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Die Erbin.
Wenn nach langem, trübem Winter der Südwind über die starren Fluren streicht und belebend rüttelt an den verschlafenen Keimen, wenn dann die Sonne vom klaren Himmel auf die sich in heiteres Grün kleidende Natur niederblickt, so ist's, als ob alles, was der Wirkung ihres Lichtes und ihrer Wärme unterworfen, gleichviel, ob begabt mit Odem oder geheimnisvoll entsprießend verschwiegenem Erdreich, hell aufjuble, sich festlich schmücke mit den ihm zu Gebote stehenden kleidsamsten Farben.
Ähnlich wirkte Merediths Erscheinen, als sie in Maßliebs Begleitung und geführt von dem bereits wieder etwas emporgekommenen Korpsburschen und dem dankbaren Maller vor ihrer Gartenpforte eintraf.
»Überflüssige Mühe,« bemerkte sie mit einem leisen Anflug von Bitterkeit, als sie das große Schild mit dem weithin lesbaren »Kabul« auf seiner alten Stelle erblickte, »wie lange wird's dauern, und wir sind gezwungen, es wieder zu entfernen!«
»Und prangte es nur einige Wochen, ja, nur Tage dort,« versetzte Maller lächelnd, »so erfüllte es reichlich den beabsichtigten Zweck, Ihnen ein herzliches Willkommen zuzurufen.«
Mit einem Ausdruck von Wehmut glitten ihre Blicke über das Haus hin.
»Überall neue Gardinen,« bemerkte sie leise zu Maßlieb, »und sogar beinahe dasselbe Muster. Diese Aufmerksamkeit unseres Freundes Maller – nur etwas verschwenderisch für meine Verhältnisse – ich könnte glauben, gar nicht von hier fortgewesen zu sein, sondern nur geträumt zu haben.«
»Der gute Kappel unterstützte ihn gewiß mit seinem Rat,« suchte Maßlieb einen Teil der Dankbarkeit ihrer mütterlichen Freundin dem alten Korpsburschen zuzuwenden.
»Ebenfalls ein Kabul,« versetzte Meredith zutraulich, sich gleichsam selbst verspottend; »doch die Zeiten phantastischer Visionen sind verrauscht; schlafen gegangen sind die wunderlichen Ideen, an die ein geängstigtes Gemüt auf der Flucht vor bösen Grübeleien sich anzuklammern suchte.«
Sie bemerkte den von der Pforte in das Haus hineinlaufenden Draht.
»Sollte man nicht meinen, der Helm mit dem geisterhaften Ritter sei noch in Tätigkeit,« sprach sie trübe lächelnd vor sich hin, und mechanisch folgte sie dem ihr voraufschreitenden Maller die Stufen hinauf. Kappel, der, seitdem sie ihn scherzhaft Kabul genannt hatte, noch um Kopfes Länge gewachsen zu sein schien und mit wahrhaft väterlichem Stolze in Maßliebs gespannt zu ihm aufschauende große Augen blickte, schloß sich ihr an.
Maller öffnete die Tür zu dem Wohnzimmer und Meredith seufzte tief auf. Das Schloß klang genau so, wie vor Jahren, genau so, wie vor Jahren, fiel ein matter Schein des Tageslichtes auf den schattigen Flurgang. Um Merediths Brust legte es sich schwer. Sie hätte in Tränen ausbrechen mögen. Wie oft, wie unzählige Male war sie durch jene Tür getreten, begrüßt von ihren ringsum an den Wänden geordneten Reliquien und Altertümern, begrüßt und willkommen geheißen von der holdselig erblühenden Esther! Sie wagte nicht, aufzuschauen, nicht dem schmerzlich wirkenden Kontrast mit den Blicken zu begegnen. Ihre Bewegungen wurden langsamer und schwerfälliger; wie mit Widerstreben trat sie auf die Schwelle. Maller wich zur Seite. So viele Menschen beieinander, und dennoch feierliche Stille! Meredith sah empor. Leises Beben durchlief ihre Gestalt. Dann strich sie mit beiden Händen über ihre Augen, wie um ein Nebelbild zu verscheuchen. Sie konnte ja nicht glauben, daß es Wirklichkeit war, was sie umgab, daß sie überhaupt nicht aus einem langen, wüsten Traum in ihrer alten Behausung erwache. Denn ringsum standen die geschnitzten, rohrgeflochtenen, altertümlichen Möbel; an den Wänden hingen die mittelalterlichen Waffen und eisernen Bekleidungsstücke, wogegen auf den Gesimsen von Kamin und Schränken und endlich in diesen selbst in alter Ordnung und wie unangetastet seit Jahren, Hunderte von Gegenständen sich aneinander reihten. Fast ein Menschenalter hatte sie an ihnen gesammelt, um ihren Geist in eine bestimmte Richtung zu lenken, sich nicht zu vertiefen in gefährliche Betrachtungen über ein verlorenes – und mehr noch, über ein ihr böswillig geraubtes Glück, an das sie sich, alle Schranken übersteigend, mit ganzer Seele angeklammert hatte. Ihre Lebensgeschichte war es gewissermaßen, was sie auf den ersten Blick gewahrte. Aber wie ein Zauber durchströmte es sie, wie ein milder, süßer Zauber aus einer Märchenwelt, als sie in ein Paar großer, blauer Augen schaute, die in Tränen des Glücks und der Wonne schwammen; als sie sah, wie zwei Arme sich ihr sehnsuchtsvoll entgegenbreiteten und sie gleich darauf sich umschlungen, geherzt und geküßt fühlte, daß ihr fast der Atem verging und sie nur noch die Kraft besaß, ihr Antlitz auf Esthers Schulter zu lehnen und so recht aus Herzensgrunde zu weinen, als hätte ihr altes Herz vor Freude und Wehmut zerfließen wollen. – – –
Als Esther, damals noch die letzte Kabul, auf geheimnisvolle Art von ihrer Seite gerissen wurde, da war sie stark genug, ihre Empfindungen in sich zu verschließen, mit eisernem Willen deren äußere Ausbrüche zurückzudrängen.
