständigt, daß innerhalb des Helms eine lebensfrisch gemalte Gesichtslarve angebracht war, der nur die Augäpfel fehlten. Der Helm selbst lag auf einer Konsole oberhalb des Arbeitstisches, der die ganze Breite der Spiegelwand zwischen den beiden großen Fenstern ausfüllte. Außerdem waren alle Wandflächen übersät mit Waffen aus allen Jahrhunderten, selbst mit steinernen und stählernen Äxten. Dazwischen hingen verrostete Arm- und Beinschienen, Harnische, Kettenpanzer, Sporen, sogar unförmliche Hufeisen, kurz, lauter Gegenstände, die der Besitzerin Vorliebe für das Altertum bekundeten und augenscheinlich nicht ohne Mühe und erhebliche Kosten aus allen Windrichtungen zusammengetragen worden waren. Altertümliche eichene Stühle mit hohen, steilen Lehnen, eine lange, auf Kreuzfüßen ruhende eichene Tischplatte und eine breite, dieser entsprechende Bank bildeten außer dem Schreibtisch und den schwergeschnitzten Rokokoschränken die Möbeleinrichtung. Auf der Erde lagen statt der Teppiche Wolfs- und Bärenpelze, hin und wieder auch ein Stoß in Pergament gebundener Bücher und Mappen mit alten Kupferstichen und Handzeichnungen. Eine blau verschleierte Lampe überströmte den Schreibtisch und die auf demselben durcheinandergeworfenen hunderterlei Gegenstände mit grellem, aber ruhigem Licht, wogegen sie in dem übrigen Raum nur eine Art Dämmerung erzeugte. Eine geeignetere Beleuchtung hätte zu der wunderlichen Umgebung kaum erdacht werden können, nicht minder zu Meredith Kabul selber, die vor dem Schreibtisch saß und, das Haupt auf die eine Hand gestützt, eifrig in einem vergilbten Folianten las. Ihr Antlitz hatte sich in den fünf Jahren, die seit ihrem Besuch in dem Hause der verstorbenen Frau Doktor Kabel verstrichen waren, wenig verändert. Nur etwas schärfer mochten ihre Züge geworden sein, und etwas dünner das hellbraune Haar, das zu beiden Seiten hinter die Ohren gestrichen, nach alter Weise auf ihre Schultern niederfiel.
»Auch ein Kapul, genannt Kaplik, fiel bei sotanem Scharmuzieren, nachdem er gekämpfet und gestochen mit dem Mute, so eines frummen Landsknechtes wert gewesen« – las sie laut. Dann sich aufrichtend, nahm sie einen seitwärts liegenden eisernen Handschuh, und ihn in den Schein der Lampe haltend, prüfte sie ihn aufmerksam.
»Hier ist ein K.,« offenbarte sie gewohnheitsmäßig ihre Gedanken; »nun aber erhebt sich die Frage, ob dies das Zeichen des Waffenschmiedes ist, oder des Mannes, für den er die Wehr anfertigte.«
Mißmutig warf sie die Reliquie vor sich auf den Tisch.
»Ich werde nie Klarheit in diesen Zeitabschnitt bringen,« fuhr sie ernst fort, »und doch gewinne ich's nicht über mich, die Lücke fortbestehen zu lassen. Eine Lücke von hundert Jahren; von dem Landsknecht bis zu meinem Urgroßvater.«
Wie um ihren Geist anderen und sie weniger peinigenden Dingen zuzuwenden, nahm sie einen Strauß Astern aus einem vor ihr stehenden Glase. Ein Weilchen betrachtete sie die farbenreichen Blumen sinnend, dabei prägte sich eine eigentümliche Milde auf ihren sonst wenig veränderlichen Zügen aus.
»Schade um das Kind,« nahm sie ihr Selbstgespräch wieder auf, »nicht die leiseste Neigung ihrer Vorfahren ist auf sie übergegangen. Ich könnte irre an ihr werden, zeugten nicht andere lobenswerten Eigenschaften für die Verwandtschaft –«
Das Visier des Helms schob sich empor. Die Larve sandte einen unheimlichen Blick aus ihren hohlen Augen in das Gemach hinein und klirrend fiel das Visier wieder herunter.
Meredith ersah aus dieser Bewegung, daß jemand von der Straße aus durch die Pforte in den Garten eingetreten war. Der mit der Tür selbst vereinigte Mechanismus hatte gespielt, nicht der des Glockenzuges.
»Ein mit der Hauseinrichtung Vertrauter,« lispelte die Altertümlerin, indem sie die Astern in das Glas zurückstellte. »Für Esther ist es noch zu früh,« fügte sie mit einem flüchtigen Blick auf die große Wanduhr hinzu.
Hastige Schritte näherten sich und gleich darauf klopfte es an die Haustür.
Meredith ergriff die Lampe, begab sich nach der Flurseite des Zimmers hinüber und trat auf eine Feder. Die Haustür sprang auf, und bevor noch der Einlaßbegehrende die Schwelle überschritten hatte, leuchtete sie auf den Flur hinaus. Kaum aber gewahrte sie ein paar ihr zugekehrter dunkler Brillengläser, als die Lampe ihr zu entfallen drohte und sie gezwungen war, sich an den Türpfosten zu lehnen. Keinen Laut vermochte sie hervorzubringen; aber die Lippen preßte sie krampfhaft zusammen, wie einen namenlosen Schmerz bekämpfend.
Der Fremde verschloß unterdessen behutsam die Haustür, worauf er mit zuversichtlichem, an Unverschämtheit grenzenden Wesen der ihm vorausschwankenden Meredith in das Zimmer hinein folgte. Dort warf er sich auf die rohrgeflochtene Bank; flüchtig ließ er seine Blicke an den seltsam geschmückten Wänden hinschweifen, und dann erst kehrte er sich Meredith zu, die die Lampe vor ihn auf den Tisch gestellt hatte und wie versteinert seinen ersten Kundgebungen entgegensah.
