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23. Kapitel.

Der Graf hatte betend die Hände gefaltet und war in die Knie gesunken. Bernardo sah dies nicht, aber er fühlte es, und seine ganze Seele schloß sich dem Flehen des Grafen an. Es entstand eine Pause, in der in dem nachtfinsteren Loch die Stille des Todes herrschte, bis endlich der Gärtner sagte:

»Wir wollen uns fassen und ermannen, gnädiger Herr. Gott ist die Liebe, er wird uns helfen, aber nur durch uns selbst!« – »Ja, du hast recht«, antwortete der Angeredete, sich wieder vom Boden erhebend. »Wir wollen trotz unserer elenden Lage nicht verzweifeln, sondern Hoffnung hegen. Wir wollen uns kaltblütig beraten und überlegen, auf welche Weise wir entkommen können.«

Diese Beratung dauerte lange Zeit, doch endlich hatten sie alle Einzelheiten der Flucht erwogen und durften auf die Möglichkeit des Gelingens derselben hoffen.

Der alte Graf war voll Begeisterung für den Fluchtplan, ebenso aber auch der Gärtner. Dieser fiel sofort ein:

»Wollen wir nicht sogleich beginnen?« – »O wie gern! Aber leider geht es nicht an; wir müssen Geduld haben und warten.« – »Warum?« – »Weil wir mehrere Stunden dazu brauchten, um nur hinaus bis zu den Kamelen zu gelangen, und dazu ist es heute zu spät. Man würde unsere Flucht zu zeitig entdecken und uns nahe auf den Fersen bleiben. Dann wären wir jedenfalls verloren.« – »Das sehe ich nicht ein«, warf der Gärtner ein. – »So kennst du dieses Land nicht. Wir wissen noch gar nicht, ob wir uns nach Seila oder Berbera wagen dürfen, und dies sind die beiden Häfen, die uns am nächsten liegen. Vielleicht müssen wir uns an der Küste verstecken, um ein vorübersegelndes Schiff zu erwarten. Dort würden wir ganz sicher eingeholt. Nein, wir müssen unbedingt bis morgen abend warten.« – »Gut, ich füge mich, Don Ferdinando. Aber eins können wir bereits jetzt tun.« – »Was?« – »Wir können versuchen, ob es uns gelingt, den Stein zu bewältigen.« »Da gebe ich dir allerdings recht. Gelingt uns das, so wird uns die Überzeugung beruhigen, daß wir zu jeder Stunde unseren Kerker verlassen können, gelingt es aber nicht, so wissen wir dann doch, daß wir uns einen anderen Weg aus dem Gefängnis bahnen müssen; denn hinaus müssen wir, auf jeden Fall und um jeden Preis.« – »So wollen wir hinüber zu mir gehen. Ich werde voransteigen.«

Der Gärtner turnte sich an der Mauer empor, und der Graf folgte ihm. Sie gelangten ohne besondere Mühe durch die Öffnung hinüber in das andere Loch. Dieses hatte, wie Don Ferdinando sich überzeugen konnte, dieselbe Breite und auch Tiefe wie das seinige. Es war also auch hier möglich, nach Schornsteinfegerart emporzuklettem.

»Fühlt Ihr die Ratten, die ich getötet habe, Señor?« fragte Bernardo. – »Ja. Aber komm, wir wollen in die Höhe.« – »Laßt mich voran, weil ich bereits oben gewesen bin.«

Der Gärtner schob sich in die Höhe, hüben mit dem Rücken und drüben mit den Füßen anliegend; Don Ferdinando folgte ihm schneller nach, als man es bei seinem Alter erwartet hätte. Fünf Fuß vom Boden entfernt machte das Loch eine Biegung zur Seite. Es ging unter der Gefängnismauer schief hindurch und wurde dann etwas weiter. So gelangten sie, ohne sich besonders angestrengt zu haben, zu der Steinplatte, die ihnen die Freiheit verschloß.

»Nun gilt es, Señor«, sagte Bernardo. »Kommt herbei; wir wollen probieren.«

Sie fanden wirklich Platz nebeneinander, und da das Loch nicht senkrecht, sondern in einem halbrechten Winkel hier nach oben führte, so konnten sie festen Halt fassen und doch den größten Teil ihrer Kraft auf die Bewegung der Platte verwenden. Erst schien sie doch zu schwer zu sei, aber bei dem zweiten Stoß wich sie und schob sich ein wenig zur Seite, so daß eine Lücke entstand, durch die der Sternenhimmel zu erblicken war.

»Gott und allen Heiligen sei Dank, es geht«, flüsterte der Graf. »Hier gibt es frische Luft, anstatt des bestialischen Gestanks da unten. Mir ist, als ob uns die Sterne das Gelingen unseres Planes zublinkten. Verstehst du es, an den Sternen die Zeit zu erkennen?« – »Ja. Es ist bereits nach Mitternacht.« – »Es wäre also zu spät, unser Werk zu beginnen. Wie still und lautlos ist es ringsum. Harrar liegt in tiefster Ruhe. Dort drüben bei Hadschi Amandan stehen noch die Dattelsäcke, die er heute erhalten hat; ich erkenne sie, trotzdem es sehr finster ist.« – »Dattelsäcke?« fragte der Gärtner. »Ah, wenn man sich da etwas holen dürfte! Ich habe seit einigen Tagen nichts zu essen bekommen.«

Die Augen des Grafen schweiften forschend zur Lücke hinaus. Nach einer Weile sagte er:

»Eigentlich ist dieser Wunsch unvorsichtig zu nennen, aber wir müssen bedenken, daß wir morgen aller unserer Kräfte bedürfen. Bei mir ist der Durst größer als der Hunger, und ich weiß, daß unter dem Dach des Hadschi ein Schlauch voll Wasser hängt. Wollen wir es wagen, Bernardo?« – »Warum nicht? Wer kann uns bemerken?« – »Gut! Wir heben den Stein vollends fort und kriechen am Boden hin, damit wir ganz sicher sind, daß uns niemand bemerkt.« – »Erst will ich mein Messer holen. Man weiß nicht, was passieren kann.«

Der Gärtner kehrte nach unten zurück und kam bald wieder, das Messer zwischen den Zähnen.