Nunmehr aber, da sie die Teure in üppigster Jugendfrische wieder vor sich sah, mußte sie den gewaltigen inneren Regungen nachgeben. Die Selbstbeherrschung war dahin, das Glück war zu groß. Ach, sie weinte ja so bitterlich, daß sie keine Worte, nicht einmal zu Fragen über das Wunder fand, bis Esther sich endlich wieder emporrichtete und mit lieblichem Erröten erklärte, keine Kabul mehr zu sein, und dennoch bitte, in der kleinen Haushaltung, die sie auf der anderen Seite des Flures eingerichtet habe, wirken zu dürfen. Dabei wies sie mit verschämtem Stolz auf Gerhard, der alsbald heiter beteuerte, daß es ihn namenlose Mühe gekostet habe, der von einem nahen Verwandten entführten Geliebten wieder habhaft zu werden.
Weiter gingen seine Enthüllungen nicht. Wer aber auf die im reinsten Glück strahlenden Züge des jungen Paares blickte, der überzeugte sich leicht, daß die Ursache ihrer Trennung wie die hinter ihnen liegenden Ereignisse, welcher Art sie auch sein mochten, weit überwogen wurden durch das beseligende Bewußtsein, über alle Wechselfälle des Lebens hinaus zueinander zu gehören, nur durch den Tod voneinander geschieden werden zu können.
Auch in Maßliebs Augen perlten Tränen, als sie von Esther schwesterlich willkommen geheißen wurde, dagegen bedeckte flammende Glut ihr holdes Antlitz, als Gerhard sie in seiner treuherzigen Weise begrüßte. Hatte sie ihn doch wiedererkannt, den jungen Mann, der an jenem Abend der Angst und der Not unter den Gästen des Weinhauses für sie sammelte. Aber während ihre Lippen sich zum schüchternen Lächeln voneinander trennten, zog es wie heimliches, unheilbares Weh durch ihre Brust. Sie wußte nicht, woher es kam; allein sie sehnte sich zurück nach dem stillen, friedlichen Asyl, in dem sie so lange im innigsten Verkehr mit ihrer alten Beschützerin gelebt hatte; wo jedermann sie nicht minder herzlich begrüßte; niemand ihre Vergangenheit kannte, niemand sie bemitleidete oder beklagte wegen der ihr von der Karussellmutter zugeschleuderten Mitgift: der bösen Offenbarung, daß sie nur ein Landstreicherkind sei. So süß lächelten ihre Augen und Lippen; aber in ihrem Herzen nagte es wie mit giftigen Zangen. Sogar der Anblick des sorglosen Kappel und des stillen Schwärmer, die ihr immer wieder Glück wünschten zum Einzuge unter dasselbe Dach, unter das auf ihrer ersten Flucht ein guter Engel sie geführt habe, wirkte, trotz ihrer Anhänglichkeit an die beiden wunderlichen Gesellen, mehr peinlich als beruhigend auf sie ein.
Doch heimliche Scheu und bange Ahnungen auf ihrer Seite, ernste Besorgnisse auf seiten ihrer Freunde, die einen nachteiligen Einfluß von dem Bekanntwerden ihrer Beziehungen zu dem toten Nathan befürchteten, alles ging unter in dem geschäftigen Treiben, mit dem Meredith von ihren alten Räumen Besitz nahm, wurde übertäubt durch die frohen Empfindungen, mit den man der überstandenen Leiden gedachte und sich den kommenden Tagen wieder zuwandte.
Wochen waren dahingegangen, und noch immer schwebten die Verhandlungen über den an dem alten Nathan verübten Mord und den an seine Hinterlassenschaft erhobenen Erbansprüchen. Wochen, seitdem das Karussell verwaist war und die beiden Karusselleltern, fern ihren in einer Scheune untergebrachten Bestien, in Untersuchungshaft schmachteten, um über den wunderbaren Wechsel des Geschickes ungestört ihre Betrachtungen anzustellen. Auch Röchler war gefänglich eingezogen worden, ein Schrecken für manche feine Hyäne, die Ursache zu haben glaubte, die Enthüllungen des Geschäftsträgers des weisen Nathan zu fürchten. Dieser war indessen scharfsinnig genug, zu berechnen, daß die den Hyänen nachteiligen Aufschlüsse ihm selbst am wenigsten Vorteil brachten. Auf deren Dankbarkeit zählend – und er hatte die Ehre, eine ziemliche Reihe derselben persönlich zu kennen – beschränkte er sich daher nur auf solche Aussagen, die in unmittelbarer Beziehung zu Nathan und dessen Hinterlassenschaft standen. Da alle Papiere des Verstorbenen durch das Feuer vernichtet worden waren, so wurden zunächst öffentliche Aufforderungen an diejenigen erlassen, welche noch Zahlungen zu leisten hatten. Es meldeten sich sehr wenige, und zwar nur solche, deren Haftbarkeit für Schuldforderungen auch anderweitig erwiesen werden konnte. Und so blieb man vollständig im Unklaren, ob der Wert der zerstörten Wechsel und sonstigen Effekten nach Tausenden oder Hunderttausenden von Talern berechnet werden müsse. Die verpfändeten Hypotheken waren am leichtesten zu ersetzen, zumal deren ursprüngliche Besitzer auf schleunigste Rückgabe drangen; allein die auf solche empfangenen Darlehne waren in allen Fällen so gering, daß die Restmasse des Vermögens dadurch nur wenig gesteigert wurde. Ein einziger Schuldner meldete sich mit einer größeren Summe: ein junger Gutsbesitzer, dessen Vater auf dem Wege der Aktienspekulation, des Zuschlagens von Zins auf Zins und barer Darlehne im Laufe von kaum zehn Jahren Verpflichtungen von über neunzigtausend Talern auf sich geladen hatte. Da indessen die Schuldscheine ebenfalls verloren gegangen, so geriet er in die Lage, alle Briefschaften seines Vaters, die sich auf dessen Verkehr mit Nathan bezogen, vorzulegen, und es ergab sich, daß derselbe kaum den dritten Teil des Geldes wirklich empfangen, die andern beiden Drittel dagegen durch unerhörte Zinsen und Ausgleichung von Kursdifferenzen allmählich einen so gewaltigen Umfang gewonnen hatten. Er war eben eines jener unglückseligen Opfer gewesen, wie sie täglich den Hyänen zur Beute fallen, ohne daß viel Aufhebens von solchen, durch scharfsinnige Verklausulierungen geschützte Vorkommnisse gemacht würde.
