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18.

Es war im Mai. Die Bäume hatten bereits ihren Blütenschnee wieder von sich geschüttelt, und der prachtvolle krokusbesäumte Hyazinthenflor, der sich, Aufsehen erregend, über den weiten Rasenplatz vor der Villa Baumgarten hingebreitet hatte, war längst verblüht. Dafür färbten sich die Dolden der Fliederbüsche weiß und lila; das glänzende Kettengeschmeide des Goldregens schaukelte halbentfaltet an den Zweigen; aus den Blätterbüscheln der Rosenbäume streckten sich die spitzen, grünen Fühlfäden der ersten Knöspchen, und der Schatten auf den Zickzackwegen der Parkanlage und in der alten Lindenallee wurde tiefer. Der Fluß brauste wieder klarwellig durch die grüne Einfassung seines Ufergebüsches, und über das alte liebe Haus hinter ihm flocht sich ein maienduftiges Gewebe, das mit jedem neuen Morgen weniger von den weißen Mauern sehen ließ – die dicken, kräftigen Weinstöcke trieben ihre safttropfenden Ranken bis unter das vorspringende Dach hinauf.

Das Fremdenzimmer stand wieder leer. Henriette war längst in die Villa übergesiedelt; sie hatte sich scheinbar wieder erholt, ja, es schien sogar ein Stillstand in ihrer Krankheit eingetreten zu sein, und diese Wohltat schrieb die Tante Diakonus einzig und allein Käthes Pflege zu. Die beiden Schwestern führten im ersten Stockwerk ein reiches, abgeschlossenes Zusammenleben, das einen wunderbaren Reiz erhalten hatte, seit der neue Flügel in Käthes Zimmer stand. Aber nicht allein die Pflege der Schwester, auch der intime Verkehr mit der Tante hatte günstig auf Henriette eingewirkt; sie war in dem einfachen, gemütlichen Fremdenzimmer anders geworden in ihren Lebensansichten und Lebensgewohnheiten – die Stille eines zurückgezogenen Lebens, die sie früher wie ein Gespenst geflohen, heimelte sie jetzt an, und sie blieb ruhig und wunschlos, mochte auch unter ihren Füßen der Gesellschaftstrubel noch so geräuschvoll werden.

Das Haus des Kommerzienrates aber war nie geselliger gewesen als gerade jetzt, nachdem sein Besitzer geadelt worden. Es fanden sich manche neue, sehr willkommene Elemente ein, denen zu Ehren verschiedene Festlichkeiten veranstaltet werden mußten, und darin waren die Erfindungsgabe der Präsidentin und die Börse des Kommerzienrates unerschöpflich. Der Mann hatte ein wunderbares Glück. Nie hörte man von einem Verluste, von einem Mißlingen; wohin die Wünschelrute seines Geschäftsgenies traf, da sprudelte die Goldquelle – man schätzte ihn nach Millionen. Und er verstand es wie selten ein Glückskind den neuen Glanz der Auszeichnung vor so vielen anderen Erdgeborenen zu tragen, ihn interessant und zum nie versiegenden Gesprächsthema für hoch und niedrig zu machen. Der Spazierweg vor der Villa Baumgarten war beliebt geworden: man zeigte die herrliche Besitzung, die sich Tag für Tag verschönerte, den Fremden; man sprach von den kostbaren Gemälden und Bildwerken, von den seltenen Sammlungen, die der Kommerzienrat unablässig hinter den marmorverzierten Wänden aufspeicherte, von der Silberkammer, mit der sich die des fürstlichen Hofes kaum messen könne; man blieb gefesselt stehen, wenn eine seiner Equipagen vor dem Portale hielt, und wunderte sich, daß die leichten, aufstiebenden Wölkchen, die der trockene Frühlingswind von den Sandwegen über den Rasen hinstreute, nicht Goldstaub waren.

