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Als mich am andern Morgen Tante Milly weckte, damit ich vor dem Ausbruch nach der Schule noch mein Frühstück einnehmen könnte, war es mir, als seien während der letzten vierundzwanzig Stunden zwei Jahre über meinem Haupte hingegangen. Ich hatte bis gestern nicht gewußt, was Tyrannei ist, und mein Blut kochte vor Entrüstung. Ich fühlte mich zu Allem und Jedem fähig.
Ueber meine Mutter und Großmutter, die mich nach einem solchen Orte geschickt hatten, war mein Zorn eben so groß, als gegen Mr. O'Gallagher. Ich pflegte sonst hinauf zu gehen und meine Mutter zu küssen, heute aber schenkte ich weder ihr noch meiner Großmutter die geringste Aufmerksamkeit, sehr zur Kränkung der ersteren und zur Ueberraschung der letzteren, welche sehr verdrießlich gegen mich bemerkte:
»Sind das auch Manieren, Kind? Warum sagst du nicht guten Morgen?«
»Weil ich noch nicht lange genug in die Schule gegangen bin, um Manieren zu lernen, Ahne.«
»Komm' und küsse mich, ehe du gehst, mein Kind,« sagte meine Mutter.
»Nein, Mutter; du hast mich in die Schule geschickt, um dort geschlagen zu werden, ich will dich nie wieder küssen.«
»Du garstiger, nichtsnutziger Knabe,« rief meine Großmutter; »welch' ein böses Herz mußt du haben?«
»Nein, das hat er nicht,« entgegnete Tante Milly. »Die Schwester hätte sich auch nach der Schule erkundigen sollen, ehe sie ihn hinschickte.«
»Ich habe alle Nachforschungen angestellt,« entgegnete meine Großmutter. »Er kann dort keine Streiche spielen.«
»Was kann ich nicht?« rief ich. »Aber ich will's – und zwar nicht nur dort, sondern auch hier. Ich will mit euch Allen quitt werden; ja, Ihr sollt's mir büßen, Großmutter, und wenn's mich das Leben kosten sollte.«
»Ei, du gottloser Wicht! Ich habe gute Lust –«
»Ich will's wohl glauben, aber vergeßt nicht, daß ich beißen kann. Ihr thätet besser, ruhig zu sein, Ahne, oder es gibt, wie der Schulmeister sagt, ›ein Platzen‹!«
»Da höre man nur den kleinen Elenden,« sagte meine Großmutter, ihre Hände erheben. »Ich werde noch erleben, daß du gehenkt wirst, du undankbares Kind!«
»Ich bin nicht undankbar,« erwiederte ich, indem ich meine Arme um Milly's Nacken schlang und sie zärtlich küßte. »Ich kann diejenigen lieben, welche mich lieben.«
»So liebst du mich also nicht?« fragte mich meine Mutter vorwurfsvoll.
»Ich habe es gestern gethan, thue es aber jetzt nicht mehr. Doch es ist Zeit, daß ich gehe, Tante; ist mein Körbchen bereit? Der Vater braucht mich nicht nach der Schule zu nehmen; ich kann allein hingehen, und wenn ich nicht mehr hingehen mag, so lasse ich's bleiben, vergiß das nicht, Mutter.« Mit diesen Worten ergriff ich meinen Korb und verließ das Zimmer. Ich erfuhr, daß nach meiner Abwesenheit eine lange Konsultation stattgefunden hatte. Sobald meine Tante erzählt hatte, wie sich Mr. O'Gallagher betragen, wollte mich meine Mutter sogleich aus der Schule nehmen, während meine Großmutter steif und fest betheuerte, es sei kein wahres Wort an Allem, was ich gesagt habe, und mit der Drohung anrückte, daß sie, wenn ich nicht in derselben Schule verbleibe, Chatham verlassen und meine Tante mitnehmen würde. Da sich meine Mutter nicht von Tante Milly trennen konnte, so war die Folge davon, daß meine Großmutter das Feld behauptete.
Ich kam in guter Zeit an und nahm meinen Platz in der Nähe des Schulmeisters ein. Ich zog dieß vor, da ich eine lange Unterredung mit Kapitän Bridgeman gehabt hatte, welcher mir sagte, Mr. O'Gallagher habe zwar das Lineal als Strafe Nummer Eins, die Klatsche als Nummer Zwei und die Ruthe als Nummer Drei bezeichnet, und betrachte demgemäß die Züchtigung als schwerer, je nachdem die Zahlen steigen; er, Bridgeman, sei jedoch der gegentheiligen Ansicht, wie er recht wohl aus seinen Jugendjahren her wisse, da damals alle drei Correctionsmittel reichlich bei ihm in Anwendung gekommen seien. Er rieth mir daher, nie meine Hand für die Klatsche herzugeben; wodurch es natürlich zu der Ruthensteigerung käme; diese sei jedoch, namentlich wenn sie oft applizirt werde, so viel wie gar nichts. Demgemäß hielt ich es für den sichersten Weg, dem Lineal auszuweichen, wenn ich mich in die Nähe des Schulmeisters setzte, der dann keinen Vorwand haben konnte, es nach meinem Kopfe zu schicken. In der That war ich auch entschlossen, die edleren Theile meines Körpers zu schonen, und es Mr. O'Gallagher zu überlassen, nach Belieben mit den übrigen zu verfahren – und ich muß ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er keine Zeit verlor.