Infolge dieser Entdeckungen und des Todes des Hauptgläubigers war die bereits anberaumte Subhastierung des Gutes auf so lange hinausgeschoben worden, bis eine Einigung mit den Erben des weisen Nathan oder deren Vertreter stattgefunden haben würde.
An barem Gelde waren gegen zwölftausend Taler in Gold und Silber vorhanden, außerdem Geschmeide im Werte von viertausend Talern, über die Röchler, der nichts mehr zu fürchten brauchte, bereitwillig Auskunft erteilte. Sie wurden, nachdem Ulrich sich für unfähig erklärt hatte, die auf denselben haftenden tausend Taler zu entrichten, vorläufig zurückbehalten, um später auf dem Wege des Verkaufs oder der Teilung eine Lösung der zwischen Gläubiger und Schuldner schwebenden Verbindlichkeiten herbeizuführen.
Wie groß die Summe des vernichteten Papiergeldes gewesen, ließ sich nur ahnen. Zu dem hinterlassenen baren Geld trat dagegen noch das Haus mit dem Tummelplatz der Wölfe, das auf dem Wege des gerichtlichen Verkaufs einen Ertrag von fünfundvierzigtausend Talern lieferte und das ganze verfügbare Vermögen, ohne die unsicheren Außenstände, auf die Höhe von etwa sechzigtausend Talern brachte. Zu diesen unsicheren Forderungen gehörten auch die an Ulrich, die ihm von seinem Vater aufgebürdet worden waren. –
Soweit war alles von seiten des Gerichts geordnet worden, und es näherte sich die Stunde, in der, nach einer letzten Prüfung der Erbberechtigung, die genannte Summe an Maßlieb oder deren Vertreter ausgehändigt werden sollte. Zu umgehen war nicht, daß die junge Waise denjenigen gegenübergestellt wurde, die neben den vorhandenen, auf ihre Geburt bezüglichen Dokumenten als Zeugen für die Identität ihrer Person dienen sollten.
Ein schwerer Tag war das für die arme Maßlieb; um so schwerer, als ihr mit Bedacht erst in der letzten Stunde ein Bild ihrer ganzen Lage gegeben worden war. Bei ihr befanden sich Meredith, Esther und Maller; außerdem erkannte sie unter den Zeugen die befreundeten Gesichter Kappels und Schwärmers. Die Karusselleltern standen im Hintergrunde, bestrebten sich aber, durch vertrauliches Nicken der vor Scham fast Besinnungslosen ihr Wohlwollen zu erkennen zu geben.
Das Verfahren nahm nur kurze Zeit in Anspruch. Nicht der leiseste Zweifel erhob sich gegen die Zeugenaussagen; eine völlige Einstimmigkeit bildete sich zu Maßliebs Gunsten, aus der das Resultat hervorging, daß die junge Waise als Hildegard, Tochter des verstorbenen Schauspielers Pattern und dessen ebenfalls verstorbenen Ehefrau Rebekka, der Tochter des verblichenen Nathan Myer, den unbestrittenen Besitz ihres Erbes anzutreten habe.
Da gegen die Karusselleltern kein Strafantrag erhoben wurde, ebenso nicht gegen den Sekretär Röchler, so wurden diese in Ansehung der verbüßten Untersuchungshaft sofort entlassen. Jene wie dieser erschienen nicht unzufrieden, so leichten Kaufs davongekommen zu sein.
Bis auf Kappel und Schwärmer hatten die Zeugen sich entfernt. Maßlieb saß zwischen Meredith und Maller, der als gerichtlicher Vormund seine Instruktionen in Empfang zu nehmen hatte. Ihr schien die Kraft zu fehlen, den an sie gerichteten Worten zu folgen. Zu überwältigend waren die Eindrücke der letzten Stunden gewesen, zu furchtbar wirkte in ihrem armen Herzen das Bewußtsein der unmittelbaren Abstammung von jenem Nathan, über den sie nicht nur soviel Böses vernommen hatte, sondern von dem sie auch in grausiger Weise verfolgt worden war. Doch wenn Meredith den Richter bereits um Schonung und freundliche Rücksicht gebeten hatte, so brauchte dieser nur einen Blick auf die junge Waise zu werfen, um teilnahmsvoll und mit Bedacht die mildesten nur denkbaren Formen für seine Mitteilungen zu wählen, selbst im Tone seiner Stimme die Eindrücke zu offenbaren, die das schöne junge Mädchen mit der sittigen Haltung, den schüchtern gesenkten großen Augen, dem schmerzlichen Zug um den lieblichen Mund und der zu dem dunkeln Lockenhaar so scharf kontrastierenden bleichen Farbe auf ihn ausübte.