»Immer noch die alte kostspielige Liebhaberei, oder vielmehr Narrheit,« bemerkte er endlich mit demselben hämischen Ausdruck, mit dem er vor etwa drei Stunden dem Karussellvater in seinem Gespräch auf der Landstraße begegnet war. »Dabei nicht übel, verdammt! Selbst mich könnte solche Umgebung fesseln.«
Er warf die ihm offenbar nicht unentbehrliche Brille auf den Tisch, und seine großen Augen fester auf die todbleiche Meredith gerichtet, fuhr er fort: »Vergeblich sehe ich dem ersten Zeichen eines freundlichen Willkomms entgegen.«
»Eher hätte ich den Tod erwartet, freudiger mein Ende willkommen geheißen,« antwortete Meredith fast tonlos.
»Nun, das klingt im allgemeinen wenig freundschaftlich,« spöttelte der Fremde, »hindert uns aber nicht, miteinander in geschäftlichen Verkehr zu treten.«
»Was beschworst du, als du zum letztenmal meine Einsamkeit störtest?« fragte Meredith gefaßter.
»Pah, Not bricht Eisen!« höhnte der Fremde, »du weißt, ich hätte Schlimmeres tun können, als noch einmal heimlich meine Zuflucht zu deiner Großmut nehmen.«
»So hättest du wenigstens einen anderen Zeitpunkt zu diesem vergeblichen Schritt wählen sollen,« erwiderte Meredith mit einem Blick der Besorgnis und des Abscheues. »In jeder Minute kann Esther eintreffen, und ich dächte, es wäre genug, wenn mein Leben allein verbittert wird.«
Der Fremde lachte feindselig.
»Kümmert das Mädchen mich etwa?« herrschte er sie an, »es wäre überhaupt gescheiter gewesen, wenn du es da ließest, wo es zu Hause gehört –«
»Sie ist eine Kabul,« raffte Meredith sich empor.
»Kabul hin, Kabul her,« höhnte der Fremde wiederum, »mag sie immerhin kommen; das Haus ist geräumig genug, mich zu beherbergen, ohne daß ich mit ihr zusammenzutreffen brauche.«
»Nimmermehr!« rief Meredith mit ersterbender Stimme aus; »eine Nacht mit dir unter demselben Dache? Lieber lege ich Feuer an die eigene Heimstätte, um als Bettlerin –«
»Nun, nun, bis zur Bettlerin ist noch eine ziemliche Strecke,« fiel der Fremde ein. »Mit dir steht es wahrlich nicht mißlich und das wirst du alsbald beweisen, indem du durch Vorschießen einer mäßigen Summe mir den Aufenthalt in der Hauptstadt auf kurze Zeit erleichterst. Mit achtunggebietender Offenheit räume ich ein, daß ich vollständig mittellos bin und die Not mich treibt.«
Entsetzt starrte Meredith auf ihren Gast.
»Ich verfüge kaum über die zum täglichen Bedarf notwendigen Mittel,« bemerkte sie.
»Kein Wunder,« hieß es sorglos zurück, und nachlässig wies die wohlgepflegte Hand im Kreise herum, »kein Wunder, wenn du deiner sinnlosen Neigung zum Trödlerleben fröhnend, alles hingibst, um dich in ein tolles Gewirr verrosteter, verschimmelter und vermoderter Scharteken zu vergraben.«
»Ich brauche niemand Rechenschaft über mein Tun und Lassen abzulegen,« versetzte Meredith lebhafter, »dir nicht, noch einem anderen Menschen.«
»Zugegeben,« lachte der Fremde, »auch will ich glauben, daß du augenblicklich nicht sonderlich bei Kasse bist. Andererseits aber kannst du nicht bestreiten, daß du im Besitz von Wertpapieren bist, die zu jeder Stunde mit Leichtigkeit umzusetzen sind.«
»Ich darf mich ihrer nicht entäußern,« seufzte Meredith, »ich würde die Hälfte meines Vermögens verlieren.«
»Nun, das will ich gern verhüten,« erwiderte höhnisch der unheimliche Gast. »Gib mir nur einige deiner Aktien. Wenn ich sie realisiere, trifft der Verlust nicht deine Person, sondern mich.«
»Aus dir spricht die Hölle,« rief Meredith zagend aus, »es kann dein Ernst nicht sein, die Gewalt, die ein unseliges Geschick dir über mich einräumte, in solcher Weise mißbrauchen zu wollen.«
»Wie heißen deine Papiere?« forschte der Fremde lauernd, statt eine Erwiderung auf Merediths Klage.
»Aktien der deutschen Zentrifugalbank für transatlantische Kolonisation,« antwortete Meredith bereitwillig.
In dem Gesicht des Fremden leuchtete heller Triumph auf.
»Deutsche Zentralbank für Kolonisation,« wiederholte er langsam, »bei Gott, Meredith, das ist ein gutes Zeichen; kein anderes Papier wäre mir willkommener gewesen!«
»So hältst du diese Kapitalsanlage für verständig und sicher?« fuhr Meredith erregt fort, und sie schien zu vergessen, daß vor einer Minute noch sie ihr Leben hätte hingeben mögen, den vor ihr Sitzenden zu den Verschollenen rechnen zu dürfen.
»Sehr verständig, sehr sicher,« bestätigte dieser, indem er sich über den Tisch neigte und mit der blauen Brille zu spielen begann, »du hättest in der Tat nichts Vorteilhafteres kaufen können, und kauftest du heute noch doppelt so viel, würde es dich nie gereuen.«
»Und doch sind diese Aktien in jüngster Zeit bis unter die Hälfte ihres ursprünglichen Wertes gesunken,« bemerkte Meredith besorgt.
