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Nachmittags brach der Sturm los, den die wie die Möwen um das Haus schwirrenden Gerüchte verkündigt hatten – eine Gerichtskommission erschien. Man hatte sich die feierliche Beschlagnahme seit den frühen Morgenstunden vergegenwärtigt, und doch ging es wie ein erschütternder Schlag durch das ganze Haus, als die Herren unter das Portal traten. Sie kamen für alle zu früh. Noch schleppten die Bedienten die altmodischen, blinden Mahagonitische und Kommoden der Präsidentin, die Sofas und Stühle mit den verstaubten und zerschlissenen Bezügen vom Dachboden herab in den Hauptgang; noch standen Floras Kisten mit dem eingepackten Brautschatz droben und harrten auf den säumigen Spediteurwagen; noch lag im kleinen Haus-, Wein- und Bierkeller »Trinkbares«, das man nicht mehr beiseite bringen konnte.
Die Präsidentin hatte sich stolz und vornehm in ihr Schlafzimmer zurückgezogen – sie wollte die Herren nicht sehen, aber so höflich und rücksichtsvoll diese auch waren, sie durften auf die Nervenzufälle der gnädigen Frau keine Rücksicht nehmen! sie mußten fragen, ob die Zimmereinrichtung ihr eigen sei, und auf das Verneinen der Dame hin bitten, einstweilen in einen leerstehenden, heizbaren Vorraum überzusiedeln, weil das Zimmer versiegelt werden müsse. Nun wurden die alten Möbel aus dem Gang in das kleine, freundliche Zimmer geschoben, die außer Gebrauch gesetzten Federbetten gelüftet und bezogen und unter die verschossene, braunseidene Steppdecke gesteckt, die der Präsidentin seit Jahren nicht vor die Augen gekommen war und bei deren Anblick ein Schauder des Abscheus durch ihre Glieder flog. Die Jungfer richtete das Stübchen so wohnlich wie möglich ein; sie hatte den kleinen Mahagoniblumentisch am Fenster mit einigen aus dem Wintergarten eroberten Blattpflanzen gefüllt und manches aus dem Schlafzimmer herübergerettet, das ihrer verwöhnten Herrin besonders lieb und unentbehrlich war, aber die alte Dame sah die Bemühungen nicht – sie saß am Fenster und stierte nach dem Gartenhaus hinüber, dessen neuglänzendes Dach hinter dem Gebüsch auftauchte.
Dieser gefürchtete und namenlos verhaßte »Witwensitz« war ein wahres Feenschlößchen geworden. Reiche Vorhänge hinter den Spiegelscheiben; sie sah eine köstliche Spitzenkante an einem Eckfenster, das das Ahorngeäst freiließ; es funkelte alles im Glanze der Neuheit, der spiegelglatte Fußboden, die feinen Möbel, die Deckenmalereien, die Kronleuchter im Besuchszimmer; selbst die Küche war reich und vorsorglich ausgestattet, bis auf den einfachsten Blechlöffel hinab. Dieses Kleinod hatte ihr Eigentum sein sollen bis an ihr Ende, und sie hatte es verächtlich mit dem Fuße fortgestoßen, aus Furcht, es werde sie von der Geselligkeit im Hause des Kommerzienrates trennen – und nun, und nun!!
Währenddessen kämpfte Flora um ihre Sachen, aber alle erschöpfenden Gründe, selbst das schließliche Sichberufen auf das Zeugnis der Dienerschaft waren vergeblich. Fräulein Mangold möge sich später melden, augenblicklich müsse alles Vorgefundene in Bausch und Bogen unter die Siegel – lautete die höfliche, aber sehr bestimmte Antwort. Und so ging es treppauf, treppab stundenlang. Alles, was an lebenden Blumen das Haus schmückte, wurde in die Treibhäuser gestellt; man hörte einen Zimmerschlüssel nach dem anderen im Schlosse kreischen und die noch offenen Fensterladen vorlegen – es war schauerlich, wie sich so nach und nach hinter den Vollstreckern des Gesetzes her die Dunkelheit und das Schweigen in den verlassenen Ecken niederließ. Zwischen das Treiben hinein schimpfte und fluchte die Dienerschaft nunmehr ganz offen und jammerte um den rückständigen Lohn, aber jedes schnürte sein Bündel, um das Haus zu verlassen, dessen behagliche Einrichtung hinter Schloß und Riegel lag, dessen Fleischtöpfe nicht mehr brodelten. Nur der Gärtner blieb und wurde in der Bedientenstube untergebracht.