»Fräulein Hildegard Pattern,« hob er ermutigend an, »sind Sie darauf vorbereitet, die mit Rücksicht auf ihre gegenwärtige Lage notwendigen Eröffnungen entgegenzunehmen.«
Bei dem Namen Hildegard Pattern richtete Maßlieb sich erschreckt und doch mit einem gewissen Selbstvertrauen empor. Ihre gleichsam um Erbarmen flehenden Augen schweiften im Kreise, bis sie auf dem ängstlich gespannten Antlitz Merediths haften blieben. Diese nickte ihr aufmunternd zu, und sich ermannend, antwortete sie mit bebender Stimme:
»Ich glaube – ich bin hinlänglich vorbereitet.«
»Wohlan, Fräulein Pattern,« fuhr der Richter nicht minder ermutigend fort, »bevor ich auf die eigentliche Verhandlung eingehe, bitte ich Sie dringend, Ihre Fassung zu bewahren. Bauen Sie darauf, nichts habe ich vor Ihnen zu enthüllen, was Ihnen, namentlich im Kreise innig befreundeter Personen, peinlich sein könnte. Das Geschick hat an Ihnen gesündigt, das Geschick und mißliche Umstände; wir alle aber haben uns hier vereinigt zu dem Zweck, die Ihnen so lange vorenthaltene Sühne endlich in Kraft treten zu lassen. Ich setze voraus, Sie sind durch Fräulein Kabul mit der Geschichte Ihrer verewigten, schwer heimgesuchten Eltern besser vertraut gemacht worden, als es bei den zur Identifizierung Ihrer Person notwendigen gerichtlichen Verhandlungen möglich gewesen.«
Maßlieb, deren Antlitz allmählich die Farbe des reinsten Marmors angenommen hatte, vermochte nur, sich zustimmend zu verneigen, und der Richter fuhr fort:
»Ich bin also in der günstigen Lage, von allem absehen zu dürfen, was Sie schmerzlich berühren könnte. Nur so viel deute ich an: Versuchen Sie, im Geiste sich das allerfreundlichste Bild von Ihren heimgegangenen Eltern zu entwerfen; zollen Sie diesen Eltern aus vollem Herzen und mit ganzer Seele diejenige Liebe und Verehrung, die wir alle den längst in ihren Gräbern Schlummernden weihen; dann aber vergegenwärtigen Sie sich, daß Ihre Mutter in nächster Beziehung zu einem Manne stand, dessen wir jetzt nur noch versöhnlich und mit ernster Teilnahme gedenken dürfen. Fassen Sie sich, liebes Kind,« schaltete der Richter ein, als er gewahrte, daß helle Tränen über Maßliebs Wangen rollten, »fassen Sie sich und hegen Sie die feste Überzeugung, daß keine traurigen Enthüllungen fernerhin Ihren Frieden stören werden. Gehen Sie mit beruhigtem Gemüte davon aus, daß Sie die Enkelin des verstorbenen Kaufmanns Nathan Myer, daß außer Ihnen kein Nachkomme Ihres Großvaters mehr lebt, Sie also für dessen Universalerbin erklärt werden müssen.«
»Ich will nichts – nein, ich bedarf keiner Erbschaft,« schluchzte Maßlieb erschüttert, dann aber sich mit Heftigkeit emporrichtend, fügte Sie mit festerer Stimme hinzu: »und müßte ich in meine ärgste Not zurücksinken – ich will nichts von seinem Reichtum.«
Der Richter betrachtete das liebliche, von einer sich schnell verflüchtigenden Glut überströmte Antlitz mit stiller Bewunderung, dann wechselte er einen Blick des Einverständnisses mit Meredith, auf deren Zügen ein heller Triumph zum Ausdruck gelangte.
»Die Gründe Ihrer Weigerung errate ich,« nahm er alsbald wieder das Wort, »ich errate alles und finde es erklärlich. Allein das Gesetz will seinen freien Lauf haben; es kann nicht Ihren natürlichen Wünschen Rechnung tragen, ebensowenig sind Ihre Vertreter berechtigt, über das Ihrige nach Willkür zu entscheiden. Später hingegen, wenn Jahre oder andere Ereignisse Sie in die Lage versetzt haben werden, frei über die Ihnen zufallenden Mittel zu verfügen, liegt es noch immer in Ihrer Hand, sich alles dessen, was zu besitzen Ihnen peinlich, zu entledigen.«
Er zögerte einige Sekunden. Über Maßliebs Antlitz flog es wie ein Sonnenblick. Sie schloß die Augen, wie um schon jetzt einen Plan über die Verwendung des Erbteils zu entwerfen, öffnete sie aber sogleich wieder, sobald der Richter fortfuhr:
»Übereilen Sie sich daher nicht mit Ihrem Urteil, mein liebes Kind, warten Sie, bis Sie ein genaues Bild von der ganzen Sachlage gewonnen haben, und ich weiß, die Bedenken werden schwinden, die heute noch Ihr Gemüt mit bangen Zweifeln erfüllen.«
»Diese Papiere, die Fräulein Kabul an sich zu nehmen die Güte haben wird, geben genaue Auskunft über den Umfang und die Anlage Ihres Vermögens. Dasselbe beläuft sich auf die Summe von zweiundsechzigtausend Talern und einen Bruchteil, deren Zinsen regelmäßig für Sie erhoben und berechnet werden sollen. Etwaige Ersparnisse kommen dem Kapital wieder zugute. Über das, was bei dem Unglücksfall verloren gegangen, jetzt noch zu sprechen, vermeide ich, und ich weiß, ich begegne darin Ihren Wünschen. Auf angemeldete unsichere Forderungen komme ich dagegen später noch einmal zurück. Vorläufig bleiben wir dabei stehen, daß die genannte Summe Ihr rechtmäßiges, unantastbares Eigentum bildet, erblich übertragen auf Sie nicht durch Ihren verstorbenen Großvater, sondern durch jemanden, dem das erste Recht der Verfügung darüber zustand.«
Hier blickte Maßlieb wieder mit angstvoller Spannung empor; eine Frage schwebte auf ihren Lippen, als der Richter ein altes, durch Feuer beschädigtes Buch von großem Umfange zu sich heranzog, den zusammengeschrumpften Deckel zurückschlug und zugleich ein neben ihm liegendes Blatt Papier emporhob.
»Als ob ein freundliches Geschick Ihren Empfindungen Rechnung getragen hätte,« begann er feierlich, jedoch Zutrauen erweckend, »ist gerade dasjenige von dem zerstörenden Feuer verschont geblieben, was ohne Zweifel für Sie einen weit höheren Wert hat, als wären die in Asche zerfallenen Papiere alle miteinander gerettet worden. Sie sehen dieses Buch. Eine uralte Ausgabe des Talmud ist es, und, wie aus den Notizen auf den vorgehefteten Blättern hervorgeht, von Ihren Vorfahren mütterlicherseits jedesmal auf die älteste Tochter oder Schwiegertochter vererbt. Die letzte Besitzerin dieser ehrwürdigen Reliquie war Ihre längst verstorbene Großmutter; was sie kurze Zeit vor ihrem Tode in das ihr heilige Buch einschrieb, kann auch für Sie, muß für uns alle als maßgebend gelten. Ihre letztwilligen Verfügungen hat sie in hebräischer Schrift niedergelegt, und hier ist die gerichtlich beglaubigte Übersetzung.«
Dann begann er vorzulesen:
»Der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs möge sein Antlitz neigen auf seine demütige Magd; möge er segnen ihre Gedanken und Wünsche, daß sie getragen werden als Heiligtum von Kind auf Kind bis ins tausendste Glied hinein!
