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15. Kapitel.

An derselben Ecke, an der er sie erwartet hatte, nahmen Kurt und Röschen Abschied von Platen.

»Was werden Sie tun?« fragte dieser. »Sich freiwillig melden?« – »Ich weiß es noch nicht«, antwortete Kurt. »Die freiwillige Meldung wird wohl das beste sein. Zunächst bin ich müde und werde mich ausruhen, dann wird es sich ja finden, was zu beschließen ist.« – »Bei mir ist von Schlaf keine Rede, denn der Dienst hält mich wach. Nun fehlen der Oberst und Ravenow. Ich ahne, daß ich heute einen sehr unruhigen Tag haben werde. Adieu, lieber Helmers. Adieu, gnädiges Fräulein!«

Platen fuhr mit seinem Wagen davon, während das schöne junge Paar die kurze Strecke bis zum Palais zu Fuß zurücklegte.

Dort war noch niemand wach, und sie konnten eintreten, ohne bemerkt zu werden. Röschen begleitete Kurt zunächst nach seinem Zimmer, der Weg nach dem ihrigen führte dort vorüber. Er öffnete und trat ein, und sie folgte, um sich da von ihm zu verabschieden.

»Weißt du wirklich nicht, was du tun wirst?« fragte sie ihn. – »Nein. Eigentlich hätte ich meinem Obersten Mitteilung von der Sache zu machen, da dieser aber selbst beteiligt war, so verbietet sich das von selbst. Wir wollen ausruhen, Röschen, dann werden wir uns überlegen, was zu tun ist. Für jetzt danke ich Gott, daß ich dem Tode entgangen bin, dem ich geweiht war. Weißt du, unter welchem Schutz ich in dieser Gefahr gestanden habe?« – »Nun?« – »Unter dem deinigen.« – »O nein«, lächelte sie. »Du hättest ja sogar meinen dummen Angstruf fast mit dem Leben bezahlen müssen!« – »Aber ich hatte den Talisman bei mir, den du mir gegeben hast.« – »Ah, meine Schleife! Ja, du warst ein tapferer Ritter und hast die Ehre deines Burgfräuleins gar wacker verteidigt.« – »Was aber soll mit dem Talisman werden? Forderst du ihn zurück?«

Sie errötete, sagte aber:

»Das wird sich auch finden, wenn wir ausgeruht haben. Solche wichtigen Dinge müssen genau überlegt sein.« – »Jetzt bist du einmal eine recht böse Rosita!« schmollte er. – »Warum?« – »Weil du nicht Wort hältst. Du versprachst mir ja die Entscheidung für jetzt. Sie sollte von dem Kampf abhängen.« – »Hm, ja, es ist möglich, daß ich dies gesagt habe. Aber ist es mit dieser Entscheidung denn gar so sehr eilig?« – »Das versteht sich!« lachte er fröhlich. »Ich muß wirklich wissen, ob der Talisman eingelöst werden soll oder nicht« – »Mit einem Kuß?« – »Ja, mit einem Kuß.«

Sie stand vor ihm so hold und lieblich. Die Morgensonne blickte zum Fenster herein und umarmte das schöne Mädchen mit warmen Strahlen. Waren diese Strahlen schuld oder etwas anderes, daß ihre Augen auf einmal so tief erglänzten und ihre Wangen sich so zauberisch färbten?

Da legte sie ihm die Hand auf den Arm und sagte:

»Lieber Kurt, weißt du, daß ich mit dir recht sehr zufrieden bin? Du warst ein wirklicher, echter Held, du konntest beide töten und hast es doch nicht getan. Du hast, um mich zu rächen, dein Leben gewagt, darum will ich den Talisman einlösen, wenn es dir recht ist.« – »Mit einem Kuß?« fragte er, jetzt beinahe selbst errötend. – »Ja, denn so war es doch ausgemacht.« – »Und jetzt gleich?« – »Natürlich! Du hattest es ja sogar sehr eilig!«

Da griff er in die Brust zog die Schleife hervor und reichte sie ihr hin.

»Hier ist sie, Rosita.« – »Und hier ist der Kuß.«

Sie legte ihm schnell die kleinen Händchen auf die Schultern, näherte ihr gespitztes Mündchen seinen Lippen und gab ihm einen Kuß, so fein, so vorsichtig, wie ein spielendes Kind seine Puppe küßt.

»Ah, das ist ein Kuß?« fragte er, doch ein wenig enttäuscht.

Er hatte nicht einmal den Arm um sie legen können, so schnell war sie zurückgewichen.

