Jules Michelet
Die Liebe
Jules Michelet

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VII. Tod und Trauer.

Schritt haltend mit dem Fortgang meines Daseins, hat mein Gedanke, der unermüdliche Wanderer durch die Geschichte und das Leben, dennoch zwei Gipfel erreicht, auf denen er sich gern niederläßt, um von ihnen herab die Erde zu betrachten. Diese beiden Gipfel sind der Tod und die Liebe.

Von diesem Standpunkte aus erscheint die Erde sehr klein. Die Breite des Raumes ist nichts, und selbst die Länge der Zeit, die Verschiedenheit der Jahrhunderte scheint weniger bedeutend. Unter den verschiedenen Masken erkennt man doch immer den Menschen, wie er von Anfang war, wie er ewig sein wird.

Das hindert mich nicht, hinabzusteigen in die Ebenen und meine Ernte zu halten auf den Gefilden der Geschichte der Menschen und der Natur. Aber ich mache es wie die Schweizer. Des Winters arbeite ich im Thale; wenn die Arbeit gethan ist, ersteige ich wieder die einsamen Gipfel, die meinen Geist beruhigen, weil ich von ihnen herab mit einem Blick den Kampf der Dinge und die tiefe Einigkeit der scheinbaren Gegensätze umspannen kann.

*

Vom Tode geht dieses Buch aus, zum Tode kehrt es zurück.

Man las auf den ersten Seiten: Der gewaltsame Tod hat uns die Frau (also die Liebe) in dem organischen Mysterium, von dem alles seinen Ausgang hat, offenbart.

Der Tod, dieses Buches unsichtbarer treuer Gefährte, hat sich zweimal darin, aber nur von fern, gezeigt und ohne zu treffen. Aber schon so konnte er den Knoten der Liebe fester schürzen, als es sonst möglich gewesen wäre. Einmal schien es, als ob er beim Drama der Niederkunft handelnd auftreten wollte; das zweite Mal schwebte er an dem Bett der Kranken vorüber, und seine Kraft, die Herzen zu vereinigen, zeigte sich darin, daß diesmal eine dauernde Flamme der Liebe daraus hervorbrach, die wir ihre Verjüngung genannt haben.

Aber der Tod hat sein letztes Wort noch nicht gesprochen. Er hält dafür, daß das Leben, welches man für die einzige Bedingung des Daseins hält, doch gewisse Dinge am Dasein verhindere. Er behauptet, daß, wenn noch ein leiser Unterschied zwischen den beiden Seelen besteht, wenn die Frau mit Notwendigkeit sich der Anmut weiht, der Mann dagegen der Gerechtigkeit, dies die Schuld des Lebens sei. Er sagt, daß er allein imstande sei, diese letzte Schranke aus dem Wege zu räumen, daß die Liebe, die es nicht vermag, die vollständige Vereinigung herbeizuführen, der Hilfe ihres ernsten Bruders, des Todes, bedürfe.

*

Dem Manne kommt es zu, zu sterben, der Frau, seinen Tod zu beweinen.

Die allgemeine Erfahrung zeigt es. Die kränkliche Frau, deren Leben oft so trauervoll und thränenreich ist, bleibt Witwe.

Es ist schön für den Mann, vorher zu sterben, jung zu sterben, wenigstens in voller Thatkraft. Sein Bild lebt so fort! Beklagen wir nicht ihn! aber sie! ...

Der vielbeschäftigte, durch die Arbeit in Anspruch genommene Mann fühlte sein Leid, wäre er der Zurückbleibende, weniger, oder weniger lange. Aber wie tief trifft sie der Schlag! Man wagt kaum daran zu denken.

*

Ich erinnere mich noch, als wäre es gestern, daß meine Großmutter, als es in der Nacht nach dem Tage, an welchem mein Großvater beerdigt war, regnete, mit einem Ton, der mich noch jetzt nach vierzig Jahren zu Thränen rührt, ausrief: »Mein Gott, es regnet auf ihn«.

Daran läßt sich nichts ändern; es ist das Wort der Natur. Es wird von allen gesagt und wieder gesagt werden, vielleicht nur leise, vielleicht von Thränen erstickt, jedenfalls aber gedacht werden.