Meine Tage sind nicht mehr lang bemessen; nur Monate, und eine treue Magd geht zu dem Gott ihrer Väter ein. Hinter mir bleibt eine Welt der Täuschungen, bleibt ein Gatte, dem ich eine treue Dienerin gewesen, bleibt meine Tochter, ein Kind von kaum acht Jahren. Was mich bewegt zu nachfolgenden Bestimmungen, ich nehme es mit ins Grab; sie sind gerechtfertigt vor dem Allmächtigen und allen Menschen.
Als ich dem mir als Gesetz geltenden Willen meiner Eltern folgte, mich meinem Eheherrn, dem Nathan Myer, verlobte und sein Weib wurde, brachte ich ihm ein Heiratsgut ein, das nicht unter hundertunddreißigtausend Taler, über dessen Erträge er wohl zu verfügen hatte, jedoch nicht über die Kapitalien selber. Denn diese Kapitalien gehören mir, und sind auf mich vererbt worden als ein im Schweiße des Angesichts und im redlichen Handel erworbenes Vermögen, an dem haftet kein Makel, um von mir hinterlassen zu werden meiner Tochter und deren Nachkommen.
Und so bestimme und verfüge ich denn endgültig vor dem Allmächtigen, vor meinem Eheherrn und vor allen Menschen, daß das mir zugehörende Vermögen von einmalhundertunddreißigtausend Talern unverkürzt ausgezahlt werde meiner einzigen Tochter Rebekka an dem Tage ihrer Großjährigkeit, oder an dem sie folgen wird als Gattin dem von ihr auserkorenen Manne in sein Haus und an seinen Herd. So bestimme und verfüge ich ohne Anwendung äußerer bindender Formen; denn ich weiß, daß mein letzter Wille heilig gehalten wird von dem Vater meiner Tochter, meinem Eheherrn, dem Nathan Myer. Dieser aber wird einsehen, daß gerechtfertigt sind solche Verfügungen, nachdem er selber verlor in einem gewagten Unternehmen ein weit größeres Vermögen, und er im Begriffe steht, die Zinsen meines Heiratsgutes als Mittel zu neuem Erwerb zu benutzen. Mögen aber solche Mittel verdienen den Segen des Herrn und sich mehren zugunsten unserer Tochter Rebekka Myer. So geschrieben im Jahre 5594 nach jüdischer Zeitrechnung am 27. Januar. Rachel Myer.«
Hier schloß das Schriftstück. Der Richter legte das Blatt vor sich auf den Tisch und säumte einige Minuten, um den Zuhörern Zeit zu gönnen, das Vernommene noch einmal vor ihrem Geiste vorüberziehen zu lassen. Totenstille herrschte dabei in dem Zimmer; die einzelnen Atemzüge hätte man voneinander trennen können. Maßlieb schien zu träumen. Ihre großen Augen hingen starr an dem Talmud. Die verlesenen Worte hatten einen Eindruck auf sie ausgeübt, als wären sie ihr aus dem Jenseits zugerufen worden. Auf ihr aber hafteten mit innigster Liebe und Bewunderung die Blicke Merediths und der übrigen Anwesenden.
»Was auch immer Bedenken über die Besitzergreifung des Vermögens in Ihrem Herzen angeregt haben mag,« begann der Richter endlich wieder zu Maßlieb gewendet, »vor diesem klar ausgesprochenen Testamente schwinden die letzten Zweifel. Denn die ganze, bisher sicher gestellte Summe beträgt nicht die Hälfte des Heiratsgutes Ihrer Großmutter, über das testamentarisch zu verfügen sie ein unbestreitbares Recht besaß.
»Einer angemeldeten Schuldforderung erwähnte ich. Gesetzlich gültige Mittel, dieselbe einzutreiben, stehen uns nicht zur Seite. Allein wir haben es mit einem Ehrenmanne zu tun, der uns bereitwillig alle Materialien zur Verfügung stellte, durch die wir gewissermaßen zu Herren seines Landgutes werden. Ein Vergleich wird ihm wie uns zustatten kommen; ihm doppelt, indem durch unser Entgegenkommen er vielleicht davor bewahrt wird, der letzten Habe bar, von dem Erbe seiner Väter abzuziehen. Wir sind sogar moralisch verpflichtet, ihm die Mittel zu gewähren, die zerfallene Heimstätte allmählich wieder zur Blüte zu bringen.«
Bei den letzten Mitteilungen hatte flammende Glut Maßliebs Antlitz überzogen. Ein Ausdruck des Trotzes, wie damals, als sie sich von den Karusselleltern trennte, gelangte auf ihren lieblichen Zügen zum Durchbruch. Ihre Haltung wurde sicher und zuversichtlich wie in jener Stunde, in der sie dem heruntergekommenen Korpsburschen erklärte, mit eigenen Kräften sich einen glanzvollen Weg durchs Leben bahnen zu können, und indem sie sich erhob, stand sie da, als hätte, einem unsichtbaren Feinde gegenüber, der Mut der Verzweiflung sie durchströmt. Sie achtete weder auf die verwunderungsvollen Blicke des Richters, noch darauf, daß Meredith, die in ihrem Herzen zu lesen glaubte, sie mit unverkennbarer Bangigkeit betrachtete und die übrigen Freunde mit stummem Erstaunen zu ihr aufschauten.
»Sie erwähnten eines zerfallenen Gutes – der Besitzer desselben – wie heißt er?« fragte sie laut, jedoch wie erschreckt über die eigene Kühnheit mit schnell wieder sinkender Stimme.
»Ulrich,« antwortete der Richter befremdet.
»Fräulein Kabul,« wandte sie sich darauf an diese, mit sichtbarer Bangigkeit in deren besorgnisvoll blickende Augen spähend, »wie heißt der Herr, von dem Sie im vorigen Jahre die Altertümer käuflich erwarben?«
»Ulrich,« sprach Meredith zögernd.
Über Maßliebs Antlitz breitete sich Marmorblässe aus. Sie schien, wie erschöpft, wieder Platz nehmen zu wollen. Gleich darauf aber hatte sie ihre entschlossene Haltung zurückgewonnen.
»Steht mir das Recht zu,« fragte sie erzwungen ruhig, »Entscheidungen zu treffen über das mir von meiner Großmutter hinterlassene Vermögen« – sie betonte das Wort Großmutter schärfer.