»Künstlich, alles künstlich gemacht,« erklärte der Fremde, »die Aktien werden durch Scheinverkäufe tief herabgedrückt, um ängstlichen Gemütern von der ihnen Unruhe bereitenden Ware, und zwar zum niedrigsten Preise zu verhelfen.«
Meredith seufzte erleichtert.
»Dann wäre es nicht ratsam, sich ihrer zu entäußern?«
»Nimmermehr!« riet der unwillkommene Gast mit seltsamem Eifer, »denn erstens sichern die Aktien der Zentrifugalbank einen außerordentlich hohen Zinsfuß, außerdem aber ist jede Aktie von einem Besitztitel über zehn Morgen Land im südlichsten Teil der Vereinigten Staaten von Nordamerika begleitet –«
»Zwölf Morgen,« verbesserte Meredith in ihrer freudigen Erregung zuvorkommend.
»Also zwölf Morgen,« wiederholte ihr Gast mit einem bezeichnenden Lächeln, »oder vielmehr zwölf Akres, die nach Ablauf weniger Jahre und nachdem die Kolonien an Umfang gewonnen haben, mindestens den zweihundertfachen Wert erreichen und von denjenigen, die, den vollen Wert ihrer Aktie ausnutzend, sich drüben ansiedelten, mit wahrem Heißhunger aufgekauft werden. Bei Gott, Meredith, ich wüßte in der Tat nicht, ob ich die Aktien selber, oder die ihnen beigefügten Landbesitztitel höher schätzen sollte!« und wiederum lächelte er geheimnisvoll vor sich hin.
»Gott sei Dank,« flüsterte Meredith, »du bestätigst freilich nur, was ich auch anderweitig erfuhr.«
»Und ich bestätige es doppelt durch die Tat, indem ich mich bereit erkläre, auf der Stelle vier dieser Aktien zu ihrem vollen Nennwert anzunehmen,« fiel der Fremde heiter ein, die beinah undurchsichtige Brille wieder aufsetzend.
Meredith fuhr empor, sie gehörte der Gegenwart wieder an.
»Wie lange sollen diese Martern noch dauern?« sprach sie mit bebenden Lippen, »ist die Welt nicht groß genug, daß du auf einer andern Stätte ein Feld für deine zweifelhafte Tätigkeit fändest? Muß ich immer und immer wieder das Opfer sein? Wo soll das enden –«
»Beruhige dich,« unterbrach der Fremde, »die Forderung, die ich heute an dich stelle, soll meine letzte sein. Zu deinem Troste will ich dir anvertrauen, daß es in meiner Absicht liegt, binnen wenigen Tagen spurlos von hier zu verschwinden, so daß nichts dich hindert, mich zu den Toten und Verschollenen zu zählen. Um dies aber auszuführen, bedarf ich des Geldes. Meine Gasthofsrechnung ist zu einer namhaften Höhe angewachsen: meine Ausrüstung muß ergänzt werden, und aus Gefälligkeit setzt mich niemand über einen elenden Mühlbach, geschweige denn über ein Weltmeer.«
»Wer bürgt mir dafür, daß ich nicht wieder von dir belästigt werde?« fragte Meredith, vollständig mutlos; »du hintergingst mich bisher jedesmal.«
»Mein heiliges Ehrenwort, ist es nicht Bürgschaft genug?« erwiderte der Fremde, »auch ich sehne mich endlich nach Ruhe, und mit einigen Aktien oder vielmehr Landbesitztiteln der deutschen Zentralbank für Kolonisation –«
Ein leises Geräusch lenkte seinen Blick nach der Spiegelwand hinauf, und das Wort erstarb ihm auf den Lippen, als er gewahrte, daß das Helmvisier, wie von Geisterhand gehoben, von der hohläugigen Larve fortglitt und, ihn gleichsam warnend, klirrend wieder zurücksank.
Meredith erhob sich schnell.
»Fort!« rief sie mit unverkennbarer Angst aus, »fort, auf daß keine andern Augen dich bei mir sehen – Esther –« sie verstummte. Das Visier hatte sich zum zweitenmal gehoben. Nicht Esther war in den Garten getreten, sondern eine unkundige Hand hatte ungestüm die vermeintliche Glocke gezogen. Merediths Angst wurde indessen dadurch noch gesteigert.
»Man sucht dich,« flüsterte sie kaum verständlich, »fort, um Gotteswillen, bevor es zu spät ist!«
»Mögen sie mich immerhin finden,« versetzte der Fremde trotzig, »hier stehe ich, und nicht eher weiche ich von dannen, als bis du mir die Mittel zur Flucht einhändigest.«
Meredith verharrte einige Sekunden sprachlos. Ihr Antlitz bedeckte Leichenfarbe.
Da rührte sich das Visier zum dritten Male. Zittern durchlief ihre Gestalt. Dann eilte sie nach ihrem Schreibtisch, und hastig ein Fach öffnend, zog sie vier große, seltsam mit Zahlen, Wappen und wunderlich geschweiften Buchstaben bedruckte Bogen hervor.
»Nimm lieber einen mehr,« riet der unheimliche Gast, der in dem Eintreffen von Zeugen statt der Gefahr eine sichere Förderung seiner Pläne erblickte.
Meredith zögerte. Zum vierten Male klirrte der Helm, und in des unberufenen Eindringlings Händen befanden sich fünf Aktien mit dem verlockenden Titel: »Allgemeine deutsche Zentrifugalbank für transatlantische Kolonisation.«
Willig folgte er ihr nunmehr durch die Hintertür des Hauses in den Garten hinaus. Dort öffnete sie ein Mauerpförtchen, durch das er in einen schmalen, zwischen der Gartenmauer und dem Nachbarhause hinführenden Gang gelangte. Gleich darauf hatte Meredith die Pforte hinter ihm geschlossen, und in der nächsten Minute stand sie in der geöffneten Haustür, nach der Straße hinüberfragend, wer Einlaß begehre.
