Jules Michelet
Die Liebe
Jules Michelet

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V. Wochenbett und erster Ausgang.

Vor dem Wochenbett und während desselben ist die Unterhaltung der Krankenwärterinnen, Ammen, Nachbarinnen u. s. w. gewöhnlich schädlich und gefährlich für die Kranke. Sie sind redselig und ungeschickt, schwatzen ins Gelag hinein und beunruhigen oft durch unerquickliche Einfälle den schon erschütterten Geist. Manchmal sind es Klatschereien, üble Nachreden und hundert kleine Dummheiten, die eine schädliche Aufregung verursachen. Manchmal sind es tragische Ereignisse, trübe Prophezeiungen, Wundergeschichten, alberne Rezepte u. s. w. u. s. w. Zu keiner Zeit hätte sie dergleichen hören mögen, sie würde ihnen Schweigen geboten haben. Jetzt aber, in ihrem geschwächten, passiven Zustande, macht es einen nur zu starken Eindruck auf sie. Sie behält ihn für sich. Das alles, wohl verstanden, während der Abwesenheit des Gatten, unter den Frauen. Er tritt ins Gemach, man schweigt.

Und doch wäre die erste Bedingung, um ihr wieder aufzuhelfen, die größte Ruhe des Geistes. Das Eindringen einer Fremden in einer solchen Zeit taugt nichts, um wie viel weniger das einer geschwätzigen, dummen, unzarten Person, die, auf ihre Autorität als Krankenwärterin fußend, die Hausordnung umstößt, sich bedienen läßt und mehr Umstände macht, als die Kranke selbst. Die gewöhnliche Dienerin, das gute, einfache, sanfte, gehorsame Landmädchen, die buchstäblich und ohne darüber ihre weisen Bemerkungen zu machen, den Anordnungen des Arztes Folge leistet, hätte auf alle Fälle mehr geleistet. Man würde Ruhe gewonnen haben, und alles wäre beim alten geblieben. Aber der eigentliche Krankenwärter, der mir am meisten Vertrauen einstößt, ist ohne Frage der Gatte selbst. Mit Hilfe jenes Mädchens kann er leicht alles verrichten.

Ich weiß sehr wohl, daß er beschäftigt ist, daß er nur wenig Zeit hat. Er muß, muß sich Zeit schaffen – jetzt oder nie.

Hier gilt es Urlaub nehmen; vertagen, aufschieben, was sich nur immer vertagen und aufschieben läßt. Die Gefahr ist noch nicht vorüber, ja sie ist vielleicht noch größer. Freilich, ihr seht sie lächelnd und schön und geschmückt in ihrem Bett. Das hindert nicht, daß sie noch immer an dem Rande des Grabes weilt. Zur Unzeit geöffnete Thüren oder Fenster, eine Nahrung, die ihr in dem kritischen Momente des Fiebers gereicht wird, irgend etwas, das sie nachteilig aufregt, reicht hin, um sie tödlich zu erschüttern. Wenige Stunden, und alles wäre vorbei.

Selbst die ergebene Dienerin könnte in ihrer Unwissenheit oder in allzu großem Gehorsam gegen die Laune der Kranken wahrend deiner Abwesenheit etwas sehr Schlimmes anrichten. In der That, ich traue niemand außer dir.

Wisse vor allem, daß deine Gegenwart allein das beste Heilmittel ist. Bist du da, so ist sie still, ganz beruhigt; sie schläft ein. Bist du nicht da, so ist ihr nicht wohl; wenn sie schläft, so ist es nur mit einem Auge. Sie fühlt, daß sie die Wärterin, die da ist, sie zu bewachen, ihrerseits wieder bewachen muß. Selbst die treue, aber ein wenig ungeschickte Dienerin macht sie ungeduldig. Und selbst, wenn diese gewandt und ein Ausbund von guten Eigenschaften wäre, so ersetzte sie dich noch immer nicht. Für hundert kleine Liebesdienste bedarf sie eben der geliebten Hand und keiner anderen. Sie muß den Mann, für den sie leidet, in der Nähe haben und ihn auch ein wenig leiden lassen; sie will dir klagen können und von dir beklagt werden, und kurz, wenn sie auch nichts bedarf, nichts spricht, selbst schläft, muß sie doch wissen, daß du da bist.