»Gewiß wird Ihren Wünschen Rechnung getragen,« antwortete der Richter, »das heißt, insoweit Ihr Besitz dadurch nicht geschmälert wird.«
Maßlieb sah vor sich nieder. Die Farbe ihrer Wangen kam und wich in schneller Folge. In ihrer Brust arbeitete es gewaltig; in langen und tiefen Zügen entwand sich derselben der Atem. Man hätte ein Blatt können fallen hören.
Plötzlich richtete sie sich empor. Ihr liebes, sonst so freundliches Antlitz schien zu Marmor zu erstarren.
»Manches lernte ich aus Ihren Mitteilungen,« begann sie mit bebenden Lippen, »auch gewann ich aus denselben den Mut, jetzt zu fragen: Besitzen Sie Quittungen – oder – Beweise – ich meine schriftliche Beweise über die angeblichen Forderungen an den Herrn Ulrich?«
»Leider wurden alle auf diese Angelegenheit bezüglichen Dokumente vernichtet,« erklärte der Richter.
»Auf die Behauptung des Herrn Ulrich, jemandem etwas zu schulden, wollen Sie gegen ihn einschreiten?« fuhr Maßlieb fort.
»Einschreiten ist nicht ganz das geeignete Wort. Herr Ulrich ist ein Ehrenmann, und wir haben keinen Grund, seine Angaben zu bezweifeln.«
»Wenn er nach einiger Zeit erschiene und eine doppelt so große Summe anmeldete, die mein Großvater ihm schuldig geblieben sei, würden Sie auf sein bloßes Wort hin ihm das ganze, von meiner Großmutter herrührende Vermögen aushändigen?«
Der Richter warf einen Blick des Erstaunens auf Meredith, deren Antlitz trotz der wehmütigen Erregung förmlich strahlte, während Kappel sich nicht versagen konnte, seinen Schnurrbart in einer Weise zu handhaben, als hätte er dem neben ihm sitzenden Schwärmer zugemutet, die ihm zugekehrte Spitze einige Ellen weiter zu drehen. Alle schienen eine solche Frage am wenigsten erwartet zu haben.
»Einen Unterschied müssen wir gelten lassen«, nahm der Richter nach kurzem Sinnen das Wort, um Maßlieb zu beruhigen, »und es ist ein großer Unterschied, ob jemand sich verpflichtet fühlt, nach bester Überzeugung eines anderen Rechte anzuerkennen, oder ob er eine Entschädigung für nicht nachweisbare Leistungen fordert. Das Gericht ist allerdings nicht befugt, auf Zahlung einer Forderung zu dringen, der die entsprechenden Beläge fehlen.«
»So verlange ich, daß der Herr Ulrich mit seinem Anerbieten abgewiesen werde,« versetzte Maßlieb, ihre letzte Kraft zusammenraffend, und schwer stützte sie sich mit der rechten Hand auf die Lehne ihres Stuhls, »durch meine Großmutter bin ich mehr als zu reich geworden, zu reich, um noch Geschenke annehmen zu brauchen, am wenigsten aber von einem Fremden –« und leidenschaftlicher wurde ihre Stimme, und stolzer, selbstbewußter ihre Haltung – »ich weigere mich daher standhaft, irgendeine auf dem Wege der Erbschaft auf mich übergegangene Forderung anzuerkennen, so lange nicht die schriftlichen Beweise dafür beigefügt sind. Wer weiß, die in Frage stehenden Summen mögen längst berichtigt sein! Nein, ich nehme nichts; und wenn diejenigen, die dazu ausersehen sind, meine Rechte als die einer Unmündigen zu vertreten, sich auf einen Vergleich mit Herrn Ulrich einlassen, so erkläre ich im voraus – und der Himmel sei mein Zeuge –, daß ich nur auf den Tag und die Stunde warte, die mir das Recht dazu in die Hand geben, um dem Herrn Ulrich das zurückzuerstatten, was mir von seiten der Vormundschaft unrechtmäßiger Weise aufgedrungen wurde – nein – ich will nichts von ihm – will mein Gewissen nicht belasten mit Zweifeln – nur das von meiner Mutter Herrührende – es ist redlich erworben, ist geheiligt – und dann jenes Buch –«
Indem sie auf den Talmud hinwies, drohten ihre Kräfte sie zu verlassen. Die Anstrengung, mit der sie sich so lange aufrecht erhalten hatte, die Empfindungen, die gleichsam erdrückend auf sie hereinbrachen, das ihr vorschwebende Bild Ulrichs und das Bewußtsein, vor seiner Tür um ein Almosen gesungen zu haben, dazu der fremde Ort, an dem sie sich befand, und die auf sie gerichteten erstaunten Blicke, dies alles wirkte so vernichtend auf sie ein, daß es sich wie Betäubung um ihre Sinne legte. Sie kannte nur noch das einzige Gefühl gänzlicher Hilflosigkeit, eines erbarmungslosen Alleinseins mit einem Geheimnis, vor dessen Aufklärung sie hätte fliehen mögen, wie einst von den Karusselleltern, oder aus Merediths gastlicher Häuslichkeit; oder endlich aus jener, sie wie ein Höllenschlund angähnenden, befremdlich schillernden Gesellschaft. Ratlos spähte sie um sich; überall stummes Erstaunen; nirgend ein Ausweg, auf dem Flucht möglich gewesen wäre. Wenige Sekunden dauerte dieser Kampf; in dem verschwindend kurzen Zeitraum aber drängten sich die Empfindungen eines ganzen Lebens zusammen. Nur Meredith verstand, was die Brust der jungen Waise bewegte, nur sie, der es einst vergönnt gewesen, einen flüchtigen Blick in das bange Herz zu tun. Was sie damals ahnte, war ihr jetzt zur Gewißheit geworden, und bevor ein anderer Laut die plötzlich eingetretene Stille unterbrach, erhob sie sich, und ihre Arme weit ausbreitend, duldete sie, daß Maßlieb sich an ihre Brust flüchtete.
»Fort, fort von hier,« hauchte Maßlieb der sie innig umfangenden Freundin zu, »nur fort – er möchte kommen und erfahren, daß ich die Enkelin des Mannes, dem er sich verschuldet wähnt – er würde mir das Geld vor die Füße werfen – mit Abscheu zurückweisen, was die – eine Landstreicherin, ihm bietet – fort, fort, oder ich sterbe vor Entsetzen über die ringsum auftauchenden Schreckbilder.«
Während sie in ihrer Todesangst also zu Meredith flüsterte, fand diese Gelegenheit, mit dem Richter einen Blick des Einverständnisses zu wechseln. Darauf küßte sie Maßlieb auf die Stirn, und an Schwärmer und Kappel vorbei trat sie mit ihr in das Vorzimmer. Einige Minuten gönnte sie ihr, sich zu sammeln und die Tränen von ihren Wangen zu entfernen, dann begaben sie sich auf die Straße hinaus, wo sie sogleich den Heimweg einschlugen.