»Erwarten Sie ein junges Mädchen?« rief eine rauhe Stimme in befehlendem Tone.
»Freilich erwarte ich ein solches,« antwortete Meredith verdrossen und mit neuer Besorgnis, denn sie dachte an Esther.
»So öffnen Sie gefälligst,« lautete es höflicher.
»Ziehen Sie an dem Knopfe unterhalb des Schildes,« rief Meredith befremdet.
Klirrend öffnete sich die Gittertür, und mit ähnlichem Geräusch fiel sie ins Schloß zurück.
»Ein andermal gebärde dich nicht, als ob du aus dem Gefängnis entsprungen wärest,« rief die tiefe Männerstimme. Er aber, der einen solchen Rat erteilte, hatte wohl ein Recht, so zu sprechen; denn er zählte zu den Wächtern der öffentlichen Sicherheit, und als solchem mußte es ihm doppelt auffallen, wenn ein dürftig und verdächtig gekleidetes Mädchen, scheu allen Menschen ausweichend, über die Straße schlüpfte, vor seiner barschen Stimme endlich beinahe in die Knie brach und in sichtbarer Verzweiflung nach dem nächsten Glockenzuge griff. Und wenn die verdächtige Erscheinung noch Worte gefunden hätte! Aber sie wußte weiter nichts, als schluchzend zu wiederholen: »Ich will hier hinein – ich muß in das Haus dort – man wartet auf mich!« Und ein gutmütiger Polizist war es obenein, daß er sich begnügte, zu fragen, ob man wirklich ein junges Mädchen erwarte, anstatt die verdächtige Person gleich mitzunehmen und sich näher nach ihren Verhältnissen zu erkundigen.
Meredith war, Esther hinter sich vermutend, in das offene Zimmer getreten. Aber wie erschrak sie, als sie statt der Erwarteten eine fremde Gestalt mit fliegendem Lockenhaar und flatternden Gewändern sah, dazu ein todbleiches Antlitz mit großen, in ersterbendem Feuer glühenden Augen. Noch ehe sie sich von ihrem Befremden erholt hatte, fühlte sie ihre Knie von Armen umschlungen, die sich nie wieder öffnen zu wollen schienen.
»Erbarmen,« seufzte Maßlieb, auf dem Gipfel ihrer Todesangst kaum verständlich, »ich bin entflohen, ich ertrug es nicht länger! Stoßen Sie mich nicht von sich! Auf der Straße sind schreckliche Menschen! Sie haben mich verfolgt und geängstigt, daß ich glaubte sterben zu müssen; in meiner Verzweiflung klammerte ich mich an den nächsten Klingelzug fest – ich wußte nicht, was ich tat – hier bin ich – helfen Sie – erbarmen Sie sich meiner –« sie konnte nicht weiter, die Stimme versagte ihr, ihre Tränen stockten; nur noch zu schluchzen vermochte sie, während ihre Blicke mit dem Ausdruck tödlicher Spannung starr an den ernst verschlossenen Zügen Merediths hingen. Von der sorglosen Genossin des heruntergekommenen, leichtfertigen Korpsburschen, von der trotzigen Tochter eines verruchten Ehepaares, von der kühnen Abenteuerin, die sich rühmte, im ersten Anlaufe Karossen und Pferde, Perlen und Edelsteine gewinnen zu können, war nichts geblieben, als die geängstigte, in namenlosem Entsetzen und in dem Bewußtsein ihrer gänzlichen Hilflosigkeit in sich zusammenschauernde Unschuld. Stunden waren erst verstrichen, seit sie die Fesseln einer heillosen Tyrannei gewaltsam brach, und diese kurze Frist hatte genügt, sie um die bitterste aller Erfahrungen zu bereichern, daß jeder in der Schutzlosen eine unehrliche Landstreicherin erblickte, jeder glaubte, nur die Hand ausstrecken zu dürfen, um die gerade ihrer Schutzlosigkeit halber doppelt verlockende Frucht in seinen Schoß fallen zu sehen.
Ihre Pulse flogen fieberisch, schmerzlich entwand sich der Atem ihrer gepreßten Brust. Sie meinte über einem mit furchtbaren Ungeheuern angefüllten Abgrunde zu schweben, vergeblich tastete sie nach einem rettenden Halt, vergeblich erhob sie ihre trostlosen Blicke zum nächtlich erleuchteten Firmament.
So vieler Angst und solchem Zutrauen gegenüber, vermochte Meredith nicht fühllos zu bleiben. Wohl eine Minute stand sie regungslos, dann sich von der festen Umschlingung Maßliebs sanft befreiend, fragte sie mit herzerwärmender Milde:
»Wer sind deine Eltern, du armes Kind?«
Bei diesen Worten durchlief heftiges Zittern Maßliebs Gestalt, das Wort: Landstreicherin tönte in ihr wieder.
»Ich besitze keine Eltern, lernte sie nie kennen,« antwortete sie.
»Wer sind denn die Leute, bei denen du bisher weiltest und die für dich sorgten?« forschte Meredith weiter.