Und inmitten dieser Verwirrung hob die Mädchenseele droben im ersten Stock die Flügel, um nach jahrelangem Kampfe den kranken Leib leise und klaglos abzustreifen.
Henriettens Zimmer blieben unberührt von dem Geräusche der Beschlagnahme – was die Sterbende umgab, war ihr Eigentum. Man bemühte sich auch, in ihrer Wohnung jeden Lärm, selbst den der lauten Fußtritte, zu vermeiden, und so drang nichts zu der scheidenden Seele, was sie noch einmal aufschrecken und in den irdischen Jammer zurückblicken machen konnte. Sie sah nur vor sich, durch das offene Fenster, in einen wahren Rosenhimmel hinein; sie sah die Schwalben mit ihren weißen Brust- und Flügelfedern wie silberne Kreuze unter den hochziehenden, rotglänzenden Abendwolken hinschießen, hastig, von dem erwachten Wandertrieb in der Brust beunruhigt. Noch gestern waren feine Rauchstreifen von der Ruine her vorübergezogen, und fernes Geräusch hatte die Gedanken des kranken Mädchens immer wieder auf sich gelenkt und schmerzbewegt um die Unglücksstätte kreisen lassen, wo die berstenden Mauern zusammengestürzt waren über »dem Unvorsichtigen«, an dem sie bei allen seinen Schwächen doch mit schwesterlicher Zuneigung gehangen hatte. In die jetzige feierliche Abendstunde aber, in das stille Hingehen des Tages und eines kurzen Mädchenlebens mischten sich keine Anzeichen jener Schrecknisse mehr.
Der Doktor saß an Henriettens Bett. Er sah, wie der Tod dieses Antlitz voll Geist und Bewußtsein mit erschreckender Schnelligkeit, Strich um Strich, kennzeichnete; an die Fingerspitzen der Kranken klopfte der entfliehende Lebensstrom in so vereinzelten Pulsschlägen, als kehre von fern her hier und da eine Welle zurück und spüle noch einmal an das verlassene Ufer.
»Flora!« flüsterte Henriette und sah ihn mit einem sprechenden Blicke an.
»Soll sie kommen?« fragte er, sofort bereit, nach ihr zu gehen.
Henriette schüttelte schwach den Kopf. »Du wirst mir nicht böse sein, wenn ich mit dir und Käthe allein bleiben möchte, bis –« Sie vollendete nicht und pflückte mit halbversagenden Fingern an dem welken, roten Weinlaub auf der Bettdecke. »Ich will es ihr ersparen, und sie wird es mir Dank wissen« – noch einmal schwebte der Anflug eines spöttischen Lächelns schattenhaft um ihren Mund – »sie kann Rührszenen nicht leiden … Du sollst ihr nur einen Gruß bringen, Leo.«
Der Doktor schwieg und neigte das Haupt. In seiner nächsten Nähe stand Käthe. Das Herz klopfte ihr zum Zerspringen – die Sterbende stützte sich ahnungslos auf Beziehungen, die nicht mehr bestanden; erfuhr sie noch die Wahrheit? Ein angstvoller Seitenblick streifte das Gesicht des Doktors. Es blieb vollkommen ernst und gefaßt; die Scheidende durfte durch eine unerwartet hereinbrechende Nachricht aus der schon halb und halb verlassenen Welt herüber nicht mehr aufgeschreckt werden, und zu einer Vorbereitung blieb – keine Zeit.
