Balduin Möllhausen
Die Hyänen des Kapitals
Balduin Möllhausen

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Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Nailleka.

Meine unglückliche Tochter,« hob der Ansiedler nach einer Weile wieder an, »sie ist in doppelter Beziehung ein Opfer jener scheußlichen Hyänen des Kapitals geworden. Denn Hyänen waren es, die uns von drüben verjagten, indem sie, ihren Raub sichernd, uns das Auswandern nahe legten, Hyänen waren es, die uns hier in Empfang nahmen. O, dieser Kontrast, als mein Kind vor anderthalb Jahren von dem Hügelrande aus jubelnd die neue Heimat begrüßte, und dann wenige Wochen später die stillergebene Pflegerin aller ihrer Angehörigen wurde! Und als wir beide dann nur noch übrig waren, mit welcher Entsagung verstand sie sich dazu, mit anderen Leidensgenossen auf den Plantagen die Schulden abzutragen, in die wir hineingerissen wurden!

Die ersten Monate waren verstrichen, als eines Tages meine Tochter sich zur ungewöhnlichen Stunde mir zugesellte. Ihre ohnehin bleichen Wangen waren noch bleicher geworden und stier blickten ihre Augen. Befürchtend, daß auch sie ein Opfer klimatischer Krankheiten werden würde, drang ich mit freundlichen Vorstellungen in sie, allein die einzige Antwort, die ich erhielt, bestand in einem herzzerreißenden Lachen. Ich war entsetzt; ich forschte bei ihren Arbeitsgenossen, allein nur mitleidige, ausweichende Antworten wurden mir zuteil. In meiner Not begab ich mich nach der Plantage zu ihrem Arbeitgeber hinüber; doch auch von ihm erhielt ich keine Lösung des Rätsels; dagegen erklärte er sich bereit, ohne dafür geleistete Dienste mir ferneren Kredit zu gewähren. Was aber konnte mir das helfen? Meine Tochter war und blieb gestört; kein Wort sprach sie mehr zu mir oder einem andern; einsam durchstreifte sie Wald und Lichtungen, einsam bei Tag und bei Nacht, unbekümmert um Regen und Sonnenschein, unbekümmert um nächtliche Kälte und dörrende Mittagshitze.

Meine unschuldige, meine schmachvoll und hinterlistig geopferte Tochter,« flüsterte der Ansiedler nach einer längeren Pause schmerzlichen Sinnens vor sich hin, »ist geopfert worden, so schrecklich, daß ich's nicht zu sagen vermag. Auf dem Leichenfelde, auf dem wir zusammentrafen, befindet sich ein winziges Grabhügelchen. Nach ihm begibt sie sich in den hellen Mondscheinnächten, um in liebevollen Anreden ihrem gebrochenen Herzen Genüge zu tun oder in lauten Anklagen Rechenschaft vom Himmel zu fordern. Zu allen anderen Zeiten ist sie still und fügsam; allein für diese Welt ist sie verloren.«

»Oh Susannah, oh don't you cry for me,
I'm going to Lousiana, my true love for to see!
«

verhallte der Schlußvers in geringer Entfernung von den beiden Wanderern. Noch einige Schritte, und sie traten auf eine natürliche Lichtung, auf der eine mit dichtem Rasen bewachsene Bodenerhebung das schroff abfallende Ufer einer trüben von einem Bach gespeisten Wasserfläche bildete.

Ein junges Mädchen saß auf dem höchsten Punkte des Ufers. Das Haupt geneigt und Blumen von ihrem Schoß in die stillen Fluten hinabsendend, schien die Ärmste sich mit jemandem tief unten zu unterhalten.

Ihr dürftiges, abgetragenes Kleid reichte kaum aus, die zwar geschwächten, aber noch immer schönen Formen ihres Körpers zu decken. Erstaunlich langes Haar verhüllte in dichten, blonden Wellen beinah den ganzen Oberkörper. Das bleiche Antlitz sah Gerhard nur im Profil. Es war lieblich geschnitten; die Augen hatte sie niedergeschlagen; sie schien etwas in der Tiefe zu suchen, während sie immer neue Blumen von ihrem Schoß nahm und hinabwarf.

