Jules Michelet
Die Liebe
Jules Michelet

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III. Die junge Mutter wird von ihrem Sohn getrennt.

Ich habe Thränen im Herzen, aus mehr als einem Grunde.

Ich bin nicht unempfindlich für meine Zeit, und ich fühle ihre tödlichen Wunden ...

Aber das alles, was mich gegen Privatgefühle abstumpfen könnte, läßt mir doch ein Stückchen vom Herzen, und das blutet um, was ich so oft sah, um die Mutter, die man von ihrem Kinde trennt, die Mutter, der man plötzlich ihr Kind raubt.

Ach! wie kann der Mann diese Barbarei begehen? Weil er Voraussicht hat, antwortet ihr. Wenn das Kind nicht in die Schule geschickt wird, wie soll es einst die Prüfungen bestehen, welche der Staat heischt?

»Weshalb Examina?« sagt die Mutter. Wie, Madame, Sie sind so klug und wissen nicht, daß dies die einzige Mauer ist, die uns noch bleibt? Ohne Examina ist alles Gunst und Gnade, absolute Herrschaft des Königs der Könige, ich meine: des Kammerdieners.

*

Acht, zehn Jahre sind verflossen. Mehrere Kinder wurden geboren, einige davon starben; um so geliebter das, welches blieb. Und von diesem einzigen Kinde soll sie sich trennen. Man zögert einige Zeit, ihrethalben. Aber die Zeit verrinnt, der Vater dringt auf Trennung, und die Trennung wird vollzogen. O, wie sehr verschieden ist die Sache für die beiden, wie ungleich ist das Opfer! Er, durch Arbeiten, Geschäfte in Anspruch genommen und zerstreut, leidet kaum. Aber ihr raubt man das Leben. Das Kind hatte Lektüre, Kunst, alles, was früher das Mädchen beschäftigte, auf die Seite geschoben. Nun geht es fort, und eine grenzenlose Leere breitet sich wie eine Wüste um die Ärmste. Sie ist allein in dem öden Hause. Wenn der Vater abwesend ist, so benutzt sie die größere Freiheit, um in jedem Zimmer zu weinen. Dort wurde er geboren, hier spielte er, dort lernte er lesen. Bei Tische ist es noch schlimmer. Sie will gute Miene machen, ihren Mann nicht betrüben, sich stark zeigen. Sie wagt nicht, jenen leeren Platz anzusehen. Und doch, so oder so, haben ihre Augen sich darauf gerichtet... Schluchzend eilt sie aus dem Zimmer.

Was bleibt ihr? Du. Du umarmst sie, tröstest sie. Aber das ist nicht genug für ein so krankes Herz. Dies Herz ist weit fort, in jener rauhen Schule; es teilt die plötzliche, grausame Veränderung der Lage. Die Unbeweglichkeit für ein bis zu diesem Augenblick so freies Geschöpf, die undankbare abstrakte Arbeit, die lieblose, heftige Zurechtweisung – wen trifft denn alles das, wenn nicht die Mutter, der er schreibt, und alles erzählt? Ich wage nicht, ihre Schmerzen zu schildern; ich habe Mütter gesehen, die darüber in Verzweiflung versanken.

Und das ist noch nicht alles; das Schlimmste ist dies. Man gewöhnt sich an jede Lage; nach Verlauf eines Jahres fühlt er sich weniger unglücklich; er hat Freundschaften geschlossen; er spielt mit Leidenschaft in den kurzen Stunden der Erholung. Und wenn seine Mutter nach einer Woche ungeduldiger Erwartung, in der sie jede Stunde zählte, in tiefer Bewegung anlangt, ihn zu umarmen, so findet sie ihn kalt und zerstreut, sichtlich mit andern Dingen beschäftigt. Sie hat sein Spiel unterbrochen, sie wird ihn um die Stunde bringen; sie spricht zu ihm und er hört nur das Geschrei seiner Kameraden, die sich ohne ihn belustigen... O, wie grausam das ihr Herz zerreißt! Sie fühlt, wie überflüssig sie ihm schon geworden ist; sie hat ihn belästigt, und er hat sie mit Vergnügen scheiden sehen. Sie geht fort, sie weint nicht, der Schmerz hat sie starr gemacht. Aber nach Hause zurückgekommen, bricht sie zusammen ... »Mein Gott, was hast du?« Sie kann nicht sprechen, kaum atmen ...

Welcher Schlag! Sie hat ihren Sohn verloren, ihre Liebe von zehn Jahren ... und eine auf Erden verlorene Liebe – die kommt nicht wieder.

Sie ist rein, sie ist gut, sie stützt sich auf ihren Gatten. Es kommt ihr nicht in den Sinn, eine andere Hilfe, einen andern Trost zu suchen. – Günstiger Augenblick für ihn. wenn er ihn zu ergreifen verstände!

Und das ist fast nie der Fall; zu vieles hat sich verändert.

Zuerst in ihm. Der Mann hat eine gewaltige Strecke Weges zurückgelegt in diesen Jahren, in welchen sie nur an die Kinder dachte. Tausend Prüfungen hat er durchgemacht. Er nähert sich dem wenig poetischen Alter, welches man das gesetzte nennt (vierzig Jahre), und das meistens schon kalt und steril ist. Ist er derselbe geblieben, dieser Mann? Ich will es gern annehmen. Aber wäre er auch ein ganz besonderer Mann, eine Ausnahme, hätte das Leben seinen Kern nicht berührt, jedenfalls hat es die Blüte des Herzens abgestreift, jenen seinen, zarten Sinn, der ihn das Glück einer so süßen Wiedervereinigung fühlen ließe.

