Balduin Möllhausen
Die Hyänen des Kapitals
Balduin Möllhausen

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Erstes Kapitel.

Eine nächtliche Zusammenkunft.

Von unsäglichem Weh will ich erzählen; von Not, Tod und endlosen Seelenqualen. Ich will erzählen von den Hyänen des Kapitals und von ihren Opfern.

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Wohl kostete es mich Überwindung, in einen, viele Monate dauernden geistigen Verkehr mit der Verworfenheit zu treten und mich mit dem Laster zu Tische zu setzen. Doch wenn bei solchem Schaffen der helle Enthusiasmus zu erbleichen drohte, der mich bisher durch zahlreiche Bände hindurch begleitet hatte, so fand ich neue Anregung, indem ich mich in die Schilderung lieber, freundlicher Gestalten versenkte, selbst unter Schutt und elenden Schlacken ein Goldkörnlein hervorzuschärfen trachtete.

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»Quum finis est licitus, etiam media sunt licita«, schloß ich in einem früheren Werke meine Betrachtungen über die verhängnisvolle Konvikterziehung; mit demselben dehnbaren Jesuitenspruche beginne ich heute die »Hyänen des Kapitals«.


»Die Zeiten ändern sich und wir uns mit ihnen! Wie lange ist es her, seit ich ängstlich in deine Augen spähte, jeden helleren Blick zu meinen Gunsten zu deuten trachtete? Wie lange, seit dein erster schüchterner Händedruck mich bis über die Wolken erhob, der erste Kuß von deinen Rosenlippen mich beseligend durchschauerte? Alles, alles dahin!«

»Wer verschuldete den traurigen Wechsel?« tönte es die bittere Anrede ebenso bitter, wenn auch mit sanfterer Stimme zurück.

Der Mann lachte unheimlich.

»Das jetzt noch ergründen zu wollen, wäre überflüssig,« antwortete er; »zwei Steine lösten sich von dem Gipfel eines Berges. Nachbarlich nebeneinander niederwärts rollend, erzeugten sie im gelegentlichen Zusammenstoß einen hellen Ton. Doch wie lange! Erdreich, das ihnen auf der abschüssigen Bahn anhaftete, raubte ihnen den ohnehin dürftigen Wohlklang. Jede kleine Unebenheit des Bodens trug dazu bei, sie einander immer mehr zu entfremden, bis sie endlich, ganz getrennt, verschiedene Wege verfolgten, und, jeder für sich, am Fuße des Berges in einen Abgrund der Vergessenheit hinabsanken. Wie jene kalten, herzlosen Steine schieden auch wir voneinander.«

»Sechzehn Jahre liegen zwischen dem Gipfel des Berges und dem Abgrunde,« sprach schmerzlich aufseufzend die Frau, dann trat dumpfes Schweigen ein.

Draußen heulte der Sturm durch die Wipfel hoher Waldbäume. Die bleigefaßten Scheiben des Fensters zitterten unter der Gewalt, mit der der Regen sie traf. Tief hängendes Gewölk verdichtete die nächtliche Dunkelheit. Mit dieser fielen in eine einzige schwarze Masse der niedrige, strohgedeckte Dorfkrug, die nahe Poststation, das hinter dieser sich ausdehnende Kirchdorf, die vorbeiführende Chaussee, Wald, Flur und Gärten zusammen.

Bis auf einen Knecht, der in dem eigentlichen Schänkzimmer träumend auf der Ofenbank lag, hatten sich alle Bewohner des Kruges zur Ruhe begeben. Und auch er hätte längst seine Lagerstätte im Pferdestall aufgesucht, wäre er nicht durch die beiden Fremden gebunden gewesen.

Kurz vor Abend waren sie eingetroffen: der Mann in einem von ihm selbst gelenkten einspännigen Leiterwagen, die Frau mit der Post aus entgegengesetzter Richtung. Ihren Aufbruch hatten sie von der Ankunft der nächsten Post abhängig gemacht, die gegen ein Uhr erwartet wurde. Bis dahin begnügten sie sich mit dem ihnen eingeräumten Wohnzimmer der Wirtsleute, in dem sie ungestört blieben. Ein einfaches Mahl war für sie aufgetragen worden; allein sie hatten die Speisen kaum angerührt. Desto verschwenderischer nährten sie das Feuer des neben dem weiß übertünchten Ziegelsteinofen in die Wand eingemauerten Kamins.

