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Fünftes Kapitel

Kurz vor Weihnachten erschien in der Wilhelmstraße ganz überraschend Carolyne Wittgenstein. Sie fuhr in einer Karosse der russischen Botschaft vor und wohnte auch dort, wie um zu beweisen, daß sie beim Zaren keineswegs in Ungnade und noch immer eine große Dame des Petersburger Hofes sei.

Sie sagte Frau von Bülow, bei der sie sich nur zwei Stunden vorher hatte anmelden lassen, daß sie auf wenige Tage nach Berlin gekommen wäre, um Einkäufe zu erledigen und sich nach dem Befinden der beiden jungen Mädchen zu erkundigen. Gewiß aber war nur das letztere der eigentliche Zweck ihrer Reise. Nach dem Rechten wollte sie sehen, Musterung halten und sich ein Urteil über die Lisztschen Töchter bilden. Frau von Bülow verstand das nur zu gut und hatte nichts dagegen.

Als sie ihre Schützlinge hereinrief und der Fürstin vorstellte, küßte Blandine dieser unter ehrfürchtigem Knicks die Hand. Cosima deutete Knicks und Handkuß nur flüchtig an und blickte dann der Freundin ihres Vaters nicht eben freundlich in die blinzelnden Schlitzaugen. Ihr erstes, schmerzliches Gefühl war: warum kam Papa nicht selbst? Warum solch eine Stellvertreterin, die sich immer schon aus eigener Machtvollkommenheit mit Ratschlägen und Verfügungen zwischen ihn und seine Töchter gedrängt hatte? Sie machte auf Cosima keinen angenehmen Eindruck.

Carolyne überbrachte mit honigsüßer Miene Grüße vom Vater und Geschenke von ihm zum Weihnachtsfest, wahrscheinlich von ihr selber ausgewählt.

»Oh, damit haben Durchlaucht sich selbst bemüht?« bemerkte Cosima spürbar ironisch.

»Nun, es drängte mich auch, Ihre Bekanntschaft zu machen.« Sie klopfte Blandine huldvoll die Wange und musterte die keckere der Schwestern neugierig vom Kopf bis zu den Füßen. In ihr entdeckte sie sofort eine Gegnerin, die echte Tochter der Gräfin d'Agoult, die den fürstlichen Einfluß auf Franz Liszt von Herzen mißbilligte.

»Wie gefällt es euch in Berlin? Eine interessante Stadt, nicht wahr? Hat euer Vater nicht das Rechte damit getroffen?«

»Ja, die Stadt ist sehr merkwürdig und lebhaft«, gab Blandine zögernd zur Antwort, und Cosima fügte hinzu:

»Frau von Bülow ist sehr gütig zu uns und läßt uns alle schickliche Freiheit.« Sie dachte daran, wie aufdringlich die Fürstin Carolyne schon ihre Pariser Freiheit überwacht und brieflich eingeschränkt hatte. Mußten sie doch sogar Rechenschaft oblegen über ihre Besuche bei der Mutter und nach Angaben der Fürstin sich die Toiletten besorgen.

Hans trat ein und begrüßte die hohe Gönnerin mit unbefangener Freude.

»Geht es vorwärts mit den künstlerischen Erfolgen, lieber Hans? Siegreiche Fehden, wie? – Der Meister würde gern etwas über die Fortschritte Ihrer jüngsten Schülerin erfahren.«

»Durchlaucht meinen Fräulein Cosima? Nun, darf ich bitten, ihm auszurichten, daß sie mit Riesenschritten vorwärtskommt und bald nichts mehr von mir zu lernen haben wird.«

»Sie übertreiben, Herr Lehrer«, widersprach lächelnd die Schülerin. »Machen Sie Papa nur keinen blauen Dunst vor! Sonst ist er, wenn er mich einmal hört, um so mehr enttäuscht.«

»Also Sie studieren gern bei Herrn von Bülow?« forschte die Fürstin. Heimlich mochte sie denken: hoffentlich nicht allzu gern! Hans von Bülow gehörte zu ihrem getreuesten Anhang, darin durfte Cosima ihn keinesfalls beirren!

Sie ließ sich genau berichten, welche größeren Gesellschaften man bisher besucht und wie man sich dort befunden habe, ob sich die jungen Mädchen sonst irgendwo angeschlossen und etwa mit Gleichaltrigen Freundschaft angeknüpft hätten – nein, das war nicht der Fall –, ob sie im Tiergarten Schlittschuh liefen. – »Nein, das doch lieber nicht!« erklärte Frau von Bülow, in Berlin verböte das der gute Ton.