*

Aber werde ich nicht zu ungeschickt sein? ...« Nein, du wirst es nicht sein. Du kennst deine Talente und dein Verdienst noch nicht. Wenn du dich nicht durch einen lächerlichen Stolz sogenannter Manneswürde (der in diesem Falle nicht allein lächerlich, sondern strafbar ist) zurückhalten läßt, so versichere ich dir, daß du eine unerwartete Geschicklichkeit, eine nicht gewöhnliche Gewandtheit, die den erfahrensten Krankenwärterinnen Scham und Neid einstoßen könnte, entwickeln wirst.

Es ist ein wenig, sehr wenig zu thun und sehr viel nicht zu thun und zu vermeiden. Der Arzt hat dir den Weg bezeichnet, und wo es not thut, wird deine Frau selbst mit wenigen Worten aushelfen können. Es wird ihr Vergnügen gewähren, dich anzuleiten, und ein noch größeres und eine wahre Unterhaltung, dich in Thätigkeit zu sehen. Die Ungeschicklichkeit eines andern würde sie unruhig machen, aber die deinige wird sie in die beste Laune versetzen; deine Geduld wird sie entzücken und in ihr eine vortreffliche Stimmung voll Freudigkeit, selbst Heiterkeit, hervorrufen ... Was thut's? Ein Mann von Geist, der liebt, ist in einem solchen Falle zu glücklich, wenn er sieht, daß diese Eindrücke so vorteilhaft auf ihre Gesundheit wirken.

Wenn deine Eitelkeit darunter leiden sollte, desto besser! Du verdienst das und noch manches dazu. Wer ist denn schuld, wenn nicht du? Wenn man so viel für dich gelitten hat, so ist es nur gerecht, daß du auch deinerseits leidest, daß du auch ein wenig Buße thust.

Und da fällt es dir nun so schwer, eine reizende Frau zu pflegen, die sich ohne dieses Ereignis dir vielleicht niemals so gänzlich hätte anvertrauen mögen. Segne dein Schicksal. Wie viele Männer würden es beneidenswert finden! Alles, was von ihr kommt, ist Gnade für dich.

*

Erhebe dich, mein Freund, zu der Höhe der Situation. Ein gutes Herz und ein guter Mut wissen jedes Ding so anzufassen, daß es ihnen zur Ehre gereicht. Ein von Natur bedeutender, wahrhaft adliger Mensch adelt jedes Amt und verleiht eine gewisse Würde, eine gewisse Anmut selbst solchen Dingen, die in den Händen anderer wenig dazu angethan schienen.

Welches Glück für sie! und wie wird es sie beruhigen und entzücken, dich so voller Eifer zu sehen, dich zu allem verwenden zu können! Offen gestanden, die arme kleine Frau, wenn sie manchmal über dich lacht, ist auch ein wenig lächerlich. Weißt du, was in der äußersten Gefahr ihre größte Furcht war (eine Furcht, die allen Frauen gemeinsam ist – darin sind sie sich alle gleich)? Der Tod? Nein. Und selbst wenn sie seine Schrecken empfunden hätte, so beherrschte sie doch noch ein anderer Gedanke. Welcher? Ich muß es dir wohl sagen, du würdest von selbst nicht darauf kommen; die Furcht, zu mißfallen, irgendwie anzustoßen, unangenehm zu werden.

Wem? Allen, dem Arzte, der Wärterin, selbst ihrem Dienstmädchen, die wie ihr Kind ist und für die sie so viel rücksichtsvolle Güte hat.

Es ist das erste Mal, daß sich die junge Dame vollständig an das Bett gefesselt und nicht imstande sieht, sich selbst zu helfen. Gegen niemand fühlt sie sich ganz frei, alles setzt sie in Verlegenheit. Was sollte aus ihr werden, wenn sie dich nicht hätte?

Es ist nur zu wahr, daß selbst die beste, zarteste, liebenswürdigste Herrin niemals versichert sein kann, daß ihr nicht dies oder jenes von ihrer Dienerin übel ausgelegt wird. Die gefährliche und rührende Lage, in welcher sie sich jetzt befindet, verhindert jene nicht, ein saures Gesicht zu machen. Die Kranke fühlt das alles sehr wohl, und es giebt nur ein Wesen, bei dem sie sicher ist, daß sie ihm stets reizend und liebenswürdig erscheint.