Henriettens Augen schweiften über den Himmel hin. »Wie köstlich klar und rosig! Ein Hineintauchen der befreiten Seele muß himmlisch sein,« flüsterte sie innig. »Ob es ein Zurückblicken gibt? Ich will ja nur Eines sehen …« – sie wandte mühsam den Kopf in den Kissen und sah zum erstenmal mit dem ganzen, unverhohlenen Ausdruck unaussprechlicher Liebe voll zu Bruck auf – »ob du glücklich wirst, Leo. Dann mag es mich fort, in Sonnenfernen tragen«. – Zu sagen: »ich muß das wissen, um selig werden zu können, weil ich dich geliebt habe mit allen Kräften, mit jeder Faser meines Herzens,« das konnte die scheu verschlossene Mädchenseele selbst in der Todesstunde nicht über sich gewinnen.
Es war, als überfliege ein verklärender Schein die gesenkte Stirn des Doktors. »Es hat sich noch alles glücklich für mich gewendet, Henriette,« sagte er bewegt. »Ich wage zu hoffen, daß ich nicht mehr einsam und verbittert durchs Leben gehen werde, oder besser: ich weiß, daß sich in der zwölften Stunde noch mein Traum von wahrer Lebensbeglückung erfüllen wird – genügt dir das, meine Schwester?« Er zog die schmale, erkaltete Hand, die er noch in der seinen hielt, an die Lippen. »Ich danke dir,« setzte er innig hinzu.
Ein Erröten, sanft rosig wie das Abendlicht draußen, kam und schwand in jähem Wechsel auf den Wangen der Sterbenden; mit einem Ausdruck von scheuem Glück streiften ihre Augen unwillkürlich die Schwester, welche, die Rechte auf Brucks Armstuhl gelegt, sichtlich bemüht war, ihren Schmerz, aber auch eine unverkennbare Bestürzung zu bemeistern. Bei diesem Anblick schmolz Henriettens Herz in Weh und Mitleid.
»Sieh meine Käthe an, Bruck!« sagte sie bittend, aber mit erlöschender Stimme und unaufhörlich von Atemnot unterbrochen. »Laß mich's noch aussprechen, was mich immer bedrückt und geschmerzt hat! Du bist immer so kalt gegen sie gewesen – einmal sogar hart bis zur Grausamkeit – und ihr kommt doch keine gleich, keine! Leo, ich habe dein Vorurteil nie begreifen können … Sei gut gegen sie – steh an ihrer Seite –«
»Bis zum letzten Atemzug! Bis über den Tod hinaus!« unterbrach er sie, kaum fähig, seiner stürmischen Bewegung Herr zu werden.
»Sieh, nun ist alles gelöst! Ich weiß es, hältst du sie in treuer Hut, dann wird meine starke, meine mutige Käthe stets zwischen dir und allem Ungemach stehen –«
»Wie eine treue Schwester, die ich ihm von dieser Stunde an sein werde,« vollendete Käthe mit halberstickter Stimme.
Ein geisterhaftes Lächeln irrte um Henriettens Mund – sie schloß die Augen. Sie sah nicht, daß durch die Glieder der Starken, Mutigen Schauer liefen, als schüttle sie das Fieber – sie sah nicht, daß sie Brucks dargebotene Rechte mit weggewendetem Gesicht von sich schob, als sei selbst ein Händedruck nicht statthaft. Das Lächeln erlosch und aus der Brust der Sterbenden rang sich ein röchelnder Laut. »Grüßet die Großmama! – Nun möchte ich Ruhe haben – schaff mir Ruhe um jeden Preis, Leo!« hauchte sie angstvoll.
»In zehn Minuten wirst du schlafen, Henriette,« sagte er in tiefen, beruhigenden Tönen, Er legte ihre Hand auf die Bettdecke zurück, und sich erhebend, schob er seinen Arm sanft und unmerklich unter das Kopfkissen – so lag sie wie ein Kind an seiner Brust – seliges Sterben!
Und nach zehn Minuten schlief sie. Die hereinnickenden Weinblätter wehten leise, als streife sanfte Berührung an ihnen hin, und das Rosenlicht draußen, in das zu tauchen die Seele sich gesehnt hatte, erglühte plötzlich wie angefacht zum tiefen Purpur. Und der kleine, kirre Vogel ließ sich wie immer zum Abendgruß auf dem Fenstersims nieder; er zwitscherte leise herein, nach dem wachsweißen Mädchengesicht hin – zum letztenmal; denn nun wurde auch dieser Fensterladen geschlossen, bis – fremde Hände kamen und Besitz ergriffen vom Hause des Kommerzienrates.