»Grausam nennen Euch die Menschen,« sprach sie vernehmlich mit dem Ausdruck einer Träumenden, »und dabei seid ihr so zahm. Wären die Menschen nicht schlechter, als Ihr, wie schön könnte die Erde sein! Dafür seid Ihr meine besten Freunde, und manches Liedchen singe ich Euch; ist aber die Zeit erst da, in der ich auf Erden unnütz geworden bin, dann eile ich in eure Arme.«

Vor dem Uferabhange kräuselte sich das Wasser, und Gerhard glaubte seinen Sinnen nicht trauen zu dürfen, als zwei Alligatoren, die er bisher für die Zweige eines versenkten Baumes gehalten hatte, plötzlich Leben gewannen, sich langsam umkehrten und der Mitte der seeartigen Bacherweiterung zuglitten.

Ein Weilchen sah er es noch wie Schneiden mächtig gezahnter Sägen über den Wasserspiegel emporragen, dann verschwanden beide in der Tiefe. Nur die sich allmählich vergrößernden Wellenringe bezeichneten den Punkt, auf dem die hornartig beschuppten Scheusale sich seinen Blicken entzogen hatten.

Die Bewegungen der beiden Alligatoren hatten Gerhards Aufmerksamkeit in so hohem Grade gefesselt, daß er das unglückliche Mädchen außer acht ließ. Als er wieder nach ihr suchte, hatte die Ärmste sich erhoben; wie aus schweren Träumen erwachend, strich sie mit den Händen über ihre Augen.

Diesen Zeitpunkt benutzte der Ansiedler, sich ihr zu nähern.

»Else, meine liebe Else,« sprach er tiefbewegt, »immer läßt du mich allein, der ich mich doch beständig nach dir sehne?«

Einen leeren Blick hatte Else auf ihren Vater und Gerhard geworfen; sobald ersterer aber zu ihr sprach, leuchtete es in ihren großen, blauen Augen auf, während ein süßes Lächeln um die entfärbten, aber noch immer vollen Lippen spielte.

»Du wärst allein?« fragte sie mit kindlichem Erstaunen, »du, der du mitten unter Menschen lebst? Grad so wie ich,« und leiser, flüsternder klang ihre Stimme, »überall finde ich Freunde,« und mit kindlicher Anmut wies sie nach der schlammigen Wasserfläche hinüber, wo nur noch die Nasen und die Höcker oberhalb der Augen der beiden gräßlichen Amphibien sichtbar waren.

»Es ist wahr, selbst die Tiere huldigen meiner lieben Else,« bestätigte der Ansiedler begütigend und offenbar bestrebt, die Gedanken der Unglücklichen andern Dingen zuzuwenden, »doch auch zu mir gesellen sich Freunde,« fügte er hinzu, durch eine Handbewegung Gerhard vorstellend; »er fragte nach Ellenborough, und ich wußte ihm keine genaue Auskunft zu erteilen.«

Else blickte Gerhard ein Weilchen ausdruckslos in die Augen. Dann belebte ihr Antlitz sich plötzlich.

»Ellenborough?« fragte sie neugierig, »er ist noch nicht eingetroffen. Man erwartet ihn zwar seit Monaten, fürchtet indessen, daß er in einem scheiternden Schiffe zugrunde ging.«

Gerhard entsetzte sich bei dieser Nachricht. Im Geiste sah er seine geliebte Esther beim Heulen des Sturmes und umgeben von Schiffstrümmern aus einem Berge wirbelnden Schaumes ihm die Arme entgegenbreiten.

»Man hörte in neuerer Zeit von keinem Unglück auf hoher See,« brachte er mühsam hervor.

Else sann ein Weilchen nach. Ein rührendes Lächeln trat wieder auf ihre Züge, und mit kindlicher Befangenheit Gerhard eine Blume darreichend, flüsterte sie geheimnisvoll:

»Wolken verschwinden am blauen Himmel, Schiffe auf blauer See. Sanfter aber ruht es sich auf dem muschelreichen Meeresboden, als hier im schwarzen Schlamm. Kennen Sie Highway?« fragte sie plötzlich unvermittelt.