Der Mann, nahe den Fünfzigern, mochte früher eine angenehme Erscheinung gewesen sein. Heute dagegen ruhte auf seinem gelblich bleichen, von schwarzem Haar beschatteten Gesicht ein so sprechender Ausdruck von Weltverachtung, als ob er schon wer weiß wie lange mit dem Leben abgeschlossen gehabt hätte. Ähnliche Empfindungen prägten sich in seinen müden braunen Augen aus, während eine auf der linken Wange in den Mundwinkel verlaufende Narbe einen Zug böswilligen Hohnes erzeugte. Selbst in seiner vernachlässigten Bekleidung offenbarte sich spöttische Gleichgültigkeit gegen fremdes Urteil.

Ärmlich gekleidet, oder vielmehr ausgestattet mit den verblichenen Resten glücklicherer Tage war auch die neben ihm sitzende Frauengestalt. Vor der Zeit gealtert, das Haar leicht ergraut, zeigte sie das ernste Teilnahme erweckende Bild herber Not und tiefen Grames. Was in ihren abgehärmten Zügen einst bezaubert haben mochte, das war erschlafft und abgestumpft. Die in langer Reihe aufeinander folgenden Täuschungen und Schicksalsschläge hatten die Ärmste zu schwach zum Widerstand gefunden. Von dem Augenblick an, in dem sie ihr Leben für ein verfehltes erkannt hatte, indem die schwere Aufgabe an sie herangetreten war, tückisch herbeischleichenden Mangel vor der Welt zu verheimlichen, betrachtete sie ihr Dasein nur noch als eine Last, die abzuschütteln nur eine Tochter sie hinderte.

»Sechzehn Jahre,« wiederholte der Mann nach einer langen Pause die Worte der tiefgebeugten Frau, »und von diesen fallen nur Monate auf unsern kindischen Glückstraum: alles übrige war elende, nüchterne Wirklichkeit.«

»Durch wessen Schuld?« erneute die Frau träumerisch ihre Frage.

Der Mann lachte feindselig.

»Wälzen wir die Schuld auf den breiten und geduldigen Rücken des Schicksals,« erklärte er spöttisch, »und trösten wir uns mit dem Bewußtsein, zu einem dauernden Glück ebenso berechtigt gewesen zu sein, wie viele Tausend anderer Menschen. Daß es uns versagt blieb? Pah! Wer möchte darüber heute noch Betrachtungen anstellen?«

»Raubte das Schicksal dir, dem gesuchten jungen Arzte, das Vertrauen von Freunden und Gönnern?« hieß es vorwurfsvoll.

»Nicht unmittelbar,« versetzte der Doktor, »allein es verwickelte mich in politische Bestrebungen, die törichterweise einem jungen Arzte nicht gestattet werden. Die alten Freunde verwandelten sich in ebensoviele Feinde; andere Freunde traten an deren Stelle, und wiederum ist es einem übelwollenden Geschick zuzuschreiben, wenn diese, ein kleines Kapital witternd, mich in gewagte Börsenspekulationen hineinzogen und schließlich ruinierten. Doch hinweg mit diesen Rückerinnerungen! Planlos würfelte das Geschick uns zusammen, um uns zu spät zur Erkenntnis gelangen zu lassen, daß wir nicht füreinander paßten. Die aus solchem Bewußtsein entspringende Gleichgültigkeit aber beeinträchtigte unsere Tatkraft; die Not klopfte an unsere Tür, und dann geschah –«

»Es geschah, was zwölf Jahre früher hätte stattfinden sollen,« fiel die Frau mit zitternder Stimme ein, »ich hätte dann wenigstens mein kleines Vermögen gerettet. Wir trennten uns; du bliebst, und ich zog von dannen, um auf einer Stätte, auf der ich nicht gekannt war, für mich und meine arme Tochter zu sorgen.