Da kam die Präsidentin herein, gebeugt, als habe ihr das so lange nachschleichende Alter nunmehr mit doppelter Wucht einen Stoß in das Genick versetzt. Die weiße Schleierwolke lag wieder um Kinn und Hals; sie hatte die schwarze Krepphaube fortgeschleudert – um einen Schurken trauere man nicht, hatte sie gesagt. Sie trat an das Bett, und ein leichter Krampf machte ihre Lippen beben, als sie in das stille Totengesicht sah. »Ihr ist wohl,« sagte sie mit brechender Stimme. »Sie hat das bessere Teil erwählt; nun braucht sie nicht in die Verbannung zu gehen – der bittere, bittere Kampf mit der Armut ist ihr erspart geblieben.«
Flora aber kam und ging wortlos. Die zwei treuen Wächter am Totenbette waren nicht für sie vorhanden. Sie küßte die heimgegangene Schwester auf die Stirn, dann schritt sie, den Kopf in den Nacken zurückgeworfen, wieder nach der Tür, durch die sie gekommen war. Wohl wurzelte ihr Fuß auf der Schwelle, aber sie wandte weder die Augen noch den Kopf nach der Richtung, wo der Doktor stand und mit ernster, feierlicher Stimme die Grüße der Toten bestellte. Sie neigte unmerklich das Haupt, zum Zeichen, daß sie den Ausdruck des letzten Gedenkens in Empfang genommen habe, und ging mit rauschender Schleppe weiter, die Treppe hinab, um drunten Hut und Regenmantel anzulegen und nach dem nächstgelegenen Gasthof zu gehen, in dem sie Zimmer für sich und die Präsidentin gemietet hatte; unter dem Dache des Verbrechers durfte kein Glied der Familie Mangold mehr schlafen, selbst die Tote nicht.
Und als man auch sie nach hereingebrochener Dunkelheit fortgetragen hatte in die große Halle, wo sie alle im letzten Schmuck und blumenüberschüttet auf das Öffnen der letzten Pforte warten, da wurde auch im ersten Stock die letzte Zimmertür verschlossen, und der Doktor und Käthe stiegen die Treppe hinab. Wie schollen ihre Schritte durch das schweigende, verlassene Haus! Wie gespenstisch schlich der Schein der Lampe, die der Gärtner vor ihnen hertrug, über die einsamen Wände des Treppenhauses und der Gänge, an denen Tag für Tag die Fluten des üppigsten Lebens, die übermütigen Zeugen der goldgleißenden Gründerzeit hinweggerauscht waren.
Die weiche Nachtluft, die die Fortgehenden umfloß, legte sich wie Balsam auf Käthes heiße, verweinte Augen. Ein sternfunkelnder Himmel breitete sich über den schweigenden Park hin; man konnte die einzelnen Baumgruppen unterscheiden, und der Teichspiegel glomm schwach herüber wie mattes Silber durch schwarzes Schleiergewebe. Das Sandgeröll wich knirschend unter den Tritten, und von fern her tosten die über das Wehr stürzenden Wasser, aber kein Blatt an den Wipfeln und Büschen regte sich – es war so lautlos still wie droben im Sterbezimmer, wo man während der letzten Stunden nur flüsternd das Notwendige beredet hatte. Und deshalb schrak auch Käthe jetzt so zusammen und brach fast in die Knie, als der Doktor mit seiner tiefen, vollen Stimme das Schweigen unterbrach. Sie hatten gerade das tiefdunkle Laubtor der Allee vor sich, und da blieb er stehen.
»Ich verlasse in wenigen Tagen die Residenz, und so wie ich Sie kenne, werden Sie bis dahin weder zu meiner Tante kommen, noch mir gestatten, die Mühle zu betreten,« sagte er – eine unsägliche Beklommenheit und Spannung lag in diesen Tönen. »Ich muß mir also sagen, daß wir zum letztenmal nebeneinander gehen – das heißt für jetzt –«
»Für immer!« unterbrach sie ihn tonlos, aber fest.