Maßlieb zitterte noch immer, während sie sich fester auf Merediths Arm lehnte, sich gleichsam willenlos von ihr führen ließ. Ihren Ideengang zu unterbrechen wagte Meredith nicht; sie fürchtete einen neuen Ausbruch der mit sichtbarer Gewalt gezügelten Leidenschaften.
»Wären wir in unserm friedlichen Stift geblieben,« seufzte Maßlieb endlich leise, wie zu sich selbst sprechend, »das viele Geld, was soll es mir? Es macht mich unglücklich. Mögen andere Leute nach Belieben darüber verfügen – ich kümmere mich nicht darum.«
»Und doch läßt sich gerade mit Geld so viel Gutes erwirken,« bemerkte Meredith vorsichtig, »viele hilfsbedürftige Menschen leben in der Welt –«
»Kappel und der arme alte Schwärmer,« fiel Maßlieb freier ein.
»Auch sie, liebes Kind,« bestätigte Meredith aus vollem Herzen.
»Und die bedauernswerte Rosamunde, von der ich erzählte,« fuhr Maßlieb mit wachsender Erregtheit fort; »sie ist nicht schlecht; sie hat mich beschützt, und ohne ihre Hilfe schmachtete ich heute noch in jener furchtbaren Gefangenschaft.«
Ein Schauder durchlief ihre Gestalt. Sie vergegenwärtigte sich, auf wessen Anstiften sie an jenen unheimlichen Ort gebracht worden war.
Eine Strecke legten sie wieder schweigend zurück. Plötzlich blieb Maßlieb stehen, und Meredith mit angstvoller Spannung anschauend, bemerkte sie flüsternd, wie ein gefährliches Geheimnis berührend:
»Ist es notwendig, daß ich dem Herrn Ulrich noch einmal begegne?«
»Unumgänglich nicht,« antwortete Meredith, ihren Schützling sanft mit sich fortziehend, »ich bezweifle indessen nicht, daß er alles aufbietet, eine Zusammenkunft mit derjenigen herbeizuführen, der er zum größten Danke verpflichtet ist. Denn können deine Wünsche auch nicht in ihrem ganzen Umfange berücksichtigt werden, so wird ihm jedenfalls durch die Vormundschaft eine große Erleichterung gewährt. Eine Erleichterung ist aber eine Lebensfrage für ihn; er wird dadurch in den Stand gesetzt, nicht nur seine Besitzung zu behalten, sondern sie auch allmählich wieder in Vorteil bringender Weise umzugestalten.«
»Die Zeit entflieht; auch der Tag meiner Großjährigkeit wird anbrechen,« sprach Maßlieb wie im Traume wieder vor sich hin.
»Klammere dich nicht zu fest an diesen Gedanken an,« erklärte Meredith freundlich, »denn ich täusche mich nicht, ein Mann wie Ulrich nimmt keine Geschenke.«
»Er kann sich nicht weigern,« grollte Maßlieb, »es sei denn, man verriete ihm, es käme von einer Landstreicherin.«
»Erinnere dich deiner armen Eltern,« ermahnte Meredith ernst.
Maßlieb lachte bitter. Dann bemerkte sie ruhig: »Die treue Erinnerung an meine armen, schwer heimgesuchten Eltern hindert nicht, daß ich als Landstreicherkind aufwuchs; und vor seiner eigenen Tür habe ich gesungen.«
»Laß ruhen jene Zeiten,« versetzte Meredith gütig, und klarer wurde ihr Maßliebs Seelenstimmung, »o, laß sie ruhen und gib nicht gänzlich widerstandslos dich den Eindrücken hin, den du während der letzten Stunden unterworfen gewesen. Dauernde, ruhige Überlegung ändert oft die Anschauungsweise.«
»Die meinige wird nie eine Wandlung erleiden,« wendete Maßlieb zuversichtlich ein, »so lange ich lebe, fürchte ich ihn.«
»Und doch bewies er die freundlichste Teilnahme für dich.«
»Er wußte nicht, wer ich war; hätte er es geahnt, würde er mich bemitleidet haben. Ich aber will nicht von ihm bemitleidet sein – nein, nimmermehr. Wäre er vertraut gewesen mit meinen Beziehungen zu dem Vater meiner – zu dem alten Nathan, er hätte mich gehaßt, verachtet, und deshalb – nun, mir ist, als müßte auch ich ihn hassen – ich kann nicht anders – nein, meine Schuld ist es nicht.«
»Du gehst zu weit,« riet Meredith liebreich, »an deiner Stelle würde ich mich überhaupt weniger mit einem Fremden beschäftigen, den du kaum einmal in deinem Leben sahst und dessen Charakter du daher unmöglich gründlich kennen gelernt haben kannst.«
»Zweimal sah ich ihn, und einmal hörte ich seine Stimme, ohne ihn zu sehen. Sie schnitt mir in die Seele – o, nimmermehr vergesse ich das – denn seine Stimme war Ursache, daß es über mich kam wie die Ahnung eines Unglücks, daß ich meiner Vergangenheit mich schämte und am liebsten gleich gestorben wäre. Solche Gedanken entstehen nicht, wenn man weiß, daß wirklich jemand freundliche Gesinnungen hegt. Wie die böse Leukhart mit ihren Worten, so vergiftete er mit seinem Blick mein Leben. Es lag so vieles, es lag alles darinnen; so oft ich seinen Namen höre, befällt mich Grauen.«
Meredith antwortete nicht mehr. Sie wünschte, das für Maßlieb tiefschmerzliche und doch mit einer gewissen herben Wollust geführte Gespräch abzubrechen.