»Ziehe das Kind nicht in unsere Betrachtungen,« nahm der Mann hastig das Wort, denn es wird nicht mittellos sein. Mein Tod –« er hielt inne. Wie befürchtend, zuviel gesagt zu haben, spähte er um sich. Dann kehrte er sein Antlitz dem Feuer wieder zu. Er war noch bleicher geworden; seine Lippen zuckten unheimlich; die Narbe auf seiner Wange schien sich zu vertiefen, den Ausdruck eines wilden Hohnes verschärfend. Ein Weilchen schürte er zwischen den flackernden Feuerbränden, und fuhr dann eintönig fort:

»Die Summe, zu der ich mein Leben versicherte, erreicht beinahe die Höhe deiner Mitgift. Ich könnte daher kaum etwas Verständigeres tun, als mich hinzulegen und zu sterben.

»Ein Glück für seine arme Frau, wird meine Grabrede lauten, ein Glück für uns alle wirst du selbst denken, wenn du in den unschuldigen Augen unserer Tochter eine Frage nach dem toten Vater entdeckst; – doch nichts mehr davon. Mein Wille ist unerschütterlich; und unsere Esther segnet dereinst ohne Zweifel das Andenken ihres Vaters, der in kluger Voraussicht ihre Zukunft einigermaßen sicherstellte.«

Tiefer neigte die Gattin nach dieser Erklärung das Haupt. Auf ihrem geisterhaft bleichen Antlitz kämpften namenloses Entsetzen und unsägliche Traurigkeit.

»Du warst von Anbeginn mein böser Stern, und wirst es bleiben bis zu meinem letzten Atemzuge,« das war die einzige Erwiderung, zu der sie sich emporzuraffen vermochte.

Heftiger, wie um das hoffnungslose Paar aus seinen düsteren Grübeleien aufzuscheuchen, rüttelte der Sturm an den klirrenden Scheiben. Der Regen prasselte, mit dumpfem Geheul fuhr zuweilen ein Windstoß in den Schlot hinab. In dem morschen Holz der altväterischen Ofenbank nagte vernehmlich eine Totenuhr, scheinbar ihre Arbeit nach dem Takte der bestaubten Wanduhr regelnd. Unempfindlich gegen das geräuschvolle Auftreten der erregten Elemente, schien das stille Paar die enteilenden Sekunden nach dem heiseren Ticken abzuzählen.

Da tönte aus der Ferne das Signal eines Posthorns herüber.

Erschreckt fuhr die Frau empor; ihre Gestalt bebte. Sie wagte nicht, die Blicke zu dem Manne aufzuschlagen, der sich ebenfalls erhoben hatte und sie finster betrachtete.

Wiederum und näher ertönte das Posthorn. Auf dem engen Flur polterte es; die Tür öffnete sich, und der verschlafene Knecht trat ein.

»Es ist Zeit,« sprach er mürrisch, »die Post hält nicht länger, als sie Zeit zum Umspannen gebraucht.«

»Gut,« antwortete der Doktor, indem er seiner Gattin beim Umhängen des Mantels behilflich war, »so mögt Ihr auch mein Fuhrwerk bereithalten. Ich begleite diese Dame zur Station; in fünf Minuten bin ich zurück.«

»Bemühe dich nicht,« versetzte die Frau kaum verständlich, sobald der Knecht verschwunden war, »ich finde den Weg ohne deinen Beistand.«

»Ich begleite dich,« entschied der Doktor barsch, und machte sich ebenfalls reisefertig; »der Leute wegen ist es notwendig.«

Sie traten auf die Chaussee hinaus. Der Postwagen fuhr eben vorüber. Langsam und schwer gegen Sturm und Regen ankämpfend, folgten sie dem beweglichen Schein der Wagenlaternen. Kein Wort mehr wurde zwischen ihnen gewechselt. Erst vor dem Stationsgebäude, als seine Frau im Begriffe war, einzusteigen, reichte der Doktor ihr die Hand.

»Lebe wohl,« sprach er laut genug, um von den im Wagen sitzenden Passagieren und dem leuchtenden Postknecht verstanden zu werden, »lebe wohl und grüße mir unser Töchterchen. Hoffentlich ist die Zeit des Wiedersehens nicht fern. Ich sehne mich nach deiner Pflege, zumal sich häufiger wiederholende Kongestionen mich daran erinnern, daß auch Ärzte sterblich sind.«

Er küßte sie auf die Stirn.