»Nein, Käthe!« sagte er entschieden. »Eine Trennung für immer wäre es allerdings, wenn ich das, was Sie vor wenigen Stunden ausgesprochen haben, für unverbrüchlich halten müßte, denn – eine Schwester will ich nicht … Glauben Sie, ein Mann werde sich zeitlebens da mit wohlgemeinten schwesterlichen Briefen begnügen, wo er nach dem lebendigen Worte von geliebten Lippen dürstet? … Aber nein, das wollte ich ja heute nicht sagen. Die Selbstsucht reißt mich hin, Sie in einem Augenblicke zu bestürmen, wo Sie eine so bittere Schmerzenslast zu tragen haben. Nur über eines muß ich mich noch aussprechen. Sie haben heute nachmittag eine Begegnung in dem Zimmer gehabt, aus dem Sie mir in der heftigsten Gemütsbewegung entgegentraten. Man hat Ihnen mitgeteilt, was geschehen ist, und dabei ist selbstverständlich der ganze mißliche Anschein, den eine solche gewaltsame Lösung stets gewinnt, auf mich allein gefallen – ich sah das an Ihren Mienen, und später, als Sie sich gegen eine innigere Beziehung verwahrten, indem Sie Henriette zuliebe mir eine Schwester sein wollten, da hörte ich auch, daß böse Einflüsterungen Macht über Sie gewonnen hatten! – Gott sei Dank, nicht für immer! Ich weiß es – Ihr klarer, kluger Blick mag sich vielleicht vorübergehend trüben, aber er wird sich nicht hartnäckig verschließen. Käthe, ich war neulich, an dem schreckensvollen Nachmittage, in meinem Garten; ich stand hinter dem Ufergebüsche, und drüben legte ein Mädchen die Stirn an einen Baumstamm und weinte bitterlich.«
Käthe machte eine Bewegung, als wolle sie in die Allee hineinfliehen, allein schon hatte Bruck ihre Hand gefaßt und hielt sie mit festem Druck. »Ich sah das Mädchen leibhaftig vor mir stehen, das ich eben in Gedanken voll Sehnsucht in meinen Armen gehalten und an das Herz gedrückt hatte; ich war eben in dem letzten der Kämpfe, die ich monatelang durchlitten, Sieger geblieben, das heißt, ich hatte falsche Ansichten von mir geschüttelt und mir gesagt, daß ich ein Meineidiger sei, wenn ich, die unbezwingliche Leidenschaft im Herzen, eine verhaßte Ehe einging. Und da sah ich die Heimgekehrte stehen – und ich jauchzte, denn ihre weinenden Augen suchten nicht die Fenster der Tante –« Er schwieg und zog ihre Hand an seine Lippen, und sie lehnte an der nächsten Linde, unfähig, auch nur einen Laut herauszubringen.
»Ich darf der, die meine Braut gewesen ist, keinen Vorwurf machen; ich trage die Schuld, daß es zu einem solchen aufsehenmachenden Ende kommen mußte, ich, der ich, um der Welt willen, schwach genug war, nicht schon in dem Augenblick zurückzutreten, wo ich unter tödlicher Bestürzung erkannte, daß ich eine hinreißend schöne Form, gewählt hatte, deren vermeintlich reicher Inhalt unter den prüfenden Augen zu Nichtigkeiten zerbröckelte – und das geschah schon in den ersten Wochen nach meiner Verlobung.«
Nein, es waren keine Nichtigkeiten, was »die hinreißend schöne Form« umschloß, es war ein Frauencharakter voll teuflischer Bosheit. Flora hatte um Brucks Liebe zu ihr gewußt, jedenfalls durch sein eigenes Geständnis – welch eine niederträchtige Schändlichkeit! Die Betrogene hatte den Ring in der Tasche; sie hatte ihn um jeden Preis erkauft; sie hatte selbst jeden listigen Einwurf der ränkevollen Schwester bekämpft und ihr Wort verpfändet, sogar auf die Möglichkeit hin, daß Bruck ihre Hand begehren könne. Die Augen des jungen Mädchens irrten verzweiflungsvoll über den gestirnten Himmel. Sie wußte, Flora gab ihr das Wort nicht zurück, und wenn sie sich in qualvoller Bitte zu ihren Füßen die Knie wund rieb; sie wußte, daß sie und Bruck in den Augen aller verfemt sein würden; denn niemand hatte einen vorurteilslosen Einblick in die Sachlage. Es bedurfte nicht einmal Floras glänzender Beredsamkeit, die Welt zu überzeugen, daß sie die Hintergangene sei, der die jüngere Schwester den Verlobten weggelockt habe, und daß Flora diese Beleuchtung wählen werde, das stand fest wie der Himmel da droben. Wie sie flimmerten, die kreisenden Sternbilder! Auf welchen dieser goldenen Himmelsfunken hatten die rosig durchhauchten Abendlüfte den erlösten Geist der Schwester getragen? Sah sie jetzt zurück? Sah sie, wie das Glück des geliebten Mannes in Trümmer ging?