Eines der merkwürdigsten Spiele, welche die Liebe, die allmächtige Herrscherin, mit uns treibt, besteht darin, alle Dinge zu verwandeln, besonders die Sinne auszutauschen und Lügen zu strafen. Alles, was ohne Zweifel dem nicht Liebenden mißfallen würde, ist wohlgefällig für den Liebenden. Wer hat Recht? Ich weiß es nicht. Sind unsere kalten, stumpfen, dumpfen Sinne, die dies und jenes und beinahe alles unangenehm finden, gewiß, gegen diesen höheren Sinn, welchem alle Manifestationen der Natur lieb und angenehm sind, Recht zu haben?

Der Kupferstich eines Künstlers aus dem siebzehnten Jahrhundert, des scherzhaften Abraham Roß, drückt dies sehr naiv aus. Die hübsche Frau liegt im Bett (ohne Zweifel vor kurzer Zeit erst niedergekommen), krank, aber augenscheinlich heiter. Ihre alte, brummige Dienerin entfernt sich, über die kleinen Unbequemlichkeiten des Amtes einer Krankenwärterin sich beklagend. Aber ein anderer tritt an ihre Stelle. Es ist der Gatte, ein junger, eleganter Kavalier im großen Kostüme seiner Zeit, mit gesteifter Krause, Federhut, Stiefeln und Sporen – eine gebräunte spanische, determinierte, militärische Gestalt, bewaffnet nicht mit dem Degen, sondern mit dem heilbringenden Attribut seines neuen Berufs – so steht er da, stolz, und rüstet sich zum Werk. Übrigens voller Feuer und Leben, die Haare in der Luft flatternd, schön wie ein Mann, der sich auf den Feind stürzt. Man sieht Wohl, daß dieser hier vor nichts zurückschreckt, daß er alles zum Austrag bringen wird, daß er weiß und will und kann, was er soll.

*

Nichts vermögen, alles von der Hand des Geliebten erwarten; ihm einzig und allein das ganze Leben anvertrauen, jede Nahrung nur von ihm empfangen – das ist eine noch innigere Vereinigung zweier Wesen, als selbst die der Mutter mit dem Kinde in ihrem Schoße. Denn das Kind that nichts und empfing alles, ohne zu wollen. Aber hier möchte sie nicht einmal etwas thun; sie will empfangen und empfängt und genießt mit ganzer Seele, von ganzem Herzen diesen Zustand der Kindheit.

Er ist ihre ganze Welt; sie lebt und webt nur in ihm. Ihre schönen, liebevollen, schmachtenden Augen folgen ihm überall, wenn er im Zimmer auf den Fußspitzen kommt und geht. Nur aus seiner Hand nimmt sie den Trank, nur aus seiner Hand bald auch die Speise. Selbst die Organe des tierischen, unwillkürlichen Lebens, wie zum Beispiel der Magen, haben sich so daran gewöhnt, daß sie kein Bedürfnis fühlen, wenn er es nicht befriedigen kann. »Er ist nicht da... ich will warten.«

Eine ausgezeichnete Folge dieses Doppellebens besteht darin, daß das Wohlsein der einen Hälfte von dem wohlthätigsten Einfluß auf das Befinden der anderen ist. Sie liebt ihn wegen ihrer Schwäche, ihrer Krankheit; er liebt sie wegen seiner Gesundheit, seines fröhlichen, hoffnungsreichen Lebens. Der Gesunde, Fröhliche, Vertrauensvolle beherrscht den anderen; er reißt ihn wie durch den Einfluß eines höheren Magnetismus mit sich fort und erfüllt ihn mit frischer Lebenskraft.

*

Welche Freude, wenn sie wieder aufstehen kann, wenn er ihr den Garten zeigt und die Veränderungen, die er für sie machte, wenn die Sonne ihr wieder lacht, selbst ihre Tiere sich freuen, sie wiederzusehen, wenn zum erstenmale ihr Lehnstuhl wieder an den Tisch gerückt wird und ihr Platz, der so traurig leer stand, der Platz der jungen Hausfrau, wieder ausgefüllt ist!