Es wurde fortwährend gebaut; ganze Strecken des Parkes waren deshalb kaum mehr zu begehen. Man schritt an aufgetürmten Quadern und schneeweißen Marmorblöcken hin, die beim Bau und der Einrichtung neuer Pferdeställe verwendet wurden – die alten, sehr geräumigen waren der Vorliebe des Kommerzienrates für schöne Pferde längst zu eng geworden. Große Berge ausgegrabenen Erdreichs versperrten die Wege – für den sehr umfangreichen See, dem diese Massen Platz machen sollten, war der Boden nicht günstig; er und das Palmenhaus, eine beabsichtigte Merkwürdigkeit für die Residenz, verschlangen Unsummen. Zu alledem erschien eines Tages auch noch eine Anzahl Bauhandwerker und machte sich an einem hübschen, großen Gartenhaus zu schaffen, das bis dahin unbenutzt und verschlossen gestanden hatte. Es lag eine ziemliche Strecke von der Villa entfernt, im Dickicht, aber von seinen oberen Fenstern aus hatte man doch den Blick auf die Promenade und die Stadt. Das zierliche Haus erhielt einen eleganten Anbau; es wurden neue Fenster mit ungebrochenen Scheiben eingesetzt, und dann und wann zog der Kommerzienrat Tapetenproben oder Zeichnungen für die Täfelung des Fußbodens aus der Tasche und bat die Präsidentin, auszuwählen. Sie wurde zwar jedesmal sehr spitz und ungnädig, und Flora kicherte in das Taschentuch, aber wählen mußte die alte Dame doch, und wenn sie auch dabei versicherte, daß die Aufbesserung der alten Baracke sie ganz und gar nicht interessiere, daß sie zeitlebens übergenug für die Instandhaltung der Villa zu denken und zu sorgen habe und sich nicht auch noch um das »Logierhaus« fremder Geschäftsfreunde kümmern könne, das sie doch niemals mit einem Fuße betreten werde. Sie ignorierte denn auch den Neubau, trotz des beharrlich fortgesetzten und stets herüberklingenden Hämmerns und Pochens, wie nur je die herrschsüchtige Gemahlin eines Regierenden ihren zukünftigen Witwensitz ignorieren kann.

Zwischen diesem Trubel, diesem hastigen Beginnen und Vollenden aber kam und ging der Kommerzienrat wie ein Zugvogel. Er verreiste sehr oft in Geschäften, aber nur noch für kurze Zeit, wie er manchmal sagte, dann wollte er sich ein schönes Rittergut kaufen und Landedelmann werden. Hatte er aber einmal »ein paar Erholungstage«, dann war er sehr viel im ersten Stockwerk; den Nachmittagskaffee trank er regelmäßig droben, zum großen Ärger der Präsidentin, die dadurch ihr Lieblingsstündchen im Wintergarten verlor – sie war selbstverständlich viel zu aufmerksam, um den »lieben Moritz« bei der verdrießlichen Kranken und dem jungen Backfisch allein zu lassen, und brachte das Opfer, stets fast zugleich mit ihm zu erscheinen.

Käthe war das sehr erwünscht; sie empfand nun einmal eine unüberwindliche, beklemmende Scheu vor dem Schwager und Vormunde, seit er sich so wunderlich zuvorkommend und zärtlich ihr gegenüber und dabei so falsch, so heimtückisch bei äußerlich unveränderter Liebenswürdigkeit gegen die Präsidentin zeigte. Sie nahm unwillkürlich die befangene Zurückhaltung der erwachsenen Dame an, wo sie sich früher harmlos kindlich gezeigt hatte. Aber gerade das schien ihn zu belustigen und in seiner seltsamen Art zu bestärken. Er las ihr ihre Wünsche von den Augen ab; er hatte längst seine Einwilligung gegeben, daß der unbenutzte Teil des Mühlengartens an die Arbeiter verkauft werde – nie setzte er dem Wohltätigkeitssinne des jungen Mädchens irgendwie Schranken, und war ihre Börse auch noch so oft leer, er füllte sie ohne Widerrede. »Du darfst dir den Spaß schon erlauben, Käthe – ich werde bald einen zweiten Eisenspind anschaffen müssen,« sagte er dabei im Hinblick auf das staunenswerte Anwachsen des Kapitals. Sie nahm eine solche Äußerung stets mit finsterem Schweigen auf – er hatte auf ihre ernsten Fragen mit all seinen diplomatischen Wendungen und Finessen die Anklage des Volkes, daß ihr Reichtum auf erbarmungslose Weise erwuchert sei, nicht widerlegen können, auch ließ die Präsidentin keine Gelegenheit vorübergehen, wo sie diesen Vorwurf begründen konnte. Das kindlich naive Ergötzen, mit dem Käthe es früher »so über alle Maßen hübsch« gefunden, reich zu sein, hatte sich in eine Art von Furcht und Angst vor den Geldmassen verwandelt, die so riesig, auf so dämonenhafte Weise anschwollen, als müßten sie eines Tages in gerechter Vergeltung erdrückend über sie herstürzen.