»Ich denke«, lachte sie schelmisch. »Oder war es etwas anderes?« – »Es war ein Kuß, aber so einer, wie man zum Beispiel eine alte Tante küßt, die eine recht häßliche, lange Nase hat und einige Warzen darauf.« – »Hast du schon viele Tanten geküßt, weil du das so genau weißt?« – »O nein, denn alte Tanten küßt man nicht sehr gern.« – »Wen sonst?« – »Junge, hübsche Röschen!« antwortete er. – »Geh, das sollst du mir nicht sagen! Dafür muß ich dich bestrafen. Ich mag nun deinen Talisman gar nicht. Hier, nimm ihn wieder.«

Er griff hastig nach der Schleife, legte sie hinter sich auf den Tisch und meinte mit einer sehr wichtigen Miene.

»Aber das geht nicht so schnell!« – »Was denn, lieber Kurt?« – »Die Rücklieferung eines Talismans. In so wichtigen Dingen muß man sehr gerecht und uneigennützig handeln.« – »Das bist du stets. Aber wie ist das hier gemeint?« – »Du hattest den Talisman bezahlt. Wenn du mir ihn wiedergibst, so bin ich verpflichtet, dir den Preis zurückzuerstatten.«

Er sah sie mit Augen an, wie sie es bei ihm noch nicht bemerkt hatte. Ihr Herzchen klopfte, es wurde ihr so warm auf der Stirn und an den Schläfen, so heißt auf den Wangen, es war ihr, als ob ihre Knie ein wenig zitterten. Und plötzlich wurde es ihr so rot vor den Augen, dann dunkler und immer dunkler. Sah sie nicht mehr, oder hatte sie die Augen zugemacht? Sie wußte es selbst nicht. Sie fühlte nur, daß sich ein Arm ihr um die Schulter legte, dann schlang sich ein anderer um ihre Taille. Sie stand gar nicht mehr im Zimmer, sondern sie flog durch den Äther, ja wirklich, sie hatte Flügel, und rund um sie glänzten tausend Sonnen, Millionen Engel sangen wundersüße Psalmen, und der liebe Gott blickte so gnädig in all den Jubel drein. Das sah und das hörte, das fühlte sie. Und doch war es nur ein Traum, der höchstens einige Augenblicke gedauert hatte, denn sie war ja wieder auf der Erde, hier im Zimmer. Sie fühlte sich von den beiden Armen leise gezogen, bis ihr Köpfchen an einem Herzen lag, welches sie laut und heftig pochen hörte. Und dann legten sich zwei Finger warm unter ihr Kinn, um dasselbe sanft und leise emporzuheben, und eine Stimme, die sie gar wohl kannte, aber noch nie so mild, so tief erzitternd gehört hatte, sagte in flehendem Ton:

»Rosita, bitte, mache deine lieben Augen auf!«

Sie konnte nicht antworten, denn ihr Herz war zum Zerspringen voll, aber es war kein einziges Wort darin. Und wieder bat diese klare, innige Stimme:

»Röschen, liebes Röschen, blicke mich doch einmal an.« – »Nein!« hauchte sie, so daß er es kaum hören konnte. – »Warum nicht?« – »Ich kann nicht.« – »Weshalb nicht?« – »Weil – weil ich mich so sehr fürchte.« – »Vor mir etwa? Bist du mir vielleicht bös, meine Rosita?« – »O nein, lieber Kurt!« – »Gar nicht?« – »Gar nicht!« flüsterte sie. – »Oh, dann will ich dir die Augen heilen, die du nicht öffnen kannst«

Und jetzt fühlte sie zwei warme Lippen erst auf dem rechten und dann auf dem linken Auge. Nun drückten sie sich gar auf die beiden neckischen Grübchen in den Wangen. Das war doch sonderbar, so daß man die Augen wirklich öffnen mußte, wenn auch nur ein ganz klein wenig. Aber sie schlossen sich sofort wieder, denn sie wurden förmlich geblendet von einem Blick, der von oben herab in sie hineinleuchtete wie ein heller, wonniger Sonnenstrahl in das kristallene Blau eines tiefen, jungfräulichen Bergsees. Und dann erschrak sie so sehr, daß sie am ganzen Körper zusammenzuckte, denn die beiden warmen Lippen berührten nun sogar ihren Mund, erst leise, wie sich die Augenwimpern auf die Lider legen, dann fester und fester – war denn das ein Kuß? Nein, das war ein großer, ein gewaltiger Raub, ihre Seele wurde ihr genommen, sie fühlte, wie dieselbe durch die Lippen entwich, hinüber zu dem, in dessen Armen sie lag, in den Armen, die sich jetzt um sie schlangen, so warm und fest und innig. Und seine Lippen lösten und senkten sich immer wieder auf ihren Mund. Sollte sie sich wehren? O nein, sie war ja gefangen, sie konnte ja nicht. Und bös war sie ja auch nicht auf ihn, denn da jetzt seine leise Frage erklang: »Zürnst du mir, meine Rosita?«, da trieb es sie aus der tiefsten Tiefe ihres Inneren, ihm zu antworten:

»Nein, mein lieber Kurt.«

Und nun küßte er sie wieder, sie konnte gar nicht zählen, wie viele Male, bis draußen auf dem Korridor der schlürfende Schritt des Hausmeisters erklang, der sein Tagewerk beginnen wollte.

Jetzt öffnete sie die Augen, denn Kurt hatte seine Arme von ihr genommen, so rasch, als ob der alte Hausmeister hätte eintreten wollen. Er stand vor ihr, so wie sie ihn noch niemals gesehen hatte. Das waren seine Augen nicht mehr und auch sein Gesicht nicht, und dennoch war er es. Kam es vielleicht daher, daß ihre Seele zu ihm hinübergegangen war? Und jetzt nahm er sie bei den Händen, schaute ihr tief in die Augen und sagte mit einem Lächeln, wie sie es vorhin bei den Engeln im Himmel gesehen hatte:

»Siehst du, meine liebe Rosita, das war ein Kuß.«

Bei diesem Ton seiner Stimme kehrte ihr voriges Wesen zurück, so daß sie neckisch fragen konnte:

»Nicht wie bei einer Tante?« – »Bei einer alten!« – »Mit einer langen Nase?« – »Und vielen Warzen darauf!«

Und nun lachten die beiden so herzlich über die Tante und die Nase und die Warzen, daß sie es gar nicht merkte, daß er ihr wieder einen Kuß gab und noch einen und noch mehrere und viele, bis die Nase doch nicht ganz so lang war wie die lange Reihe von Küssen und sie endlich voreinanderstanden und sich nur noch bei den Händen hielten, um Abschied voneinander zu nehmen.

Sie hatten beide das Duell vergessen, er hatte ferner ganz und gar vergessen, daß sein Vater ein Schiffer sei, und sie ebenso, daß sie die Enkelin eines Herzogs war. Und daran war nur der lange, süße Kuß schuld gewesen.

»Nun gehe ich«, sagte sie, als müsse sie sich entschuldigen. »Oh, wie ist das so schade«, antwortete er, als habe er ein entsetzlich großes Recht auf ihre Gegenwart.

Dafür mußte er gestraft werden. Daher entzog sie ihm ihre beiden kleinen Händchen und wandte sich nach der Tür, um zu gehen. Aber der Mensch ist leider so inkonsequent, sie drehte sich gleich wieder herum, gab ihm ihre Hände zurück und meinte:

»Ich muß aber dennoch gehen, lieber Kurt. Nicht wahr, das siehst du auch ein?«

Er machte nun zwar ein Gesicht, als ob er das ganz und gar nicht einsehe, aber ein tapferer Ritter gibt seinem Burgfräulein immer recht, er ist ihr dies schuldig, und darum stimmte er so ziemlich bei, indem er antwortete:

»Ja, liebes Röschen, es scheint mir wirklich so, als ob ich es beinahe einsehe.« – »Siehst du! So schlafe dich aus. Gute Nacht!« – »Gute Nacht, Rosita!«

Und nun ging sie wirklich, denn sie öffnete wahrhaftig die Tür, ehe sie dieselbe wieder heranzog, wobei sie eine Miene machte, als ob sie sich auf etwas Hochwichtiges besonnen habe. Dann hob sie warnend den rosigen Finger empor, zog die dunklen Brauen geheimnisvoll in die Höhe und flüsterte im Ton einer intimen Bekanntmachung:

»Wir hätten eigentlich nicht gute Nacht sagen sollen, sondern guten Morgen.«

Er sah sich nach dem Fenster um, um zu sehen, ob sie recht habe, doch wunderbar, er kam ihr dabei immer näher, obgleich zwischen ihr und dem Fenster, durch das er sah, das ganze Zimmer lag. Und als er sich ein genügendes Urteil über die da draußen herrschende Morgenhelle gebildet hatte und sich umdrehte, da fühlte er, daß auf eine ganz unbegreifliche Weise ihre Hand in die seinige gekommen war. Ihr Gesichtchen befand sich merkwürdig nahe an dem seinigen, und er fühlte sich darüber so erschrocken, daß er auf ihre wiederholte Erkundigung: »Nicht wahr, lieber Kurt?« zuerst mit einem Kuß antwortete und dann erst in regelrechter Weise sein Gutachten abgab:

»Ja, mir scheint es auch so.«

Er bewies die Wahrheit dieser Ansicht mit einem zweiten Kuß, der eine so feste Überzeugung in ihrem Herzen bewirkte, daß sie nun außer allem Zweifel war und infolgedessen unter seinem letzten Händedruck ihn bat:

»So wollen wir sagen: Guten Morgen, lieber Kurt!« – »Guten Morgen, meine liebe Rosita! Ich werde ganz gewiß von dir träumen!« – »Schönes?« – »Sehr Liebes und Schönes!« – »Du wirst es mir erzählen?« – »Sehr gern!« – »Und nichts weglassen?« – »Gar nichts!«

Aber weil ihm doch vom vielen und langen Küssen träumen würde und er bei der Erzählung vielleicht einen vergessen konnte, war er so klug, sich gerade diesen einen noch vorweg zu nehmen, wobei beide bereits draußen auf dem Korridor standen. Doch dauerte dieser Kuß nicht allzu lange, denn die Hausglocke erschallte, und ein sehr unmelodisches, blechernes Klirren ließ vermuten, daß die Milchfrau unten stehe. Die beiden fuhren auseinander, er in sein Zimmer hinein und sie mit leisen Schritten den Korridor entlang in das ihrige. Und als sie beide nun allein waren, stand er hinter seiner Tür und flüsterte, die Hände auf dem Herzen:

»Oh, wie liebe, wie liebe ich sie!«

Und sie stand hinter der ihrigen, holte tief Atem, hielt die Hände über dem Busen gefaltet, der seine Hülle beinahe zersprengen wollte, und flüsterte:

»Was war das? Was habe ich getan! O mein Gott, das darf ich Mama gar nicht sagen, nein, niemals, niemals!«

Sie ging in ihrem Zimmer auf und ab, sie wußte nicht, was sie fühlte und dachte. So wanderte sie langsam, aber ruhelos, bis endlich geklopft wurde und sie das Mädchen einlassen mußte, das sie zu bedienen hatte. Dieses wunderte sich, die Herrin bereits wach zu finden, aber sein Erstaunen wuchs, als es in das Nebenkabinett trat und das unberührte Bett bemerkte.

»Mein Gott, Sie haben gar nicht geschlafen?« fragte es. – »Nein«, lautete die kurze Antwort. »Bringe die Schokolade, und dann kleide ich mich an.« – »Welche Robe?« – »Die penseeseidene. Ich fahre aus.« – »So früh?!« – »Es ist notwendig. Sage dem Kutscher, daß er anspannen möge.«

Es war acht Uhr und noch gar keine Visitenzeit, als der Diener den Schlag öffnete, um Rosita in die Equipage steigen zu lassen.

»Zum Kriegsminister«, befahl sie dem Kutscher.

Der Wagen rollte fort, ohne daß Kurt ihn sah oder hörte, denn er lag jetzt eben in den schönen Träumen, die er seiner Rosita erzählen wollte.

Seine Exzellenz waren noch nicht zu sprechen, und so mußte man warten, der Kutscher unten auf der Straße auf seinem Bock und Röschen oben im Salon, denn der Diener hatte es nicht gewagt, ihr zuzumuten, im Vorzimmer zu bleiben.

Als der Minister sich erhob, hörte er, daß ein Fräulein Sternau ihn um eine Unterredung ersuche, die so dringlich sei, daß sie es gewagt habe, ihn in so früher Stunde zu belästigen. Er kannte diesen Namen nur zu gut und beeilte sich in seiner Toilette so, daß er bereits nach zehn Minuten vor ihr stand.

Der im Vorzimmer postierte Diener hörte die Dame viel und zusammenhängend sprechen, sie schien etwas zu erzählen. Dann folgte ein lebhaftes Zwiegespräch, und als Fräulein Sternau den Salon verließ, glänzte auf ihrem Gesicht die Freude eines errungenen Erfolges. Seine Exzellenz begleitete sie höchstselbst bis zum Wagen und gab, in das Zimmer zurückkehrend, den Befehl, sofort den Leutnant Platen von den Gardehusaren zur Audienz zu beordern.

Als Röschen nach Hause zurückkehrte, fand sie die Ihrigen versammelt. Man hatte sich gewundert, daß sie ausgefahren war, und als sie fallenließ, daß sie vom Kriegsminister komme, richtete man eine solche Menge von Fragen an sie, daß sie es endlich am geratensten hielt, alles zu erzählen.


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