»Komm her, Mr. Keene,« sagte er. »Sind das auch Manieren? Warum sagst du deinem Lehrer nicht guten Morgen? Kannst du lesen?«
»Nein, Sir.«
»Kennst du die Buchstaben?«
»Ich glaube, einige davon, Sir.«
»Einige davon? Vermutlich zwei aus sechsundzwanzig. Ich sehe schon, auf deine Erziehung muß besondere Aufmerksamkeit verwendet werden. Nun, du hast wenigstens nichts zu verlernen – das ist schon Etwas. Aber glaubst du etwa, Bürschlein, daß sich ein klassisch gebildeter Mann und ein geborner Gentleman, wie ich, so weit herabwürdigt, mit anzuhören, wie du das Alphabet radbrechest? Da bist du ganz im Irrthum, Mr. Keene; du mußt die ersten Elemente aus zweiter Hand erhalten. Wo ist Timothy Ruddel? Du, Timothy Ruddel, du wirst jetzt dem jungen Master Keene das ganze Alphabet lehren und zugleich Acht haben, daß du deine eigenen Lectionen weißt, oder es gibt ein Platzen. Und du, Master Keene – wenn du nicht das ganze Alphabet bis zur Essenszeit vollkommen kannst, so kriegst du einen kleinen Versucher von Nummer Zwei, nur als Vorschmack zu Dem, was zunächst kommt. Jetzt fort mit dir, du unwissender kleiner Galgendieb. Und du, Timothy Ruddel, mach' dich auf Nummer Drei gefaßt, wenn er seine Aufgabe nicht zu gleicher Zeit von dir lernt, während du mit deiner eigenen zu Stande kommst.«
Ich war mit dieser Maßregel sehr wohl zufrieden, denn ich hatte den Entschluß gefaßt, Etwas zu lernen, und fand auch einen weitern Sporn in dem Wunsche, dem armen Timothy Ruddel eine Züchtigung zu ersparen!
In drei Stunden kannte ich das Alphabet vollkommen, und Timothy Ruddel, der vor mir aufgerufen wurde, war gleichfalls im Stande, seine Aufgabe ohne Anstoß herzusagen – sehr zum Verdruß des Herrn O'Gallagher, welcher bemerkte:
»Dießmal bist du mir also durch die Finger geschlüpft, Master Timothy? Thut nichts; ich kriege dich doch noch. Und außerdem soll ja auch Master Keene da durch den feurigen Ofen spazieren.«
Unmittelbar vor der Essenszeit wurde ich aufgerufen. Ich fühlte mich zuversichtlich, da ich unter Beistand des Timothy Ruddel meinem Gedächtniß die vielen Buchstaben gut eingeprägt hatte.
»Was ist das für ein Buchstabe, Bürschlein?« fragte Mr. O'Gallagher.
»A, B, C, D, E.«
»Wart' ich will dir, du kleiner Galgenstrick – meinst du, mir zu entkommen?«
»V, X, P, O.«
Zu Mr. O'Gallagher's großer Verwunderung nannte ich alle ohne Anstoß. Statt jedoch Lob zu ernten, wurde mir Mißhandlung zu Theil.
»Bei allen Mächten!« rief mein Pädagog, »Alles scheint doch heute schief zu gehen. Meine Hand ist völlig müssig gewesen. So geht's nicht. Sagtest du mir nicht, Mr. Keene, daß du die Buchstaben nicht kennest?«
»Ich sagte, ich kenne einige davon, Sir.«
»Wenn mich mein Gedächtniß nicht trügt, Mr. Keene, so sagtest du mir, daß du zwei aus sechsundzwanzig kennest.«
»Nein, Sir, das haben Sie gesagt.«
»Das ist ebenso viel, als wenn du deinen Lehrer, einen klassisch gebildeten Gelehrten, und einen Milesianischen Gentleman obendrein, Lügen straftest, wofür ich mir Genugtuung nehmen will – verlaß dich darauf, Mr. Keene. Du bist in zwei Anklagen schuldig erfunden, wie es in Old Bailey heißt, wo man dich eines Tages treffen wird, so wahr als ich hier stehe: in der einen, weil du mich angelogen hast, indem du sagtest, du kennest das Alphabet nicht, während es doch auf platter Hand liegt, daß du's vorher schon kanntest; und in der zweiten, weil du mich der Lüge zeihest, indem du behauptest, ich habe gesagt, was du gesagt hast. Du hast gemeint, durchzukommen, aber du bist im Irrthum, Mr. Keene; wenn's also beliebt, wollen wir ein Pröbchen von Nummer Zwei appliziren. Strecke deine Hand aus, Mr. Keene; hörst du mich, Bürschlein? strecke deine Hand aus.«
Dieß verweigerte ich jedoch auf's Entschiedenste.