»Auf baldiges Wiedersehen!« Das war sein letztes Wort, und behutsam half er der zu jeder Erwiderung Unfähigen in den Wagen hinein.

Der Kutschenschlag war kaum zugefallen, als der Postillon die Pferde antrieb. Der Postknecht schlüpfte mit seiner Laterne aus dem Unwetter unter Dach und Fach. Aus dem Dorfe schmetterten die munteren Signale herüber, mit denen der scheidende Postillon sein Herz zu erwärmen, allen Stürmen und Regenschauern Hohn zu sprechen schien.

Der Doktor stand noch immer auf derselben Stelle. Erst nachdem der letzte Ton des Horns verklungen war, kehrte er nach dem Kruge zurück. Sein Fuhrwerk hielt vor der Tür: Schweigend bestieg er dasselbe; ein leichter Schlag mit der Peitsche, und das Pferd eilte davon. – –

Vier Wochen waren nach jener stürmischen Herbstnacht verstrichen, als plötzlich die Kunde das Städtchen durchlief, daß der allbekannte Doktor Kabel einem Schlaganfall erlegen sei. Sein frühes Ende wurde von niemand betrauert. Im Gegenteil, das unvorhergesehene Ereignis wurde als ein Glück für die hinterbliebene Witwe und deren Töchterchen angesehen und beiden von Herzen die nicht unerhebliche Versicherungssumme, die durch den Tod des Gatten und Vaters fällig geworden war, gegönnt.

Zwölf Stunden, nachdem der Doktor das Zeitliche gesegnet hatte, traf seine Witwe ein. Um Mitternacht hatte die ihr schleunigst übermittelte Kunde sie erreicht, und um acht Uhr in der Frühe hielt sie schon vor dem Trauerhause.

Die Hausgenossen des Verstorbenen, die mit den unglücklichen ehelichen Verhältnissen vertraut waren, sahen mit Erstaunen wie tief der Verlust des Gatten, von dem sie sich doch freiwillig getrennt hatte, sie ergriff. Sie duldete nicht, daß fremde Hände den Verstorbenen berührten, und wollte nicht einmal da, wo er so viele Jahre hindurch gewirkt hatte, den Entschlafenen beerdigt wissen, sondern in ihrer Nähe, damit sie sein Grab besuchen und pflegen könne.

Am folgenden Morgen in der Frühe wurde der Sarg in ihrer Wohnung, einem winzigen Häuschen des von ihr als Heimat gewählten Ortes, aufgestellt. Die Tochter hatte sie auf einige Tage zu fremden Leuten gegeben, sie selbst aber hielt die Totenwache allein und getreu. Wen in der folgenden Nacht sein Weg dort vorüberführte, der gewahrte deutlich Licht hinter den beiden verhangenen Fenstern, hörte sogar Schritte und das Rücken schwerer Gegenstände, als ob der Verlassenen Trauer sich in qualvollster Rastlosigkeit geäußert hätte. In der zweiten Nacht öffnete sich sogar die Haustür, und eine von Kopf bis zu Füßen dicht verhüllte Gestalt schlüpfte ins Freie hinaus. Behutsam drückte sie die Tür hinter sich zu; dann verschwand sie zwischen den nächsten Häusern.

Nach Tagesanbruch aber, als die schwarzgekleideten Männer kamen, um die Leiche hinauszufahren nach dem Friedhofe, da fanden sie die arme Frau unentkleidet auf ihrem Bette liegen und mit wirren Fieberphantasien kämpfend. Ihre seit Jahren geschwächte Gesundheit hatte den furchtbaren Gemütsbewegungen nicht länger Widerstand zu leisten vermocht. Die Krankheit selber wurde zwar gehoben, allein trotz der sorgenfreien äußeren Lage und der damit verbundenen besseren Pflege wollten ihre Kräfte nicht zurückkehren, und kaum fünf Monate später hielt ihre Tochter, ein vierzehnjähriges Kind, die erste Totenwache am Sarge der Mutter.

 


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