Die Fürstin schien befriedigt. Sie lud die vier für den nächsten Tag zum Frühstück in das Hotel de Prusse und empfahl sich bis dahin.

Sobald Cosima mit der Schwester wieder unter vier Augen war, sagte sie:

»Was hältst du von der Herrin des Papa, Blandine? Ich versichere dich, sie ist ein Biest.«

»Aber nein! Wie kannst du so etwas behaupten – nach dem ersten Besuch!«

»Kennen wir sie nicht schon seit Jahren und von der unangenehmsten Seite? Ist es zu ertragen, wie sie in alles sich einmischt?«

»Sie meint es gut und handelt damit doch im Sinne von Papa.«

»Das heißt, sie möchte ihn zwingen, so zu denken wie sie selbst. Kümmert er sich etwa darum, wie wir uns anzuziehen haben? Nein, das ist ihr eigener Geschmack – eine Vorliebe für grelle Farben, Bänder, Falbeln, Rüschen! Wenn wir Mama glauben dürfen, so geht der Stammbaum dieser Fürstin bis auf Moses zurück, ein sehr alter Stammbaum, mit dem selbst die d'Agoults nicht wetteifern können.«

»Schrecklich bist du, Cosette. Bedenke doch auch ihre Fürsorge für Papa! Sie ist ihm unentbehrlich für seine praktischen Bedürfnisse, sie sorgt für sein Wohlergehen, für seine Ruhe zur Arbeit, verhandelt für ihn mit den Konzertagenturen und Musikverlagen, überprüft seine Rechnungen ...«

»Seine Rechnungen! Darauf versteht sie sich natürlich. Diese Begabung hat sie von ihren Vorfahren geerbt.«

Blandine mußte lachen.

»Halte deine lose Zunge nur ihr gegenüber im Zaum!«

»Ich weiß noch nicht, ob mir das möglich sein wird. Es kitzelt mich, ihr einmal meine Meinung zu sagen.«

»Du wirst doch nicht! Sie würde sich bei Papa darüber beschweren, und es würde ihn bitter kränken.«

»Darin hast du leider recht. Der arme Papa! Ich kann mir vorstellen, daß ihm ihre Fürsorge manchmal etwas zuviel wird.«

Cosima setzte sich ans Klavier und tobte ihren Zorn in stürmischen Tonleitern aus.

Das Frühstück im Hotel de Prusse war von erlesener Üppigkeit. Carolyne Wittgenstein verstand sich auf Speisenfolgen, verstand gut und reichlich zu speisen und verlangte das auch von ihren Gästen. Mit einer russischen Sakuska begann es; um eine riesige Schale voll Kaviar auf Eis waren zahlreiche prickelnde Platten versammelt. Eine solche Fülle von Leckereien hatten die Schwestern Liszt noch nie gesehen. Selbst am Tisch ihrer Mutter, die sich einen vorzüglichen Küchenmeister hielt, gab es nur wenige Gänge, wenn auch in bester Zubereitung.

Die Gäste taten dem Schlemmermahl nur wenig Ehre an. Cosima und Blandine pickten wie Spatzen von den Platten, Frau von Bülow versuchte von allem ein wenig als lernbegierige Hausfrau, Hans aber, dessen Galle wieder einmal in Unordnung war, hatte überhaupt keine Eßlust.

Die Fürstin war, wie meist beim Essen, in behaglichster Stimmung und erzählte drollige Anekdoten aus der Weimarer Skandalchronik, die Cosima belustigten, während Frau von Bülow sie nicht recht am Platze fand. Sie lenkte das Gespräch auf ihres Sohnes Ungelegenheiten mit der Presse.

»Es ist so peinlich, Durchlaucht, seinen Namen immer wieder gehässig durch die Zeitungen geschleift zu sehen.«

»Das scheint mir vielmehr ehrenvoll für ihn, liebste Freundin. Er kämpft für eine gute Sache. Herrlich finde ich es, daß er der Dummheit hartnäckig opponiert. Auf diese Weise wird ein rechter Mann aus ihm und ein Führer der Musik.«

»Allein wie steht er vor dem Hofe da?«

»Was braucht ihn der Hof zu kümmern! Er wird sich auch gegen die Souveräne durchsetzen. Übrigens ist ein Hof stets leichter zu gewinnen als die kleinliche Bourgeoisie.«

Cosima nickte zustimmend und voll Wohlgefallen bei den Worten der Fürstin. Der erste vernünftige Satz von ihr! Eine gescheite Frau war sie jedenfalls, großzügig mit künstlerischem Instinkt begabt!

