Jules Michelet
Die Liebe
Jules Michelet

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IV. Die Niederkunft.

Wenn ihr auf Erden ein Bild der Angst sehen wollt, betrachtet jenen Mann in diesem großen Augenblick. Eine naive, aufrichtige Angst, die zu stark ist, um unterdrückt werden zu können, und die sich durch Zeichen äußert, die lächerlich erscheinen würden, wenn sie nicht so sehr rührend wären. Ich habe sehr stolze Männer gesehen, die sich ihren Schnurrbart ausrissen. Niedergeschlagen, bleich, entkräftet, flößten sie Mitleid ein. Die Wöchnerin mußte mitten aus ihren Schmerzen heraus rufen: »Fasse doch Mut, Mann, und sei kein solcher Hasenfuß!«

Die Frau lebt in dem Kinde, aber der Mann lebt in der Frau. In dieser fürchterlichen Stunde preßt er sie, hält er sie mit beiden Händen, wie etwas, das sich ihm zu entziehen droht. Aber seine Hände halten nichts ... Sie steht unter einer ganz andern Macht, die sie nach ihrer Seite und wie stark! zieht. Auf Augenblicke schaut sie die Welt an, wo sie noch weilt, die Unruhe ihrer Umgebung, diesen Mann, der außer sich ist ... aber es ist ihr, als ob sie schon vom anderen Ufer herüberschaute.

Die Krisis zieht sich in die Länge. Der Arzt schüttelt den Kopf, er kommt, er geht, er ist nicht zufrieden. Der andere folgt ihm wie sein Hund. Die Furcht hat ihn sehr leutselig gemacht. Seine Kriecherei, seine Schmeicheleien, seine lebhafte und plötzliche Freundschaft für den Mann, den er oft kaum kennt, aber der sein Leben in der Hand hat, – das alles ist wunderlich zu beobachten. Er, der sonst so eifersüchtig ist, er ist es nicht mehr. Er enthüllt ohne Zögern die liebe, ihm heilige Gestalt. Er fragt nicht einmal, ob sie durch diese Profanation leidet. Er nimmt eine strenge Miene an, schilt sie wegen ihrer schamhaften Weigerung. Mit einem Worte, er ist albern, kindisch und wie verrückt.

*

Sie hat ihm über diesen Punkt die vernünftigsten Vorstellungen gemacht. Aber die Furcht ist taub. Sie hat ihm gesagt, daß in diesem großen Frauenwerk eine Frau allein eine nützliche Hilfe ist, daß dagegen der Anblick eines Mannes vielleicht das größte Hindernis werden kann – ein Hindernis, daß für manche vollständig unüberwindlich bleibt, so daß sie darüber sterben können.

Bedenkt, daß meistens alle Hilfe sich darauf reduziert, mit verschränkten Armen zuzusehen. Wenn das Kind nicht gut zum Vorschein kommt, wenn es der Kunst bedarf, so ist die kleine Hand einer Frau, ihre Geschicklichkeit, ihre Gewohnheit, sehr kleine Gegenstände zu berühren, doch sicherlich hilfreicher, als die Faust des Mannes.

Die Frau ist die beste Pflegerin der Frau. Weshalb? Weil sie die Kranke und der Arzt zu gleicher Zeit ist, weil sie leicht bei einer andern die Übel begreift, an denen sie selbst leidet, die Prüfungen, die sie selbst durchgemacht hat. Die Ärzte kennen ihre Wissenschaft sehr wohl, aber die Kranke sehr schlecht. Es sind äußerst wenige, die sich ganz in ein so zartes, so geheimnisvolles Wesen, bei dem das Nervenleben alles ist, hineinversetzen können.

Unsere Ärzte sind eine außerordentlich aufgeklärte Klasse, und nach meiner Ansicht weitaus die vorzüglichste in Frankreich. Keine andere weiß so viel, und so viel Positives. In keiner findet sich so viel Geist und Charakter. Dennoch aber hat ihre rauhe männliche Erziehung auf der Universität und in den Hospitälern, ihre harte chirurgische Wissenschaft, auf die ihr Land mit Stolz sieht, – alle die Eigenschaften haben in diesem Falle eine schlimme Folge. Sie bewirken in ihnen ein Erlöschen jener feinen Gefühligkeit, die allein alles einzelne des weiblichen Mysteriums verstehen, vorhersehen, ahnen könnte. Wer, als die Frau selbst, könnte ohne Impietät den Schoß der Frau berühren, dieses Wunder, wo die Natur sich in Zartheit erschöpft hat.

Die Schuld liegt nicht an den Ärzten, die mir dies, glaube ich, nachfühlen werden. Sie liegt an der Schwäche des Mannes, der in solchen Augenblicken weibischer ist, als die Frau; sie liegt an dem Gatten, den nur die Gegenwart des Doktors beruhigen kann. Dagegen habe ich nichts. Obgleich so viele berühmte Hebammen uns wohl zufrieden stellen, obgleich das Beispiel ganz Europas, wo sie überall vorgezogen werden, ebenfalls unsere Frucht beseitigen könnte, so hindert ja nichts, daß der Arzt zu Rate gezogen werde, vorausgesetzt immer, daß er nicht handelnd eingreife, und selbst nicht zu nahe sei. Sein direktes Eingreifen ist viel mehr geeignet, die Natur zu paralysieren, als zu unterstützen. Die Frauen müssen gehört werden. Wohl, sie sagen es gerade heraus, wenn man es wagt, über einen so zarten Punkt in sie zu dringen, daß alle ihre Kraft in diesem Akte äußerster Anstrengung in der Freiheit der Anstrengung besteht, und daß diese Freiheit Null ist, sobald ein Mann im Zimmer. Es resultieren daraus alle Augenblicke Gezwungenheiten, sich widersprechende Bewegungen. Man will und will nicht. Man agiert und reagiert. Nun werdet ihr sagen, daß sie unrecht haben, daß sie es sich bequem machen und in einer solchen Krisis ihre vorurteilsvolle Scham, ihre Furcht vor Lächerlichkeiten, die sie so demütigen, vergessen sollten. Aber sie sind doch nun einmal so und man muß sie so nehmen. Und der wäre doch wahrlich ein Thor, der mit dem besten Willen, ihnen zu helfen, sie dabei der größten Gefahr aussetzte.