Sie war überhaupt ernster geworden; das sonnige Lächeln, das ihr erregbares, heiteres Temperament sonst so oft und rasch über ihre Züge hinfliegen ließ, zeigte sich nur selten. So recht herzensfreudig war sie nur noch im Hause am Flusse, und auch da nur in gewissen Stunden. Die Tante Diakonus unterrichtete nämlich seit lange eine Anzahl bedürftiger Kinder unentgeltlich im Nähen und Stricken – das geschah jahraus jahrein an den Mittwoch- und Sonnabendnachmittagen. In diesen kleinen Kreis hatte sich Käthe mit der freundlichen Bewilligung der alten Frau eingeschmuggelt. Der Umgang mit Kindern war ihr völlig neu und machte Saiten in ihrer Seele erklingen, die sie bis dahin nicht geahnt hatte – es war die zärtlichste Hinneigung zu den kleinen Geschöpfen und die plötzliche Erkenntnis, daß sie im Grunde ihres Herzens den Beruf, die jungen Wesen an Leib und Seele zu stützen, sie kräftig und gesund zu erhalten und bildend auf sie einzuwirken, jedem anderen weit vorziehe.

Sie kleidete die Kinder, wo es not tat – in ihrem Nähkorb lag stets ein angefangenes Röckchen oder Schürzchen; sie sorgte, was die Tante Diakonus nicht hätte ermöglichen können, nun auch für ein reichliches Vesperbrot während der Unterrichtsstunden, und eine wahre Augenweide war es für die alte Frau, wenn das junge Mädchen mit dem Korb voll Obst und Brötchen erschien und mit wahrhaft mütterlicher Würde an den schönsten rotbackigen Apfel eine Belohnung zu knüpfen wußte. Für den Sommer verlegte die Tante den Unterricht in den Garten; die Kinder, meist in den engsten und dumpfesten Straßen der Stadt wohnend, sollten nun auch die Wohltat genießen, sich in reiner, gesunder Luft auf dem Rasen unter schattigen Obstbäumen tummeln zu dürfen. Käthe hatte zu dem Zweck hübsche, tragbare Bänke angeschafft, zugleich aber auch eine Anzahl Bälle und Reifen für die Spiel- und Erholungsstunde, die sich nunmehr an die Unterrichtszeit anschloß.