»Jetzt nicht, nein – ach, ich kann es nicht sagen,« flehte Maßlieb mit brechender Stimme, und furchtsam wich sie den auf sie gerichteten ruhigen Augen aus, »ich bin so unglücklich, so verlassen – o, beschützen Sie mich! Nur diese Nacht und einen Tag gönnen Sie mir unter Ihrem Dache, dann will ich gern weiterziehen!«
»Steh auf, Kind, und vor allen Dingen fasse dich,« versetzte Meredith, das zitternde Mädchen mit sanfter Gewalt emporziehend, »denn in diesen Räumen bist du sicher. Niemand hat ein Recht, seine Forschungen nach dir bis hierher auszudehnen. Und bleiben magst du so lange, bis du freiwillig zu denjenigen zurückkehrst, die dir vielleicht näherstehen. Auch mit Fragen sollst du nicht belästigt werden; denn ich sehe, du bist guter, gesitteter Leute Kind, und wenn Unglück dich mit einer ärmlichen Hülle umgab, darf dir das nicht zur Last gelegt werden. Aber deinen Namen sagst du mir gewiß gern?«
Flammende Glut schoß in Maßliebs Antlitz, und wiederum senkte sie die Augen vor den auf ihr ruhenden ernsten Blicken. Es widerstrebte ihr, vor der gütigen, teilnahmvollen Fremden die Wahrheit zu entstellen, und doch wäre sie lieber gestorben, als daß sie den Namen der Karusselleltern genannt und als ihren eigenen bezeichnet hätte. Nur wenige Sekunden dauerte dieser Kampf; dann sah sie wieder flehentlich zu Meredith empor, die ihr Zögern sichtbar befremdete, und »Maßlieb Kappel« entwand es sich kaum verständlich ihren Lippen.
»Kappel?« rief Meredith erstaunt aus, indem sie, wie entsetzt, einen Schritt zurückwich, »Kappel? Höre ich recht? Kappel?«
Maßlieb vermochte nur zustimmend das Haupt zu neigen.
»Maßlieb Kappel, oder vielmehr Maßlieb Kabul,« hob Meredith nunmehr feierlich an, denn durch das Unerwartete dieser neuen Wendung war ihre Phantasie doppelt lebhaft angeregt worden, »du konntest freilich nicht ahnen, daß deine Vorfahren die Orthographie ihres Namens leichtfertig behandelten, daß sie das sanfte spanische oder vielmehr maurische Kabul in das häßliche, scharfe deutsche Kappel entstellten. Nein, du bist schuldlos an diesem Frevel.« Dann segnend ihre Hände über die bestürzt zu ihr Aufschauende ausstreckend, sprach sie: »Maßlieb Kabul, sei mir tausendmal willkommen mit deinen dunklen Augen, mit deinem schwarzen Lockenhaar, diesen Andenken an die sonnige Wiege unseres Geschlechtes, diesen trauten Sendboten von den Ufern des Guadalquivir und des Ebro. Sei mir willkommen in deiner Verlassenheit, in deiner Not; denn du bist – ich ahne es – dazu bestimmt, eine Lücke in der Geschichte unseres gemeinsamen Stammes auszufüllen. Maßlieb Kabul, du, in deren Erscheinung die Repräsentanten ferner Zonen und entschwundener Jahrhunderte noch einmal neues Leben gewannen, sei mir herzlich willkommen, willkommen als eine wahre, als eine unverfälschte Kabul!«
Eine halbe Stunde war kaum verstrichen, da saß Maßlieb, sorgfältig gekleidet in einen von Esthers zierlichen Hausanzügen, vor der langen, eichenen Tafel ihrer Beschützerin gegenüber. Zwischen ihnen über einer Spiritusflamme sang ein altertümlicher Teekessel seine eintönige und doch so anheimelnde Melodie. Tassen und Teller, jedoch nicht zwei, die zusammengehörten, reihten sich in bunter Auswahl um die Maschine. Jedes einzelne Stück, gleichviel ob Porzellan oder Metall, war anders bemalt, graviert und gestempelt, und von jedem wußte Meredith eine lange Geschichte zu erzählen, von seinem Alter und wie es in ihren Besitz übergegangen war, und vor allem, daß es ohne Zweifel vor Jahrhunderten schon einem Kabul diente. Zwischendurch aber sah sie nach der seltsam geformten Wanduhr, auf deren oberem Teil eine Mühle sich drehte, ein gläserner Wasserfall unablässig sprudelte und von Viertelstunde zu Viertelstunde ein braver Müller in Hemdärmeln nach dem Takt einer im Innern der Uhr geflöteten kurzen Melodie rüstig einige derbe Hiebe nach einer gemalten Holzklobe führte.
»Wo meine Esther Kabul wohl bleiben mag?« fragte sie jedesmal. Dann klapperte sie wieder unter den Tassen und Tellern, immer neue Merkmale entdeckend, die der Erläuterung bedurften.
Maßlieb saß da, als ob sie mit offenen Augen geträumt hätte. Sie konnte nicht an die Wirklichkeit glauben, wagte kaum zu atmen aus Furcht, die behagliche, ihre Sinne verwirrende Umgebung wie einen Hauch um sich her zerrinnen zu sehen.
Die Uhr flötete, der Müller schwang seine Axt.
»Wo die Kabul nur bleiben mag,« bemerkte Meredith mit einem flüchtigen Blick auf den wunderlich geschweiften Zeiger. Dann nahm sie die Kanne, um von dem dampfenden Inhalt in die große Wappentasse mit dem gekitteten Henkel zu gießen, die heute ausnahmsweise für die neue Kabul bestimmt war.
»Wo die Kabul nur bleiben mag?« fragte Meredith mindestens zum zehnten Male. Wäre sie nur auf die Straße hinausgegangen, oder vielmehr vor dem Gittertor stehengeblieben, dann hätte sie von zehn zu zehn Minuten immer wieder Gelegenheit gefunden, sich von dem Wohlergehen der Abwesenden zu überzeugen.