Nun stemmten sie sich abermals mit aller Kraft gegen den Stein und brachten ihn auf die Seite. Jetzt konnten sie heraus zur Erde steigen, dann legten sie sich auf den Boden nieder und krochen auf Händen und Füßen vorwärts, nach dem Gebäude zu, unter dessen Dach die Dattelsäcke standen. Über ihnen hing der Schlauch, von dem der Graf gesprochen hatte. Er trat hinzu und wollte trinken, aber der Gärtner faßte ihn beim Arm und flüsterte:

»Warum jetzt trinken, Señor?« – »Wann sonst?« – »Später. Bedenkt, daß dieser Schlauch uns notwendiger ist, als diesem Hadschi. Ich mache den Vorschlag, wir nehmen ihn mit.« – »Man wird bei Tagesanbruch entdecken, daß er fehlt.« – »Was schadet das uns?«

Der Gärtner warf sich einen der gefüllten Dattelsäcke auf die Schulter und sagte:

»Nehmt Ihr den Schlauch, Señor; dann können wir schmausen und trinken.«

Nach diesen Worten huschte er in größter Eile nach dem Gefängnis hinüber, und der Graf konnte nicht anders, er mußte ihm mit dem Schlauch folgen.

Erst wurde nun der Sack und darauf der Schlauch hinuntergelassen; dann folgten die beiden nach. Sie fanden da unten freilich gerade Platz genug zum Stehen für zwei Männer, aber sie konnten nun doch ihren Hunger und Durst löschen. Dann kehrten sie wieder nach oben zurück, wo es ihnen möglich war, frische Luft zu atmen, bis zur Zeit, in der sich die Bewohner Harras von ihrer Ruhe zu erheben pflegen.

Hier lagen sie vor der Mündung ihres Loches und besprachen die geplante Flucht. Dabei schien der Graf eine Sorge zu haben, denn er sagte:

»Wenn wir nur jetzt nicht eine Dummheit begangen haben, Bernardo. Wir hätten auf die Datteln und auf das Wasser verzichten sollen.« – »Warum?« fragte der Gärtner. – »Weil uns das in eine schlimme Lage bringen und uns unsere ganze Flucht vereiteln kann.« – »Da möchte ich denn doch wissen, wie!« – »Wir müssen bedenken, daß man hier keine Wohnung zu verschließen und alles öffentlich stehen zu lassen pflegt. Die Bewohner dieses Landes sind zwar die niederträchtigsten Räuber und Spitzbuben gegen andere, aber unter sich selbst sind sie die ehrlichsten Kerle. Man wird bei Tagesanbruch den Diebstahl bemerken und sich darüber entsetzen. Man wird Nachforschungen halten, und wenn man dann entdeckt, daß wir die Täter sind, so werden alle Hoffnungen zuschanden, und wir fallen einem fürchterlichen Tode anheim.«

Der Gärtner schüttelte den Kopf und meinte:

»Wenn Ihr weiter keine Sorge habt, so brauchen wir nicht bange zu sein, denn ich wüßte nicht, wie diese Leute entdecken sollten, daß wir die Täter sind.« – »Wenn sie unsere Spur finden.« – »Bah! Es ist ja ganz unmöglich, daß wir eine Spur hinterlassen haben. Wir sind beide barfuß, und der Boden ist so hart und fest wie Stein. An uns wird man am allerwenigsten denken; wir sind ja Gefangene und können unsere Löcher gar nicht verlassen. Übrigens können wir uns einer sehr guten Tat rühmen. Wenn wir fliehen, lassen wir natürlich den Schlauch und die Datteln zurück, und dieser Speisevorrat wird meinem unglücklichen Nachfolger zugute kommen und ihn lange vor dem Verhungern schützen.«

So tauschten diese beiden ihre Meinungen aus, und erst als ein entferntes Geräusch bemerken ließ, daß die Bewohner der Stadt zu erwachen begannen, brachten sie die Platte wieder in ihre Lage und rutschten in das Loch zurück. Dort fragte der Gärtner:

»Bleiben wir beieinander, Señor?« – »Nein«, antwortete der Graf. »Das wäre eine Unvorsichtigkeit. Es ist leicht möglich, daß man einen von uns zu sehen oder zu sprechen verlangt. Ich kehre in mein Loch zurück, und wir setzen einstweilen die ausgebrochenen Steine wieder in die Zwischenwand. Die Vorsicht gebietet uns dies, wenn wir das Gelingen unseres Planes nicht ganz auf das Spiel setzen wollen.«

Sie taten beide nach diesen Worten, und es sollte sich im Laufe des Tages zeigen, daß es sehr klug gewesen war, diese Vorsicht angewandt zu haben.


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