»Sie sind so still, Käthe. In Ihrer Seelenhoheit weisen Sie mich schweigend in die Schranken; ich hätte heute nicht sprechen sollen,« hob er wieder an. »So will ich auch jetzt nicht weiter in Sie dringen. Ich verhehle mir nicht, daß meine Bitten und Wünsche mit schweren Bedenken in Ihrer Seele kämpfen müssen; denn sonst wären Sie nicht die peinlich gerechte, die ehrliche Käthe, die Sie sind, aber ich werde mein ersehntes Ziel erreichen, ohne daß ich zur stürmischen Überredung greifen muß – das weiß ich auch. Ich lasse Ihnen Zeit zur Prüfung und zur Überwindung des tiefen Schmerzes, der Sie jetzt erfüllt und in allem, was Sie denken und fühlen, mitspricht. Ich gehe jetzt unbeglückt, aber – ich komme wieder. Und nun wollen wir nach der Mühle gehen. Geben Sie mir getrost Ihren Arm! Ein Bruder kann seine Schwester nicht selbstloser führen, als ich in diesem Augenblick an Ihrer Seite gehe. Sie könnten sich ebenso ruhig mir und meiner Tante anschließen, wenn wir unsere Reise nach L.....g antreten.«
»Ich kehre nicht nach Sachsen zurück,« sagte sie. Sie hatte ihre Hand auf seinen Arm gelegt, und nun durchschritten sie die Allee. Ein Gefühl von tödlicher Erstarrung durchschlich die Glieder des Mädchens, und es war, als krieche es auch lähmend an das wildklopfende Herz und hauche die Stimme an, die so fremd, so hart und klanglos aus der Brust kam. »Ich habe schon bei meiner letzten Anwesenheit in Dresden gefühlt, daß mir, so wie es jetzt in meinem Innern aussieht, mit dem ausschließlichen Versenken in das Sprachstudium und die Musik, mit der Besorgung kleiner Hausgeschäfte und dergleichen nicht geholfen ist – ich muß einen Wirkungskreis haben, der tüchtige, anstrengende Arbeit Tag für Tag von mir fordert. Bis vor wenigen Tagen noch zögerte ich, dieses Vorhaben auszusprechen; denn ich wußte, daß das eine Wort eine Reihe von Kämpfen mit meinem Vormunde einleiten würde – der ›Goldfisch‹ hatte ja bereits seinen Beruf, den, mit tadellosem Schick seine Einkünfte zu verbrauchen. Das ist nun alles aus. Der gefürchtete Geldschrank ist nicht mehr vorhanden, oder eigentlich, sein papierener Inhalt ist schon wertlos gewesen, ehe er zertrümmert in die Luft geschleudert wurde – das ist mir zur unumstößlichen Gewißheit geworden, seit mir Nanni heute nachmittag zuflüsterte, daß man drunten versiegle. Nicht wahr, meine vielen Hunderttausende sind nicht mehr?«
»Ich glaube schwerlich, daß sich etwas retten läßt –«
»Aber meine Mühle habe ich noch – und da will ich bleiben. Vielleicht erregt es Ihre ernstliche Mißbilligung, wenn ich Ihnen sage, daß ich von nun an mein Eigentum selbst verwalten will; denn es kann unweiblich erscheinen, wenn ein junges Mädchen als Inhaberin eines Geschäfts selbständig hervortritt.«
»So falsch urteile ich nicht. Ich befürworte sogar warm diese Art von Selbständigkeit der Frauen; ich weiß auch, daß Sie mit Ihrer Kraft und Energie sofort im richtigen Fahrwasser sein würden, aber das ist nicht Ihre Bestimmung, Käthe. Sie sind berufen, ein Familienglück zu begründen, nicht aber, den Kopf voll Zahlen und Berechnungen, ›Tag für Tag‹, einsam am Geschäftspulte zu stehen. Fangen Sie lieber gar nicht an! Denn eines Tages wird man Sie wegholen und nicht danach fragen, wo Sie in den Büchern gerade mit Ihrem Soll und Haben stehen, und das könnte eine schlimme Verwirrung geben.«