Da spazierten zwei junge Leute Arm in Arm um das Haus herum; das Mädchen, die sehnsüchtig erwartete Esther, von Zeit zu Zeit aufseufzend: »Die arme Tante, was sie wohl denken mag?« Und dann eine Entgegnung von wohlklingender Männerstimme: »Sie denkt nicht, sie poliert Sturmhaube und Fechthandschuh.«
»Übrigens, teuerste Esther,« fuhr dieselbe volltönige Stimme einmal fort, »ich trage mich ernstlich mit dem Gedanken, den gordischen Knoten mit einem einzigen Hiebe zu lösen. Die Tante Kabul ahnt unstreitig, wie die Sachen stehen, und da in ihrem Schweigen wenigstens keine Mißbilligung liegt, so brauchen wir uns nicht zu fürchten. Ist sie aber mit uns einverstanden, dann kümmert's weder den Herrn Bankdirektor, noch die gnädige Frau Bankdirektor, wie oft ich dich nach Hause begleite. Außerdem erreichen die Quälereien ein Ende, denen du beständig ausgesetzt bist.«
»Und die Frau Bankdirektor wird sich beeilen, meine Entlassung auszusprechen,« erwiderte Esther, »und ist das geschehen, was dann?«
»Es wär kein Unglück,« entschied der junge Mann, »du bist überhaupt viel zu schade für die Stellung einer Erzieherin oder Gesellschafterin bei Kindern, deren Eltern in zwei Minuten das wieder verderben, was du in drei Wochen meinst gefördert zu haben. Ich selbst bin Zeuge: die Kinder halten dich geradezu für ihre Dienerin. Es fehlt nur noch, daß du gänzlich zu ihnen übersiedelst.«
»Trotz ihres vorgeschrittenen Alters sind sie eben noch Kinder,« beschönigte Esther mit einer Stimme, aus der helle Gutmütigkeit herauszuhören war.
»Und die Frau Bankdirektor?« fragte der junge Mann ungeduldig, »auf was willst du es zurückführen, wenn sie ihre scharfe Zunge an dir versucht? Ebenfalls auf ihre Kindlichkeit?«
Esther lachte verstohlen. »Auf ihre Kindlichkeit nicht,« bemerkte sie darauf mit solch süßem Vertrauen, daß ihr Begleiter das von der Dunkelheit verschleierte holde Antlitz mit tausend Küssen hätte bedecken mögen, »nein, darauf nicht; wohl aber ist sie zu entschuldigen, weil es schwerlich an ihr selber lag, wenn in frühester Jugend ihr eine umsichtigere Anleitung versagt blieb.«
»Du wärest imstande, den ewigen Juden selber in Schutz zu nehmen, wagte ich einen Angriff auf ihn.«
»Nur Recht lasse ich gern jedem widerfahren,« floß es wunderbar verständig von Esthers frischen Lippen; »würdest du es zum Beispiel ruhig hinnehmen, suchte ich dir deinen Herrn Prinzipal zu verleiden? Wie ich das Brot seiner Frau, so ißt du wieder das seinige; wir sind daher beide abhängig von ihnen und müssen über manches hinwegsehen, was vielleicht nicht ganz mit unseren Neigungen und Wünschen im Einklange steht.«
»Die Verkehrsweise unter Männern ist eine andere,« erwiderte Gerhard mit seiner gewöhnlichen Entschiedenheit, »und schließlich diene ich weniger dem Herrn Bankdirektor, als der Allgemeinen deutschen Zentrifugalbank für transatlantische Kolonisation, bei der ich mit meiner ganzen beweglichen Habe, also runden zweitausendfünfhundert Talern beteiligt bin.«
»Und ich mit meinen zweitausend Talern, Tante Meredith mit ihrem ganzen Vermögen von ungefähr dreißigtausend Talern, und unser Nachbar Maller ebenfalls mit seinem Kapital von runden sechshundert Talern.«
»Vollkommen richtig, teuerste Esther, und durch dieses kluge Verfahren hast du dein Einkommen verdoppelt, wenn's glückt, sogar vervierfacht, ein neuer Grund der Frau Bankdirektor keine zu große Gewalt über dich einzuräumen.«
Gerhard und Esther waren wieder vor dem Gittertor eingetroffen. Bevor letztere aber den zum Öffnen bestimmten Knopf berührte, trat Gerhard vor sie ihn.
»Nur noch ein einziges, letztes Mal den kleinen Umweg,« flehte er.
Jedoch Esther war diesmal unerbittlich, die Pforte öffnete sich unter ihrer kundigen Hand, hastig schlüpfte sie in den Garten hinein, und die Pforte fiel hinter ihr klirrend ins Schloß. Esther aber war dicht an das Gitter getreten, treuherzig spöttelnd dem Geliebten die Hand reichend.
»Auf Wiedersehen bis morgen,« flüsterte sie ihm zu, als er stürmisch ihre Hand an seine Lippen drückte, »nun aber gehe und bessere dich. Und hier« – sie küßte Gerhard zwischen zwei eiserne Gitterstangen hindurch – »das gebe ich dir mit auf den Weg, damit du recht lebhaft von mir träumst.«
Dann schritt sie auf dem gewundenen Wege dem Hause zu.
Als sie die Tür zu Merediths Zimmer öffnete, blieb sie überrascht stehen beim Anblick des bleichen Mädchens, deren Augen befangen an ihrem Gesichte hingen.
Dann erhob Maßlieb sich schüchtern und trat Esther näher. Deren Anblick schien allmählich ermutigend auf sie zu wirken. Was ihr bisher in ihrer Umgebung unheimlich und beängstigend erschienen war, das erhielt durch Esthers Erscheinen einen freundlich anheimelnden Charakter, indem es sie aus wirren Träumen in eine tröstliche Wirklichkeit versetzte.
»Eine Kabul,« stellte Meredith ihren neuen Gast mit einer erhabenen Handbewegung vor. »Eine Kabul,« kehrte sie sich darauf Maßlieb zu, indem sie auf Esther wies. »Demselben Stamm entsprossen, mögt Ihr Euch immerhin als dasselbe Fleisch und Blut betrachten. Je weniger zahlreich die Überreste eines vorzeiten nicht unberühmten Geschlechtes sind, um so inniger müssen diese letzten Sprossen sich einander anschließen.«
Esther gedachte des Tages, an dem Meredith unter ähnlichen Formen sich auch ihrer erbarmt und der verlassenen Waise eine trauliche Heimstätte eingeräumt hatte. Herzliche Teilnahme äußerte sich daher in ihrem Wesen, als sie, bereitwillig auf Merediths Ideen eingehend, Maßlieb die Hand reichte und mit gewinnender Aufrichtigkeit sie als eine Verwandte begrüßte.