Gerhard verneinte, während sein Begleiter sich schwerer auf seinen Stab lehnte.

»Dieser Highway ist ein Teufel,« nahm Else ihre Mitteilungen alsbald wieder auf, »er tötet die Seelen; allein sie ganz zu seinem Eigentum zu machen, fehlt ihm glücklicherweise die Kraft. Ich weiß das, und darum scheue ich nicht, ihm unter die Augen zu treten. Zu ihm werde ich Sie daher begleiten, und mögen Sie ihn nach allem fragen, was Sie zu wissen wünschen; denn er ist der eigentliche Regent von Nailleka. Ich warte und warte – wenn nur erst auf sein Geheiß Häuser und Straßen aus diesem Moor emporwachsen wollten? Und dann der Magnoliabaum – vielleicht wurde er zu tief in die Erde gesenkt –«

In ihren Augen, die so lange in mildem Feuer geglüht hatten, erlosch plötzlich der schwache geistige Funke wieder. Eine sentimentale Negermelodie leise vor sich hinsummend, trat sie an ihrem Vater vorbei, und gleich darauf war sie auf dem Pfade im nahen Dickicht verschwunden.

Erschüttert blickte Gerhard ihr nach. Das vor ihm entrollte Bild grenzenloser Verworfenheit hatte durch der armen Irrsinnigen Erscheinung und Worte eine furchtbare Bestätigung erhalten. Es gab keine Art Verbrecher, die in den Reihen der Hyänen des Kapitals nicht ihre Vertreter gefunden hätten. Über Länder und Meere fort reichten die Scheusale sich die Hände, wechselweise der eine dem andern den Boden für eine fluchwürdige Saat ebnend.

Der Lehrer hatte Gerhards Arm wieder ergriffen, und den von Else eingeschlagenen Pfad verfolgend, gelangten sie auf eine größere Lichtung, auf der etwa achtzehn Hütten sich in unregelmäßigen Zwischenräumen erhoben. Bei jeder einzelnen lag ein kleiner eingefriedigter Garten; jedoch nur schmale Beete waren mit Gemüsen bestellt. Der übrige Boden befand sich auf dem besten Wege, sich wieder in Urwald zu verwandeln. Die wenigen Palmen senkten traurig ihre Wedel, sie erinnerten an zerzauste Vögel, die hinter den Gitterstäben ihres Käfigs vor ungestillter Sehnsucht nach der fernen Heimat vergehen. Träumerisch ragten fünf oder sechs Bananenstauden empor; ihre riesenhaften Blätter waren geschlitzt; sie trugen den Tod im Herzen, wie die Menschen, die gelegentlich an ihnen vorbeischlüpften und nicht einmal in ihrem Schatten auf dem feuchten Erdreich zu rasten wagten.

Mehrere Hütten waren unbewohnt; andere harrten der spät von der Arbeit heimkehrenden Besitzer, während in den Türen wieder anderer bleiche Frauen saßen und sich mit dürftig gekleideten, elenden Kindern des verschiedensten Alters beschäftigten. Der Alligatorsee trug keinen düstereren Charakter, als diese Ansiedlung. Nur zwei oder drei Schornsteine und mehrere auf den Vorplätzen der Hütten geschürte Küchenfeuer sandten schmale Rauchsäulen empor, vermischt mit dem Duft röstender Speckscheiben und warmer Maiskuchen, neben Kaffee fast die einzige Speise aller Bewohner der Kolonie, kranker wie gesunder. Zwei alte Kühe bildeten den ganzen Viehbestand; dieser stand in ähnlichen Verhältnissen zu den nach Europa gesandten Photographien strotzender Rinderherden, wie der Alligatorensumpf zu den gleicherweise dargestellten Wasserfällen und Kaskaden.

Gerhard war vernichtet durch den Anblick des vielen Elends, so niedergedrückt, daß er keine Frage mehr an seinen Begleiter zu richten wagte. Wie ein Träumender bewegte er sich einher; nur zaghaft erwiderte er die ihm und seinem Begleiter gespendeten Grüße. In jedem auf ihn gerichteten trüben Blick meinte er die Anklage zu entdecken, daß auch er das Seinige zu der Täuschung beigetragen habe, der so viele Opfer gefallen waren und noch immer neue fielen.