*

Doch brechen wir ab ... Es ist geschehen ... Ein unerhörter Schrei, der nicht von dieser Welt ist, der, scheint es, einer andern Sphäre angehört, ein scharfer, schneidender, wilder Schrei dringt in unser Ohr. Eine kleine blutige Masse liegt da ...

Und das ist nun der Mensch! ... Willkommen, armer Schiffbrüchiger.

Sie war erschöpft hingesunken, aber sie öffnet lebhaft die Augen: »O, mein Kind, da bist du also!«

Und die Hand nach dem Manne, der mehr tot als lebendig ist, ausstreckend: »Ich war resigniert ... Ich hätte den Tod, der mir von dir kam, nicht gescheut«.

*

Es ist ein mächtiger Bund, der heute zwischen ihnen geschlossen ist, eine sehr ernste Ehe, dieser Kontrakt des Schmerzes.

Sie liebt ihn und ist an ihn jetzt durch ein Band gefesselt, welches die Lust nie geknüpft hätte, sie liebt ihn, und ist von ihm durch ein unauslöschliches Zeichen gezeichnet; sie liebt ihn um des Blutes willen, daß sie vergießt, um ihres zerrissenen Fleisches willen, um der fürchterlichen Abspannung willen, in der das Gerüste der Knochen selbst sich zu lösen drohte.

Er, er liebt sie um der Todesangst willen, die er, hilflos, mehr zerschmettert als sie selbst, ausgestanden hat. Die Schwache hat den Starken besiegt. Auch sie hat ihn in ihrer Weise mit einem unauslöschlichen Zeichen der Angst und des Schmerzes gezeichnet.

Welcher Bund, zusammen tot zu sein, ich meine, zusammen den Tod so nahe gesehen, so nahe gefühlt zu haben!

*

Und das ist noch nicht zu Ende. Die Furcht darf noch nicht schlafen gehen. Da liegt sie nun in ihren Gewändern, bleich und rührend, so rührend schön. Ach, wenn ihr ganz die fürchterliche Wirklichkeit kanntet, die diese Schönheit bedeckt!

Du darfst vor nichts zurückbeben, Mann! Diese Eindrücke sind heilsam. Es ist nötig, daß du den großen Meister im Schmerz, die Liebe, wohl kennen lernest ...

»Nein,« wirst du sagen, »schone unser! Lasse uns unsere Poesie; das Schreckliche ist nicht poetisch. Was würde aus ihr selbst, wenn man ihr das abstoßende Bild ihrer zerrissenen Eingeweide zeigte?«

Wohl! ersparen wir ihr diesen Anblick, aber du, du mußt ihn ertragen; und es wird gut für dich sein.

Nichts überwältigt die Sinne so sehr. Wer nicht durch dieses traurige Schauspiel abgehärtet und blasiert ist, bleibt seiner selbst kaum Herr, wenn er eine genaue Abbildung des Uterus nach der Entbindung sieht. Ein Schauder ergreift ihn und kältet ihn bis ins Mark ...

Das war der Eindruck, den dieser unbeschreibliche Anblick auf mich machte, als ich zum erstenmal die ausgezeichneten Kupfer von Bourgery's Buche sah. Eine vortreffliche Abbildung in dem Atlas von Cosie und Gerbes gewährt von demselben Organ einen weniger furchtbaren Anblick, der aber bis zu Thränen rührt. Man sieht es, wenn die Gebärmutter aus ihrem unendlichen Gewebe roter Fasern, die wie Seide, wie Purpurhaare erscheinen, Blutthränen weint.

Diese Blätter von Gerbes, und die meisten nicht einmal mit Unterschriften versehen, dieser wunderbare, einzige Atlas ist ein Tempel der Zukunft, der in einer späteren, besseren Zeit alle Herzen mit religiöser Andacht erfüllen wird. Man muß niederknien, bevor man dies zu schauen wagt.

Das große Geheimnis der Zeugung war noch nie in der Kunst mit seinem ganzen Reiz, mit seiner wahren Heiligkeit erschienen. Ich kenne den außerordentlichen Künstler nicht. Ich bin ihm dankbar, ohne das. Jeder vom Weibe Geborne muß ihm dankbar sein.

Er hat uns die Form, die Farbe, aber viel mehr noch, die Zartheit, die tragische Anmut von alledem, die tiefe Bewegung gegeben. Ist es durch die äußerste Genauigkeit? oder hat er es gefühlt? ich weiß es nicht, aber den Eindruck macht es.

O Heiligtum der Anmut, angethan, alle Herzen zu reinigen, welche Dinge enthüllst du uns?

Wir lernen vor allem daraus, daß die Natur, die so viel Schönheiten an der Außenseite verschwendete, die größten für das Innere aufsparte. Die ergreifendsten sind verborgen, wie vergraben in den Tiefen des Lebens selbst.

Und man lernt daraus auch noch, daß die Liebe etwas Sichtbares ist. Die Zärtlichkeit, mit der uns unsere Mütter überhäufen, ihre köstlichen Liebkosungen und die Süßigkeit ihrer Milch – das alles erkennt, fühlt, ahnt man und betet man an in diesem unaussprechlichen Heiligtum der Liebe und des Schmerzes.


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