Wäre nur ein einziger hell leuchtender Strahl des Sternenlichtes in das Dunkel des Baumgangs gefallen, dann hätte der Sprechende schon von diesem Augenblicke an das Mädchen nicht mehr von seiner Seite gelassen – eine so trostlose Verzweiflung malte sich in dessen Zügen – er würde Käthe in seine Hut genommen und nicht gezögert haben, der eigentlichen Spur nachzugehen, die den Widerstand erklärte. So aber deckte die Finsternis den entsetzlichen Seelenkampf, der da neben ihm, ohne Laut, ohne auch nur einen verräterischen Seufzer, durchstritten wurde, und er führte die Entmutigung und Niedergeschlagenheit, die ihre Stimme so dumpf und eintönig machten, auf das Trennungsweh, auf die tiefe Erschütterung zurück, die der Anblick eines Sterbenden hinterläßt.
Hier und da sprang ein Kiesel mit leichtem Rasseln unter den Füßen der Weiterschreitenden auf und das Wellengeräusch des nahen Flusses scholl stark in das augenblickliche Schweigen herein, das auf die letzten Worte des Doktors gefolgt war. Die Linden des Baumganges traten zurück; der Nachthimmel breitete sich droben wieder hin, und in sein Flimmern hinein stiegen dort die zwei schlanken italienischen Pappeln zu beiden Seiten der Holzbrücke.
Bei diesem Anblick drückte der Doktor unwillkürlich den Arm des jungen Mädchens an sich. »Dort, Käthe,« flüsterte er innig, »dort haben Sie stets die ersten Veilchen gesucht; ich habe Ihnen versprochen, daß Sie das immer dürften, und ich kann Wort halten – ich werde meine Osterferien stets hier verleben.«
Käthe preßte die geballte Rechte auf die Brust; sie glaubte ersticken zu müssen an dem heftigen Schlagen ihres Herzens, und doch fragte sie nach einer kurzen Pause anscheinend gelassen: »Die Frau Diakonus wird Sie nach L.....g begleiten?«
»Ja, sie will meinem Hauswesen vorstehen, solange ich noch allein sein werde. Sie bringt mir ein großes Opfer und wird Gott danken, wenn sie den Staub der großen Stadt wieder von den Füßen schütteln und in ihr geliebtes, grünes Heim hierher zurückkehren darf. Ich weiß, das edle, brave Herz, um das ich werbe, wird sie nicht allzu lange auf die Ablösung von ihrem Posten warten lassen,« setzte er mit weicher, bittender Stimme hinzu. Ein Licht in der Mühle tauchte vor ihnen auf. Dort hatten sie heute den Müller Franz hinausgetragen. Der Verunglückte hinterließ eine Witwe und drei Waisen. Das Dach, das sie noch beschützte, gehörte ihnen nicht, und das, was der fleißige Mann erarbeitet und erspart hatte, genügte nicht zu ihrem Unterhalte. Suse war heute für einen Augenblick in der Villa gewesen, um nach ihrer Herrin zu sehen. Sie hatte Käthe die Verzweiflung der Hinterlassenen als herzzerreißend geschildert und dabei den Wirrwarr bejammert, in den »das herrenlose Geschäft« mit jeder Stunde tiefer gerate.