Ein Weilchen beobachtete Meredith die beiden so seltsam zueinander kontrastierenden jungen Mädchen sinnend. Plötzlich erhob sie sich.
»Ich muß fort,« sprach sie zu Esther gewendet, »um vielleicht erst spät wieder heimzukehren.«
Eine Erwiderung wartete sie nicht ab, sondern einen Sammetmantel, der verrostet zu sein schien, wie die Altertümer um sie her, um ihre Schultern werfend und während des Gehens ein leichtes Tuch über ihren Kopf bindend, trat sie hastig auf den Flur hinaus. Gleich darauf verkündete das Helmvisier, daß sie den Garten verlassen hatte.
»Es ist so ihre Weise,« beruhigte Esther, als sie bemerkte, wie Maßlieb wiederum mit Besorgnis zu dem gespenstischen Ritter emporschaute; »sie kommt und geht, und liebt es nicht, viel gefragt zu werden. Doch du wirst sie bald genug kennen und lieben lernen.«
»Hier – soll ich bleiben?« ermannte Maßlieb sich endlich; »es ist unmöglich, es kann nicht sein –«
»Du bist eine Kabul,« fiel Esther mit ermutigendem Lächeln ein.
»Nein – ein Irrtum!« rief Maßlieb klagend aus, »ach, wenn ich es nur wäre! Ich mißbrauchte den Namen Kappel –«
»Wie ich selber einst den Namen Kabel,« tröstete Esther heiteren Blickes, »Kappel, Kabel oder Kabul, wen die gütige Dame, die uns eben verließ, einmal in ihr Herz schloß, den gibt sie nicht wieder auf, und ich selbst habe am wenigsten Ursache, damit unzufrieden zu sein.«
Dann kehrte sie sich den nächstliegenden häuslichen Beschäftigungen zu, um der rätselhaften neuen Gefährtin Zeit zur Fassung zu lassen. –
Meredith war unterdessen, um die Gartenecke herumbiegend, in ein großes fünfstöckiges Haus eingetreten. Es war ein kasernenartiges Gebäude, in dem, wie in so vielen ähnlicher Art, eine Unmenge von wenig zahlungsfähigen Mietern sich zusammendrängte. Sie begab sich in den feuchten, trüb erleuchteten Torweg, und ebenso zuversichtlich begann sie die nicht minder unzulänglich erleuchteten Treppen zu ersteigen. Auf der vierten Treppe fehlte die Beleuchtung ganz. Sich an dem Geländer hinauftastend, gelangte sie allmählich in undurchdringliche Finsternis, in der aus verschiedenen Richtungen schmale Lichtfäden sie über die Lage der einzelnen Wohnungen unterrichteten. Auf ihr Klopfen an einer dieser schlechtgefugten Türen, antwortete eine gedämpfte Männerstimme, und als sie öffnete, befand sie sich in einem Gemach, zu klein, um ein Zimmer genannt zu werden, und dennoch angefüllt mit einer so großen Zahl dicht zusammengerückter und übereinandergeschichteter alter Hausgeräte, daß wohl drei solcher Räume damit hätten ausmöbliert werden können. Sogar ein Sofa, dessen Überzug und Polsterung bereits zu den verflossenen Dingen zählten, hatte noch seinen Platz gefunden. Eine daraufliegende wollene Decke und ein Kopfkissen zeugten indessen dafür, daß es vorzugsweise als Bett benützt würde.
Bei Merediths Eintritt erhob sich von einem mit Schreibmaterialien bedeckten Tisch ein Mann, der, obwohl noch in den besten Jahren, auf seinem Antlitz die verheerende Wirkung endloser Not und Sorgen und vieler, vieler kummervoll durchwachten Nächte zeigte. Bei Merediths Anblick erhellten seine tiefliegenden Augen sich vorübergehend, nahmen aber in der nächsten Sekunde ihren traurigen, entsagenden Ausdruck wieder an. Das Leidende in seiner äußeren Erscheinung wurde erhöht durch den abgetragenen Schlafrock, der sich eng an den hageren Körper anschmiegte, und die schleichende Bewegung, als er sich auf den Zehen nach einer halb offenen Tür hinüberbegab und sie behutsam schloß. Dann erst näherte er sich Meredith wieder, sie höflich einladend, neben dem Tische Platz zu nehmen. Dabei hingen seine Blicke mit auffallender Unruhe an ihren Lippen.