Hans sagte: »Famos von Ihnen, Durchlaucht, daß Sie mich gegen meine Mutter verteidigen! Ihr Urteil gilt viel bei Mama. Ich hoffe, sie wird eines Tages doch noch an mich glauben.«

»Aber sicherlich, mein Junge!« bestätigte Frau von Bülow. »Wenn du nur etwas rücksichtsvoller vorgehen wolltest!«

»Das wäre gegen sein Naturell, liebe Tante«, griff Cosima ein, »und wahrscheinlich würde es ihm nicht einmal etwas helfen. Sein scharfer Ton schlägt mächtig ein: schon ziehen sich die Gegner überall vor ihm zurück.«

»Aber es zermürbt seine Gesundheit. Wie soll er das ewige Gezänk auf die Dauer aushalten!«

»Mit meiner Zähigkeit«, versetzte Hans, grimmig lächelnd.

»Bei der wir ihn aus allen Kräften unterstützen müssen!« Cosima trank ihm leuchtenden Auges mit ihrem Champagnerglas zu, und während er ihr Bescheid tat, rief er:

»Sie verstehen mich, Fräulein Cosima! Erlkönigs Töchter sollen leben! Sie führen den nächtlichen Reih'n und wiegen und tanzen und singen mich ein!«

Die Fürstin, der die Goethesche Ballade fremd war, verstand nicht recht, doch schien ihr das Zitat verdächtig.

Zum Kaffee zündete sie sich eine dicke Zigarre an und befahl Frau von Bülow nebst Sohn zu einer Whistpartie. Die Schwestern durften nach Hause fahren.

*

Die Feiertage verliefen recht still und klanglos insofern, als nach Frau von Bülows Wunsch an hohen Festen nicht Klavier gespielt werden durfte. Sie legte Wert darauf, in engstem Familienkreis zu bleiben, mit ernsten Gesprächen und gediegenen Büchern die Zeit hinzubringen. Am Heiligen Abend hatte ein schöner Christbaum über einer Tafel mit Geschenken gestrahlt und auch das Gesinde am Feste teilgenommen.

Cosima und Blandine, die zum erstenmal ein deutsches Weihnachten erlebten, fanden es sehr hübsch, stellten sich aber vor, daß es in anderen Familien, besonders wenn eine Kinderschar beschenkt wurde, fröhlicher zugehen könne.

Sie besuchten das Hochamt in der Hedwigskirche, wo sie auch monatlich einmal zur Beichte und Kommunion gingen; denn die alte Frau Liszt hatte sie sehr fromm erzogen – der Vater meinte sogar zu kirchlich, denn er selbst pflegte mehr eine innere Religiosität und hatte sich zu stillen Messen zwar immer gern, zu den gemeinsamen Andachten mit Carolyne im Betgemach der Altenburg aber nur allmählich von dieser überreden lassen.

Daß nicht einmal ein Brief von ihm zum Feste eintraf, bekümmerte Cosima sehr. Er schrieb ohnehin so selten, und dann immer nur wenige, inhaltlose Zeilen, obgleich sie ihn jede Woche in den ausführlichen Berichten über ihr Leben mit den Bülows um Antwort anflehte. Richtete sich Blandines Sehnsucht ganz auf Paris, so die ihre auf den Vater. Der Ort, der ihr zum Aufenthalt angewiesen war, machte ihr wenig aus, heimisch aber würde sie sich nur an der Seite des Vaters fühlen, dieses großen, herrlichen Menschen, der schon über ihrer Kindheit stets als fernes Gestirn geleuchtet hatte, geliebt von ihrer Mutter trotz allem, was geschehen war, angebetet und als Orakel betrachtet von Großmama, ihr selbst das hohe Ziel, dem sie mit verehrungsvoller Andacht entgegenstrebte.

Hans von Bülow fragte, als sie eines Abends allein mit ihm, über den Goetheband, der ihr in den Schoß gesunken war, ins Leere starrte:

»Warum so traurig, Fräulein Cosima?« Sie schüttelte geistesabwesend den Kopf.

»Ich kenne Sie schon gut genug, um zu wissen, daß es Ihr Vater ist, der Ihnen fehlt.«

»So fragen Sie doch nicht erst danach!«

»Sie sollten sich doch einmal aussprechen – wenigstens mir gegenüber.«

»Was mich am tiefsten bewegt, darüber rede ich nicht.«

»Wir könnten zusammen beraten, wie wir ihn herbekommen. Auch ich würde ihn so gern auf ein paar Tage unter uns haben.«

»Statt seiner stellte sich die Fürstin ein!« sagte Cosima bitter.