Und auch sie hat sich verändert. Wie sehr zu ihrem Vorteil! Ich berufe mich auf Van Dyck. Angenehm im zwanzigsten Jahre, ist sie anbetungswürdig im achtundzwanzigsten. Seltsam! sie ist so zu sagen in eine andere Rangordnung eingetreten. Die erste Jugendschönheit erreicht fast niemals die eigentliche Vollendung. Die Rose war ein wenig bürgerlich, aber königlich ist diese Lilie. Die Zartheit, die makellose Farbe, die hohe Reinheit ihres Teints sagen zur Genüge, daß keine niedrige Leidenschaft dieses Heiligtum berührt hat. Die sichtliche Unschuld läßt sie in ihrer Schwermut noch anziehender erscheinen. Sie leidet, und doch hat sie nichts Böses gethan. »Was fehlt ihr nur?« fragt man. »Sollte ihr Mann sie unglücklich machen? – Nein, aber ihr Sohn ist auf der Schule. Das ist ihre Krankheit.« Man lächelt, und dieser wenig begriffene Kummer, den man kindisch findet, giebt doch noch einem Zweifel Raum. Sie hat noch einen andern Kummer. So glaubt jeder leicht, und alle möchten sie gar zu gern trösten.

*

Das hält schwer. Sie hat ein Grauen vor der großen Welt, die Menge und ihre leeren Zerstreuungen stoßen sie ab. Wenn ihr Mann sie hineinzieht, kommt sie nur melancholischer zurück. »Ach, warum doch unsere alten Gewohnheiten aufgeben! Traurig oder heiter, zu Hause ist es doch besser.«

Wie sehr hat sie recht! wie verständig ist sie! Und bist du wohl weise? Wonach verlangt denn ihr Herz? Nach Liebe und wieder nach Liebe. Ist die Liebe in dir erloschen? Nein, nur abgekühlt, nur zerstreut. Wenn du von Zerstreuung sprichst, so will sie gerade das Gegenteil. Sie verlangt nach Konzentration.

Der Herd ist ein wenig vernachlässigt, die noch glühenden Kohlen liegen hier und da. Nun wohl, es gilt, sie zusammenzuraffen; und das genügt, den Funken zur Flamme anzufachen.

Willst du lieben, sehr lieben, das heißt glücklich sein? ergreife sie in diesem Momente, die reizende Frau, die zu dir zurückkommt, sich in deine Hand giebt. Fasse sie, dränge dich fest an sie, lebe viel mit ihr, und lasse sie nicht allein. So viele lebensvolle Fibern, die vormals von dir zu ihr, von ihr zu dir verwebt waren, werden sich wieder berühren und eure Einigkeit wiederherstellen.

Ich muß es dir nur sagen. Sie ist jetzt reicher an Anmut und Liebe als je. Das Leiden und der Schmerz haben eine neue Frau aus ihr gemacht, indem sie herrliche Quellen des Gefühls, tiefe, für dich unerhörte Quellen des Genusses, einer Lust, von der du keine Ahnung hattest, in ihr erweckten!

Köstlicher Schatz! Und wie thöricht ist der, welcher die Welt einladet, daran teilzunehmen, wenn dieser Schatz nur ein einziges Herz sucht, sich ihm hinzugeben!

*

Die Welt! die weite, weite Welt! ... Bei diesem Worte fühlte sie sich traurig, die junge Frau, und ich traure mit ihr. Das Unendliche, das Unbekannte liegt vor uns. Was werden wir dort finden? Tausend Ahnungen bestürmen uns.

Dieses Buch floß gemächlich dahin, und ich vermochte nicht, es aufzuhalten, Es machte zu frei von der glücklichen Voraussetzung eines einsamen Lebens, einer kleinen harmonischen Welt Gebrauch. Aber wie kann man sich vor der großen verschließen?

Sie verstattet es nicht. Kommst du nicht zu ihr, so kommt sie zu dir, sie braust heran bis an die Schwelle, wie die Woge eines finstern Oceans. Und keine Thür kann sie zurückhalten.

Wer bist du, der du so drohend anpochst? Bist du das Vaterland, die Republik? Bist du die gewaltige Liebe, für welche die Heroen mehr als ihr Leben, für welche sie ihr Herz opferten? ... Ha, bist du das, dann mag die Thür weit sich öffnen! nein, sie stürze, und die Mauern stürzen mit ihr ... Denn wir sind dein, wir gehören dir, Leib und Gut, Geist und Leben. Und diese hier, Frau, wie sie ist, oder besser, weil sie Frau ist, wird uns nicht Lügen strafen. Im Gegenteil. Freundlich und gut gegen die Einzelnen, hat sie ebenso viel Liebe wie wir für die Nationen.

Aber, o Welt! du bist durchaus nicht diese Welt voll Hoheit und Licht. Du bist die Verwirrung und das Chaos. »Und wäre ich es, so werde ich dennoch eintreten, ihr mögt wollen oder nicht. Ich bin euer Schicksal. Ihr verschließt mir die Thür; aber ihr atmet mich, ich bin rings in der Luft. Ihr könnt mir nicht aus dem Wege gehen. Drinnen oder draußen, überall findet ihr mich.

»Ich bin die Verwirrung und die Gefahr, freilich, aber eben deswegen bin ich die heilsame Prüfung; in mir liegt eine Pflicht, die ihr unerschrocken auf euch nehmen müßt. Mein wahrer Name ist: Der Kampf des Lebens.«

*


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