Bevor Meredith sich niederließ, warf sie einen prüfenden Blick auf den von einer blechernen Schirmlampe dürftig beleuchteten Tisch. Ein Zeitungsblatt mit langen Zahlenreihen bedeckte die unterbrochene Arbeit. Meredith tupfte mit dem Finger auf das Blatt, und auf dem für sie hingeschobenen Stuhl Platz nehmend, bemerkte sie vorwurfsvoll:
»Sie handeln unrecht, mein lieber Herr Maller, sich unablässig mit dem Studium der Kurse zu martern.«
»Fräulein Kabul, mein Wohl und Wehe, und in erster Reihe das meiner Familie ist von diesen Kursen abhängig,« entschuldigte Maller zaghaft. »Bedenken Sie, wenn ich plötzlich durch Krankheit oder andere Unglücksfälle gezwungen wäre, meine Papiere zu verkaufen! Von den sechshundert Talern würde ich kaum zweihundertundfünfzig retten. Wie sollte ich das vor Frau und Kindern verantworten? Und fühle ich mich auch frei von Schuld, ich würde die Meinigen nicht mehr ansehen können, ohne die herbsten Gewissensbisse zu empfinden.«
»Vor allen Dingen beruhigen Sie sich,« versetzte Meredith, obwohl auch auf ihrem Antlitz Zweifel arbeiteten, die durch Mallers ergreifende Klagen wieder ins Leben gerufen worden waren; »denn nur um Ihnen Trost zu bringen, entschloß ich mich, noch so spät Sie in Ihrer Arbeit zu stören. Die Aktien der Zentrifugalbank sind allerdings tief in ihrem Wert gesunken; das schließt indessen nicht aus, daß sie über kurz oder lang ebenso schnell wieder steigen. Ob sie aber fallen oder steigen, das darf Sie nicht kümmern, solange Sie im Vollgenuß der hohen Dividende bleiben; und eine hohe Dividende ist nach menschlicher Berechnung doch gewiß die sicherste Bürgschaft für das Emporblühen jedes Unternehmens. Erst heute Abend hatte ich Gelegenheit, mit einem Manne darüber zu sprechen, der in solchen Dingen einen klareren und unbefangeneren Blick besitzt, als wir beide. Auch ich äußerte mancherlei Bedenken, allein er überzeugte mich, daß den in diesen Aktien angelegten Kapitalien ernste Gefahr nie drohen könne.«
»Gott sei Dank!« versetzte Maller innig, »so werde ich vielleicht wieder schlafen, anstatt in den wenigen mir gegönnten Stunden der nächtlichen Rast mit grausigen Bildern mich zu martern. O, mein Gott, wenn ich nur die Kraft besäße, die Blicke von diesen elenden Listen fernzuhalten,« und er schlug mit der Rückseite der Hand auf die Zeitung, »denn aus ihnen allein schöpfe ich meine Besorgnis, meine Angst, ohne dadurch etwas zu ändern. Außerdem diese ewige Störung in meiner Arbeit! Immer und immer wieder prüfe ich peinlich die Börsenberichte, um irgendwo zwischen den Zeilen einen Hoffnungsfunken zu entdecken. Dieses unausgesetzte Bangen aber, es ist unerträglich, es muß meine geistigen und körperlichen Kräfte untergraben.«
Meredith, die Lippen zusammengepreßt, sah düster vor sich nieder. Sie gedachte der unruhigen Stunden, die sie denselben Ursachen verdankte.
»Ein Mann in Ihrer Stellung hätte sich nie in derartige Spekulationen einlassen sollen,« bemerkte sie nach einer Weile tadelnd, »denn der größte nur denkbare Vorteil reicht nicht aus, Sie für Ihre Sorgen zu entschädigen.«
»Meine Sorgen?« fragte Maller sichtbar erleichtert, »welche Sorge gäbe es, die ich nicht gern ertrüge, würde dadurch eine kleine Vergünstigung für die Meinigen herbeigeführt?«
»Wer riet Ihnen, Ihr Geld aus sicheren Händen zu nehmen und es zu einer Quelle ewiger Unruhe zu machen?«
»Niemand riet mir,« erklärte Maller lebhaft, »aber Sie kennen das dürftige Gehalt eines Gerichtsschreibers; Sie wissen, wie ärmlich meine nächtlichen Nebenarbeiten bezahlt werden; Sie ahnen aber nicht, welche Aufgabe es ist, anstatt den darbenden Angehörigen kräftigere Speisen bieten zu können, sich einen standesgemäßen schwarzen Anzug verschaffen zu müssen. Ha, wie viel bevorzugter sind dagegen die niedrigsten Arbeiter und Handlanger? Sie dürfen in Holzschuhen und in leinenen Jacken einhergehen, während ein armer Beamter den schwarzen Leibrock um seinen ausgehungerten Körper zusammenschnüren und sich glücklich schätzen muß, wenn die Blicke des Vorgesetzten nicht die bereits durchscheinenden Fäden seines Anzuges zählen oder die Stunden des Gebrauchs der wenig sichtbaren Wäsche berechnen. Dabei wurden die Zeiten teurer, meine Kinder größer und mit ihnen wuchsen die Sorgen.
In einer solchen Lage, Fräulein Kabul, habe ich zugegriffen, als das neue Bankunternehmen von sich reden machte und sogar die halbjährigen Zinsen der auf den Markt gelangenden Aktien mit sieben Prozent im voraus bezahlte.«
»So gebe Gott, daß Sie das Rechte taten,« versetzte Meredith. Dann fügte sie in leichterem Tone hinzu: »ich hätte gern Ihre Frau begrüßt, allein sie wird sich zur Ruhe begeben haben.«
Maller schlich wieder nach der Tür des Seitengemachs hinüber und öffnete leise. Nachdem er einen Blick hineingeworfen hatte, winkte er Meredith neben sich hin, so weit zurücktretend, daß sie einen freien Überblick gewann.
Ein längliches Zimmer lag vor ihr, spärlich erleuchtet durch eine Küchenlampe. Drei Betten und eine Wiege bildeten die Haupteinrichtung. In zwei Betten lagen je zwei Kinder verschiedenen Alters. Das fünfte schlummerte in der Wiege. Zwischen der Wiege und einer Art Klapptisch auf einem abgenutzten Lehnstuhl saß eine bleiche Frau. Sie war eingeschlummert. Auf ihrem Schoße lag eine Knabenjacke; in der rechten Hand hielt sie die Nähnadel. In dem Augenblick, in dem sie diese durch das Zeug ziehen wollte, hatte die Erschöpfung sie übermannt. Vor ihr in einer Reihe und nach der Größe geordnet, standen auf der Erde fünf Paar kleine Schuhe und Stiefel, alle geschwärzt und blank gebürstet.
Minuten verrannen. Meredith schien sich von diesem Anblick nicht losreißen zu können. Endlich trat sie leise zurück.
»Wie sanft alle ruhen,« bemerkte sie schwermütig, indem sie dem Schreiber die Hand reichte; »möge ein guter Stern über Ihrer Häuslichkeit walten, daß Krankheit Ihnen fernbleibe; dann werden auch wieder frohere Zeiten für Sie tagen.« – – –