Das Bogenfenster der Familienstube im Erdgeschoß, das nach dem Park hinausging, war dunkel. Schwarz und ungestalt ragten die Baulichkeiten der Mühle in die Luft; sie lag so einsam, so weltverlassen da; das Gebell der Hofhunde, die beim Geräusch der näherkommenden Schritte anschlugen, klang verloren wie in eine öde, endlose Weite hinein. Die Räderarbeit schwieg, und der Mühlenraum stand so leer, so feierlich unbelebt, als hätte seit dem Erkalten der freudig hier schaffenden Menschenhand ein geschäftiges Heinzelmännchen nach dem andern die Kappe über das vergrämte Gesicht gezogen und sich davongeschlichen.
Der Doktor zog das junge Mädchen näher an sich, ehe er die Mauerpforte öffnete. »Mir ist, als führte ich Sie in die Verbannung,« sagte er zögernd und gepreßt, »Sie sollten mir den Schmerz nicht machen, Sie gerade heute in diesen dunkeln, schweren Stunden allein zu wissen. Kommen Sie mit mir! Die Tante wäre überglücklich, Sie aufnehmen und mütterlich pflegen zu dürfen.«
»Nein, nein!« stieß sie hastig heraus. »Glauben Sie ja nicht, daß ich mich nutzlosem Jammer leidenschaftlich hingebe, wenn ich allein bin – ich habe nicht einmal Zeit dazu, und ich will auch nicht. Ich muß dort« – sie zeigte nach dem Bogenfenster, wo jetzt hinter dem Kattunvorhang ein matter Lampenschein aufdämmerte – »sofort als Trösterin eintreten. Die vier armen Menschen sind auf meine Kraft, meinen Beistand angewiesen.«
»Liebe, liebe Käthe!« sagte er und zog mit beiden Händen ihre Rechte gegen seine Brust. »So gehen Sie denn in Gottes Namen! Ich würde es für eine schwere Sünde halten, Sie zu beirren, die Sie so tapfer den harten, aber unfehlbaren Weg zur Überwindung unfruchtbaren Schmerzes wählen. Seien Sie aber in der ersten Zeit nicht ebenso streng gegen sich als Genesende! Tragen Sie die schützende Binde noch einige Tage auf der verheilenden Wunde, dann fort damit! Und nun: zu Ostern, wenn die letzten Winternebel fliehen, wenn Schnee und Eis tauen, dann gehen auch die Menschenherzen auf; zu Ostern, da komme ich wieder. Bis dahin gedenken Sie eines Fernen, eines sehnsüchtig Harrenden, und lassen Sie Verleumdung und Mißtrauen nicht zwischen uns treten!«
»Nie!« Dieses eine Wort brach fast wie ein Aufschrei aus ihrer Brust. Sie entzog ihm die Hand, die er an seine Lippen preßte; dann rasselte die Mauertür hinter ihr zu. Sie tat keinen Schritt vorwärts; an die kalte, feuchte Mauer gedrückt und das Gesicht in den Händen vergraben, horchte sie atemlos auf seine verhallenden Tritte. Was war Henriettens Sterben gewesen gegen die Qualen ihres wildschlagenden Herzens, das weiterleben mußte! Sie lauschte, bis die weiche Nachtluft lautlos an ihr vorüberstrich; dann ging sie starren, tränenlosen Auges in das Haus, um ihre Aufgabe als Trösterin und Versorgerin zu beginnen.
Drei Tage später, sofort nach Henriettens Beerdigung, verließen Doktor Bruck und die Tante Diakonus die Stadt. Ihn hatte Käthe nicht wieder gesehen, aber die Tante war wiederholt stundenlang bei ihr gewesen. An demselben Tage reiste auch Flora in Begleitung der Präsidentin ab. Die alte Dame begab sich in ein stärkendes Bad, und Flora ging nach Zürich, wo sie, wie man sich in der Residenz erzählte, behufs medizinischer Studien eine Zeitlang leben wollte.