Und wiederum verfolgten sie eine Strecke schweigend ihren Weg, bis Maßlieb, während Tränen in ihren schönen Augen perlten, Merediths Hand ergriff und in sanft flehendem Tone anhob:
»Können Sie mir verzeihen –«
»Verzeihen?« fiel Meredith wohlwollend ein und sie lächelte ermutigend, »was tatest du, das der Verzeihung bedürfte?«
»Ich habe Sie gekränkt, tief gekränkt; ich habe mich hinreißen lassen zu wilden, leidenschaftlichen Ausbrüchen. Ich wußte nicht, was ich tat. Es kam über mich, wie in jenen Tagen, da ich so viel Unrecht von meinen Peinigern erduldete. Woher ich den Mut nahm, ich begreife es nicht – ich war wieder die zügellose Landstrei –«
»Nicht weiter, Maßlieb, nicht weiter,« unterbrach Meredith sie schnell, »du hast gehandelt, wie die Regungen deines Herzens es verlangten, und kein Tadel trifft dich dafür. Du sträubtest dich, unerwiesene Forderungen zu deinen Gunsten gelten zu lassen, und dadurch hast du dir die Achtung aller derjenigen erworben, die zugegen waren.«
Nach dieser Erklärung versank Maßlieb in Träumereien. Mechanisch folgte sie den Bewegungen ihrer ebenfalls schweigsam gewordenen Beschützerin. Wohin sie geführt wurde, es war ihr gleichgültig. Überrascht sah sie auf, als plötzlich die Gartenpforte sich klirrend öffnete. Sie begaben sich in das Altertümerzimmer. Nur Esther war in demselben anwesend, mit sichtbarer Spannung beide begrüßend und beobachtend.
»Es ist bereits eingetroffen,« flüsterte sie Meredith zu, indem sie auf den Schreibtisch wies, auf dem mehrere verdeckte Gegenstände lagen.
Meredith nickte. Dann führte sie Maßlieb vor den Tisch hin.
»Hier ist dein wahres Erbe,« sprach sie feierlich, indem sie einen großen Papierbogen zurückschlug, »nimm es hin und vergiß nie, daß da, wo ich weile, auch deine Heimat ist; das gelobe ich dir, du treue Gefährtin meiner schwersten Lebenstage; ich gelobe es dir hier angesichts der Porträts deiner beiden Eltern, angesichts des unscheinbaren Buches, in das deine Großmutter in treuer Voraussicht ihren besten Segen zusammen mit ihrer Habe für dich niederlegte.«
Sie trat zurück, und Esthers Hand ergreifend, entfernte sie sich leise mit ihr.
»Lassen wir sie ungestört,« bemerkte sie gerührt, »was ich bisher vergeblich ersehnte und erstrebte: das Gift abzutöten, welches einst vermessenerweise in ihr empfängliches Gemüt gesäet wurde, vielleicht wird es bewirkt durch den Anblick derjenigen, den sie ihr Leben verdankt.«
Auf den Flur hinaustretend, warf sie einen Blick rückwärts. Maßlieb stand auf derselben Stelle, die Hände vor sich gefaltet, bald in die Augen des einen, bald in die des anderen Porträts schauend.
Als die Tür sich mit leisem Geräusch schloß, schien sie wie aus einer Erstarrung zu erwachen. Einen scheuen Blick warf sie um sich, und flammende Glut schoß in ihr herziges Antlitz, sobald sie sich allein und unbeobachtet wußte. Freundliche, wenn auch phantastische Bilder erstanden vor ihrem Geiste. Wie einst, als sie kindlich spielend tote Dinge, sogar die scheußlichen Bestien des Karussells gleichsam mit Leben begabte, so nahm sie jetzt die Porträts einzeln in die Hände, und nachdem sie deren glücklich blickende Augen geküßt hatte, stellte sie dieselben nebeneinander auf. Dann einige Schritte zurücktretend, daß sie beide zugleich betrachten konnte, sank sie auf die Knie, und als hätten die bereits in Staub Zerfallenen auf der toten Leinwand noch Verständnis dafür besessen, sprach sie zu ihnen in innigem halblautem Tone.
Sie sprach zu ihnen von herben Erfahrungen und von den Verfolgungen, den sie als elternlose Waise ausgesetzt gewesen. Sie sprach von ihren Freunden und Wohltätern, wie von denjenigen, die sie zu verderben gedachten. Alles, alles, was ihr Herz belastete und wieder mit Freuden erfüllte, alles vertraute sie, wie wohl ein Kind zu seinen Eltern spricht, den beiden Bildern, dem Vater mit den seltsamen kleinen Wunden in der Herzgegend, der Mutter, deren wunderbar schönes Antlitz lange Jahre hindurch nur den Schatten eines düstern Winkels in des alten Nathans Wohnung kennen gelernt hatte. Wenn aber in der einen Minute süßes Lächeln ihre holden Züge verklärte, so flossen in der anderen wieder reichlich Tränen, als ob nunmehr die Rinde gänzlich geschmolzen wäre, die sich unter Trübsal und Not und unter dem gefährlichen Einflusse hinterlistig berechneter Nadelstiche und ätzender Gifttropfen um die junge Brust gelegt hatte. Sie war nicht mehr das Landstreicherkind, in dessen Ohren solche Bezeichnung verbitternd wirkte; sie war die Tochter ihrer Eltern, den sie mit kindlichem Gemüt und nie geahnten süßen Empfindungen ihre zärtlichen Huldigungen darbrachte.
Meredith und Esther waren in den Garten hinausgegangen. Vorsichtig lösten sie den mit dem Visier des geisterhaften Ritters in Verbindung stehenden Draht von dem Glockenzuge. Was galten Merdith jetzt noch jene Einrichtungen, darauf berechnet, unheimliche Träumereien ebenso unheimlich zu stören. Ein neues Leben war für sie angebrochen, seitdem sie verlernt hatte, mit krankhafter Eifersucht über ihren Geburtsnamen zu wachen. Hoch über ihr strahlte die helle Mittagsonne. Im Schatten der Ziersträucher schwebte der Duft von Rosen und Jasmin. Falter hingen an den Blüten. Finken und Sperlinge badeten sich flatternd im heißen Sande des Weges. Ein lieblicher Sommertag war es; ein Tag, wie eigens dazu geschaffen, die Herzen zu erweitern, auszuscheiden von ihnen alles Herbe, neue Kraft zu verleihen den zarten Keimen einer geheimnisvoll wirkenden unergründlichen Liebe.