Vor einem Häuschen, vor dem eine größere Anzahl Kinder auf Schilfschütten lagerte, auch wohl mechanisch mit Blumen und bunten Kieseln spielte, blieb der Ansiedler stehen.

»Ist meine Tochter drinnen?« fragte er eine ältere Frau, die vor dem Feuer mit der Zubereitung unschmackhaften Maisbrotes beschäftigt war.

Die Angeredete nickte zustimmend.

In demselben Augenblick erschien das junge Mädchen aber auch schon in der Tür.

»Kommen Sie,« redete sie Gerhard an, und ihr schönes, bleiches Antlitz erinnerte in seiner Ausdruckslosigkeit an ein Gebilde vom reinsten Wachs, »die Sonne versinkt im Walde, der Mond steht hoch und färbt rötlich sein falbes Gesicht. Kommen Sie, die Nebel entsteigen den Niederungen, und im Dickicht rüstet der Uhu sich zur Jagd. Kommen Sie, wir sind sicher überall, bei Tag und bei Nacht; die Tiere des Waldes selber beschützen uns.«

Gerhard warf einen fragenden Blick auf den Ansiedler; dieser gab ein billigendes Zeichen und reichte ihm die Hand.

»Gehen Sie,« fügte er schwermütig hinzu, »und möge über Ihnen ein freundlicher Stern walten, ein besseres Glück Sie begleiten, als dasjenige war, das mich hierher führte.«

Bevor Else in den Wald eintrat, blieb sie stehen, bis Gerhard sie erreichte.

»Zwei Wege führen an unser Ziel,« sprach sie geheimnisvoll, »der eine ist breit und bequem, wie der zur Sünde, der andere schmal und gewunden, wie der zum ewigen Frieden. Auf ersterem wandern die Bewohner von Nailleka zur Arbeit und wieder zurück, den anderen dagegen betreten außer mir nur Waschbären und Opossums. Auch schwarze Waldschlangen schlüpfen bei Tage über ihn fort, allein sie sind unschädlich und friedlich. Oft bin ich über sie hinweggeschritten, ohne daß sie sich regten. Ich weiß, Sie wählten lieber den bequemeren Weg, allein wir würden auf ihm meinen heimkehrenden Freunden begegnen, und ich liebe das nicht; denn durch Schatten und Dunkelheit hindurch fühle ich ihre mitleidigen Blicke, und sie selbst sind doch diejenigen, die am meisten Mitleid verdienen.«

Bei den letzten Worten kehrte sie sich ab, und ohne auf eine Erwiderung Gerhards zu warten, verfolgte sie eine kurze Strecke den Fahrweg, worauf sie in einen Pfad einbog, der gerade breit genug war, daß ein einzelner Mensch sich auf ihm einherzubewegen vermochte.

Gerhard fügte sich ohne Widerrede in Elses Anordnungen. Ihm war schließlich gleichgültig, welche Richtung sie einschlug, und hätte sie über die Rücken grimmiger Krokodile hingeführt. Durch die jüngsten Erfahrungen waren seine Hoffnungen schwer erschüttert worden. Bisher hatte er sich noch immer zu überreden gesucht, daß mehr Unglück, als schurkische Berechnung die Zentrifugalbank zu Fall brachte; nachdem er aber einen Blick in die durch Bild und Wort hoch gepriesenen Kolonisationsverhältnisse geworfen hatte, legte es sich wie Betäubung um seine Sinne. –

Buschwerk und hochaufgeschossenes Kraut raschelten, indem sie es im Vorübergehen streiften. In den Baumwipfeln flüsterte die sanfte nächtliche Luftströmung. Der jagende Uhu lachte gespenstisch. Von den Sümpfen drangen unheimliche Töne herüber; bald das dumpfe Brüllen des Ochsenfrosches, bald der seltsame Ruf der großen Rohrdommel. Matt funkelten die Sterne; der Mond schien hell. Lustig wirkten die als weißer Nebel den Niederungen entsteigenden giftigen Dünste.

 


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