Das Gleichgewicht, die Harmonie kommen zurück, und immer durch dich. Und die Genesende heftet lange ihren Blick auf dich und schöpft in deinen Augen Freude, Gesundheit, Kraft und jene Harmonie, die das wahre Leben ist, und zärtlich spricht sie: »Mein ganzes Sein ruht in dir.«

*

Was könnte man doch thun für sie, die so viel gelitten hat? Nur Eines würde eine Entschädigung für sie sein. Wir sind noch zu sehr Barbaren; aber dies wird sicherlich ein Sakrament der kommenden Zeiten werden.

Eine Dame hat mir folgende Idee mitgeteilt: »Nichts beglückt die Mutter mehr,« sagte sie, »als wenn sie, nach Verlauf von vierzig Tagen oder noch später, die Kammer verlassend, am Arme ihres Gatten, in Begleitung der ganzen Familie, aller Verwandten, aller Freunde, auf ihren Armen ihr Kind zum Altar (den ein Gesetz des Jahres 91 in dem Gemeindehause zu errichten befiehlt) trüge, es dem Magistrat nännte und es so in die Republik aufnehmen ließe und ins Leben einführte.«

»Ich bin überzeugt, daß diesem Gefolge von Freunden jeder als Freund folgen würde. Da wäre kein Vorübergehender, der sich nicht dem Zuge anschlösse, um die Mutter zu ehren, um ihr zu danken, daß sie Mutter ist, ihr Glück und Segen zu wünschen.«

*

Sie kehren heim, und ihre dem Gatten wieder zugewendete Zärtlichkeit zeigt sich in einem Überströmen von Liebe und Dankbarkeit. »Da bin ich wieder in unserem Hause. Ich lebe, du hast mir das Leben gegeben, du hast mir mein Kind geschenkt!«

Und wie sie so im Sonnenscheine sitzen, er zu ihren Füßen, beugt sie sich zu ihm nieder, die weiße Rose, und spricht: »Und was soll ich nun dir geben? Du hast mich ja ganz; ich habe nichts mehr für mich behalten ... Dennoch, wenn ich etwas vermag, sag' es ... Fordere selbst das Unmögliche von mir, und ich werde es thun.«

»Du willst es? ... Nun wohl! ich bitte dich« ... »O, alles, was du willst.« – »Laß mich noch klarer in deiner Seele lesen.« – »Und wie? du bist mein zweites Ich; wir haben aufgehört, Zwei zu sein.«

Aber er besteht darauf: »Du hast mir deine Vergangenheit enthüllt, was du thatest, littest, wolltest ... Wie liebte ich dich deshalb um so mehr? Was ich heute von dir fordere, sind deine Gedanken der Zukunft ... Versprich mir, daß du mir deine Träume, deinen Unmut, wenn du je Veranlassung dazu hättest, deine Launen (wer ist ohne die?), deinen Kummer, die Gründe zur Klage, die ich dir geben könnte, sagen willst ... Und wenn das Schicksal wollte, daß eine andere Liebe in dir aufdämmerte, daß deine Ruhe für einen Augenblick getrübt würde – o, dann, wenn du dich krank fühlst, nimm mich zu deinem Arzt! Du wirst bei mir Mitleid und Nachsicht ohne Ende finden. Wir wollen zusammenthun, was wir an Kraft besitzen. Vereinigt werden wir auch dann in dieser Prüfung den Beistand Gottes und der Vernunft nicht vergebens suchen.«

Sie lächelt. »War es das? O, Lieber, wie leicht ist, was du verlangst, für sie, die nur an dich denkt!«

Dann ihn umschlingend in innigster Umarmung, eins mit ihm, spricht sie: »Du warst mein Geliebter, mein Gatte; ich habe dir meine Person und mein Leben gegeben, ja mehr, mein früheres Leben; ich habe dir alle meine kleinen Geheimnisse gesagt. Du bist mein Arzt gewesen, meine liebevolle Wärterin, meine nachsichtige Pflegerin. So siehst du mich denn, jedes Atom in mir, als ob ein Strahl der Sonne mir Leib und Seele durchleuchtete. Und was kannst du dort sehen? Dich selbst. Ich fühle mich in dich verwandelt. Wie solltest du nicht sehen, was in dieses Herz käme, das deines ist? Die schwächsten Keime, das erste Dämmern eines Gefühls – du wirst es mit mir schauen, früher noch als ich.« Und, ihre Hände in die seinen legend:

»Seele meiner Seele, sei gewiß, du wirst meine Seele erkennen, noch bevor sie gedacht hat.«


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