»Sie mögen Carolyne nicht – wohl weil sie seine Freundin ist und ihn zu beherrschen scheint. Ich verstehe das. Aber davon und von ihren kleinen Schwächen abgesehen, ist sie eine ganz brave und wirklich bedeutende Frau. Sie hätten wenigstens den Versuch machen sollen, sich mit ihr zu stellen.«

»Nein! Lassen Sie mich mit ihr in Frieden!«

»Was lesen Sie da?« lenkte er rücksichtsvoll ab.

»Den ›Wilhelm Meister‹, und ich halte gerade bei Mignons Lied: ›Es stürzt der Fels und über ihn die Flut. – Kennst du ihn wohl? Dahin, dahin geht unser Weg! Oh, Vater, laß uns ziehn!‹ – Nun, ich bin keine Mignon, und dennoch verbindet mich dieses Gefühl mit ihr.«

»Man kann aber doch nicht für immer dem Vater angehören.«

»Leider nicht für immer, aber man soll es so lange wie möglich. Inzwischen rollt hier die Zeit dahin. Irgendwo ›stürzt der Fels und über ihn die Flut!‹ – dabei sein, darauf kommt es an!«

»Anteilnahme meinen Sie? Ja, darauf verstehen Sie sich, die ist Ihr Element. Es gibt aber überall Menschen, die Ihrer bedürfen, selbst hier, in diesem Hexenkessel Berlin. Sie dürfen nur nicht allzu stolz über sie hinwegsehen.«

»Recht haben Sie, Hans. Erziehen Sie mich nur zur Menschenfreundlichkeit!« Und sie lachte ihn schon wieder lustig an. –

Seit Anfang Januar drängten sich die musikalischen Veranstaltungen und gesellschaftlichen Ereignisse. Hans von Bülow hatte im Sternschen Orchesterverein zu spielen und zu dirigieren, wurde auch um Mitwirkung in Privatkonzerten bedrängt. Selbst der Hof verhielt sich keineswegs ablehnend gegen ihn, wie seine Mutter befürchtet hatte, sandte Besucher in seine Abende, und schließlich erhielt er eine Einladung ins königliche Schloß, sich dort vor dem Prinzen Wilhelm mit einem allerdings recht gemäßigten Programm hören zu lassen.

Bei Frau von Olfers mußte sich auch Cosima zum erstenmal vor einem größeren Kreis an den Flügel setzen. Sie tat es ausdrücklich nur als »Propagandistin der Zukunftsmusik« und wählte dazu eine Rhapsodie ihres Vaters.

Zufällig waren an diesem Abend viele Gäste zugegen, die Cosima Liszt nicht kannten, kaum von ihr gehört hatten, auswärtige Diplomaten mit ihren Gemahlinnen und musikfremde Gelehrte. Die blickten überrascht auf die herbe Schönheit ihres ausdrucksvollen Profils und ihre unbefangene, selbstsichere Haltung. Ein Kind von neunzehn Jahren und eine vollendete Dame! Ein Mensch von Rasse und voll geschmeidiger Anmut! Die Herren empfingen sie mit galantem, die Damen mit mütterlichem Beifall. Bettina von Arnim flüsterte ihrem Nachbarn, dem österreichischen Botschafter, zu: »Nicht für uns spielt sie, sondern für ihren Vater. Merkt man es ihr nicht an?« Und er erwiderte: »Ein apartes, bezauberndes Geschöpf! Sie würde in der Hofburg Furore machen.«

Ihr Spiel, so geistvoll abgestuft und technisch vollendet es war, wurde weniger beachtet als ihre Erscheinung. Die Vortragende verdeckte den Komponisten, was sie entrüstet hätte, wäre es ihr zum Bewußtsein gekommen. Für Franz Liszt, den schöpferischen Künstler, wollte sie werben, und erstrahlte als eigener Lichtquell über den geblendeten Zuschauern, die kaum mehr Hörer waren.

Die Komplimente, mit denen man sie nachher überschüttete, nahm sie befriedigt für ein Zeichen, daß sie für die Tonkunst Franz Liszts eine Schlacht gewonnen habe, während es doch nur der erste Anlauf zum Sprung über die Hürden und Abgründe ihres Lebens war.


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