Wenn unser Herz unbeteiligt ist, und unsre Liebe gering, haben wir gut stolz und heroisch sein. Wir senken dann nicht unsre liebsten Hoffnungen, ja unser Leben mit ins offne Grab. Da wird es uns leicht, den Kopf hoch zu halten. Aber wenn der Schmerz unser Herz zusammenschnürt und uns an die Kehle packt, ist es aus mit unserm Stoicismus. Wir sprechen nur: »Es regnet auf ihn«.

Ist denn der Körper eine bloße Hülle, nur ein Kleid, wie sie sagen? Er, der täglich neue Lebensflut trank, der in den unzerstörbaren Knochen die Spuren jeder Leidenschaft, jeder Thätigkeit zeigt, der nach tausend Jahren seine zarten Zähne, die man einst bewunderte, seine schönen Haare, die lebendige Seide, mit der liebe Hände so gern spielten, bewahrt, er hat eine so große Bedeutsamkeit, daß wir das Herz wohl entschuldigen können, wenn es in ihm das geliebte Wesen selbst, welches nun nicht mehr ist, sieht und ausruft: »Es regnet auf ihn!«

*

Es ist im Dezember. Trüb scheint die Sonne über die bereifte Landschaft. Das vormals so belebte Haus ist heute still und schauert beim kalten Hauch des Windes. Der Kamin, um den sich sonst so viele frohe Gesichter drängten, steht verwaist und hat keine rechte erquickende Wärme für die einsame Witwe, die sich fröstelnd nach dem Feuer beugt. In einem Winkel des Zimmers stehen zwei Sitze leer, und werden nun für immer leer stehen: der Lehnsessel, den er, wenn er nach Hause kam, an ihren Stuhl heranschob, in welchem er ihr die Angelegenheiten des verflossenen Tages, die Pläne für den morgenden mitteilte: – und ganz nahe dabei der kleine Rohrsessel, auf dem das Kind herbeirutschte, sich zwischen Vater und Mutter schob, ihr Gespräch unterbrach und den ernsten Gesichtern ein freundliches Lächeln abgewann.

Was blieb von ihr? ein Schatten. Ihre schönen Haare bedecken halb ihre abgemagerte Stirn. Sie ist noch immer elegant, und scheint sogar größer mit ihrer wie vormals schlanken, jugendlichen Taille, wie sie nun mit gesenkten Augen durch die verlassenen Zimmer schreitet. Was gilt ihr jetzt ihr reizendes Gesicht, die schönen Augen, welche die Herzen entzündeten und in denen für ein treues Herz das ganze Schicksal lag! Sie verhüllt alles, soviel als möglich. Aber zwei Schönheiten bleiben, die selbst junge Damen mit Neid erfüllen konnten. Die eine, das Attribut der Reinheit, welches Gott der keuschen Frau, die durch das Leben ohne Schuld gewandelt ist, gern verleiht: der durchsichtige Teint, den nie eine Wolke trübt. Die andere Schönheit, die unsre Witwe schmückt und ihr unter ihrem Trauergewande und ihren schwarzen Schleiern einen geheimnisvollen Reiz verleiht, den sie in der Zeit ihrer Triumphe nicht hatte, ist ihr wunderbar süßer und mächtiger Blick. O, wie ist doch das Auge die wahre Schönheit, eine Schönheit, die uns treu bleibt, die selbst die Zeit zu achten gezwungen ist. Was sage ich? durch sie noch erhöht wird! Leiden und Kummer mögen jeden anderen Reiz zerstört haben; mit dem Blicke aber ist es, wie mit dem Herzen: beide werden durch die Leiden nur verschönert.

Sie verläßt das halb erloschene Feuer, und nähert sich dem Fenster. Es ist ihr lieb, daß der kurze Tag zu Ende geht. Die Hände über dem Herzen, dessen Stimme sie lauscht, faltend, schaut sie hinaus auf die trauernde, winterliche Landschaft. Bald erglänzt der nördliche Himmel von blinkenden Sternen. Der Tod, das Alter, der Winter, der in diesen leuchtenden Nächten so eisig haucht, diese drei düsteren, strengen Gewalten, drängen die ewige Flamme der Liebe nur zurück in das arme, schaudernde Herz.

»Die Welt, die Jugend und ihre Lust waren nur ein halbes Wachen, ein wirrer Traum, in dem meine Liebe nimmer zur Klarheit kommen konnte ... Heute, da ich dir ganz gehöre, ist für mich der Tag angebrochen!«


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