»Was? Du willst nicht – du willst nicht? Wohlan, so müssen wir die Züchtigung wegen Verachtung des Gerichtshofes erhöhen und mit einemmale zu Nummer Drei schreiten, die ich mir eigentlich auf Morgen vorzubehalten gedacht habe. Heraus, Phil Mooney, da ist ein neuer Schiffskamerad, den du zu führen hast; und auch du heraus, Nummer Drei, da ist ein frischer Grund für dich, um darauf zu arbeiten.«
Phil Mooney und die Ruthe waren alsbald zur Hand. Ich wurde von dem einen aufgeholt, und mit der andern gepeitscht.
Das erste Pröbchen von der Ruthe war durchaus nicht angenehm. Ich konnte es nur mit dem Niederträufeln geschmolzenen Bleies vergleichen. Anfangs gab ich mir alle Mühe, meinen Schmerz zu verbeißen; doch wurde es mir bald unmöglich, und endlich brüllte ich hinaus, wie ein toller Stier. Ich war aber auch so toll, wie ein Stier, und eben so gefährlich. Hätte ich in dem Augenblicke, als ich von Phil Mooney's Schultern niedergelassen wurde, eine Waffe erwischen können, so wäre es Mr. O'Gallagher wohl übel ergangen. Meine Wuth war indeß größer als mein Schmerz. Meine Brust schwoll und meine Zähne verbissen sich, als ich wieder mit verstörtem Aeußern auf dem Boden stand. Die Schule wurde entlassen, und ich war wieder allein mit meinem grimmigen Pädagogen, der alsbald nach meinem Körbchen griff, und dessen Inhalt zu durchstöbern begann.
»Bedecke dich wieder anständig, Mr. Keene, und benimm mir nicht meinen Appetit, indem du zugleich meine Schamhaftigkeit beleidigst. Hast du des Senfs gedacht, wie ich dir aufgetragen habe? Meiner Treu, du bist ein heilloser Bube, und mit den Klagen deiner Großmutter hat's seine vollkommene Richtigkeit. Wenn du sie siehst, so kannst du ihr sagen, ich werde das Versprechen nicht vergessen, das sie mir abgenommen hat. An den Senf hast du gar nicht gedacht, du kleiner Galgenstrick. Wenn Phil Mooney da wäre, wollte ich dir einen andern Versucher geben, um dein Erinnerungsvermögen auf morgen aufzufrischen. Indeß ist's morgen auch noch Zeit, wenn der Irrthum nicht verbessert wird. Da nimm deine Victualien, und guten Appetit dazu, du kleines Ungeheuer von Bosheit.«
Herr O'Gallagher warf mir etwas Brod hin, reservirte sich aber dießmal den Käs für seine eigene Atzung. Ich hatte inzwischen meinen Anzug wieder zurecht gemacht und verließ das Schulzimmer. Da ich ohne Schmerz nicht sitzen konnte, so lehnte ich mich gegen einen Pfosten. Das Brod blieb unberührt in meinen Händen, denn ich hätte keinen Bissen davon essen können, und wenn's die größte Leckerei von der Welt gewesen wäre. Im Uebermaße meines Unwillens fühlte ich mich ganz schwindelig, und meine Gedanken jagten sich mit Windeseile, als ich plötzlich eine Stimme dicht neben mir hörte. Ich blickte um; es war Walter Puddock, der Tags zuvor gepeitscht worden war.
»Kehre dich nicht daran, Keene,« sagte er freundlich. »Es thut zwar Anfangs weh, aber je mehr man kriegt, desto weniger macht's einem zuletzt aus. Ich frage keinen Deut mehr darnach, obgleich ich schreie; denn er macht so lange fort, bis man's thut, und es nützt gerade nichts, sich mehr aufzählen zu lassen, wenn man mit weniger loskommen kann.«
»Ich habe es nicht verdient,« versetzte ich.
»Ist auch nicht nothwendig. Du kriegst's, wie wir Alle, magst du's verdienen, oder nicht.«
»Nun, ich will in Zukunft sehen, ob ich's nicht verdiene,« entgegnete ich, die Faust ballend. »Ich will quitt mit ihm werden.«
»Ei, was kannst du thun?«
»Wart' ein wenig, und du wirst's sehen,« sagte ich, indem ich von ihm wegtrat, denn es war mir ein Gedanke gekommen, den ich weiter zu erwägen wünschte.
Bald nachher läutete die Glocke, und wir kehrten nach der Schulstube zurück. Ich wurde der Leitung eines andern Knaben übergeben, der mir meine Lection beibringen mußte. Ob der Schulmeister von der Anstrengung müde war, denn er hatte im Laufe des Nachmittags wenigstens ein Dutzend gepeitscht und geklatscht, oder ob er meine Morgendosis für hinreichend hielt, weiß ich nicht – genug, ich erhielt an diesem Tage keine Strafe mehr.
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