Flora war tief erbittert über diesen Verkehr, der sie, ihrer Meinung nach, in ihren Rechten, ihrer Beziehung zu der Tante beeinträchtigte, aber sie war klug genug, das im Hause am Flusse nicht verlauten zu lassen: man kam ja bei »der Alten« stets so schlecht an, wenn man »das große Mädchen mit der Plebejerröte auf dem Sommerschen Gesicht nicht für eine wahre Musterkarte aller erdenklichen Tugenden hielt«. Die schöne Braut kam auch täglich in das Haus; sie hatte sich weiße, mit Stickerei garnierte Latzschürzchen dutzendweise machen lassen und erschien nie ohne diesen häuslichen Schmuck, der ihr allerliebst stand. Den Vorwurf konnte man ihr nicht machen, daß sie nicht alles aufgeboten hätte, den Beifall der Tante Diakonus zu erringen. Sie setzte ihr zartes Gesicht der Glut des Küchenfeuers aus, um Pfannkuchen backen zu lernen; sie ließ sich über das Einmachen der Obstfrüchte und Gemüse, über die Behandlung der Wäsche belehren und nahm wohl auch einmal der Magd das Bügeleisen aus der Hand, um versuchsweise ein Stück Hauswäsche zu plätten, allein so groß auch das Opfer war, das damit gebracht wurde, es vermochte nicht die alte Frau aus der überaus höflichen, aber auch sehr kühlen Haltung, die sie seit jenem unheilvollen Abend angenommen, herauszulocken – es war, als ob sie genau wisse, daß Flora nach dergleichen Anstrengungen wie zu Tode erschöpft in ihr Ankleidezimmer wankte, dort die Schürze mit einer halbunterdrückten Verwünschung in die Ecke schleuderte und sich dann zur Erholung meist in den Wagen warf, um die Runde bei den Freundinnen zu machen, deren schwer zu verbergender Neid eine unerschöpfliche Quelle der Genugtuung für sie war. Diese Freundinnen behaupteten einstimmig, die Frau Universitätsprofessorin in spe liege mit ihren bauschenden Falbeln wie ein radschlagender Pfau im Wagen, und ihr Übermut sei kaum noch zu ertragen.

Der jähe Umschwung in Doktor Brucks Karriere wurde noch immer wie ein Wunder angestaunt. Daß der zuvor kaum noch mitleidig über die Achsel angesehene, so hart verurteilte und verfemte junge Arzt plötzlich als fürstlicher Hofrat durch die Straßen der Residenz schritt, konnte mancher nur schwer begreifen. Der Mann wuchs nun in den Augen des Publikums und der gesamten Hofgesellschaft himmelhoch, und weil er durch seine Übersiedelung nach L.....g für die Zukunft unerreichbar wurde, so wollte jeder Leidende womöglich noch von ihm hergestellt sein. So kam es, daß Doktor Bruck auf einmal mit einer kaum zu bewältigenden Praxis förmlich überbürdet war. Sein angefangenes Manuskript blieb unberührt auf dem Schreibtisch liegen; er schlief in der Stadtwohnung, aß meist eilig im Hotel, den angebotenen Platz am Tisch des Kommerzienrates konsequent ablehnend, und mußte die flüchtige Besuchszeit in der Villa und bei der Tante Diakonus, wie er sich ausdrückte, seinen Patienten abstehlen.

Käthe sah ihn nicht oft, und deshalb fiel es ihr um so mehr auf, wie er sich verändert habe – jedenfalls infolge der Anstrengung, meinte sie. Er sah bleich und ermüdet aus, und sein früher wohl zurückhaltendes, nachdenklich stilles, aber überaus mildes Wesen war einer finsteren Verschlossenheit gewichen. Mit Käthe hatte er seit jenem Augenblick, wo sie ihn, von Floras Armen umstrickt, im Flur überrascht hatte, kaum zwei Worte gewechselt, und zwar in so scheuer, schnell abbrechender Weise, daß sie sich nicht verhehlen konnte, er zürne ihres damaligen unwillkommenen Erscheinens wegen. Sie ging ihm deshalb auch verletzt, mit einem Gemisch von Trotz und Verlegenheit aus dem Wege, wo sie nur konnte.

In seinem Verhalten zu Flora dagegen war nicht die leiseste Wandlung eingetreten; er war genau ein so ernster, würdevoller Bräutigam, wie an dem Tage, wo Käthe die Verlobten zum erstenmal gesehen. Sie mußte manchmal denken, entweder sei der ganze entsetzliche Auftritt im Fremdenzimmer der Tante Diakonus ein toller Spuk ihrer eigenen Phantasie gewesen, oder Doktor Bruck müsse vergessen und unliebsame Erinnerungen so spurlos auslöschen können wie selten ein Mensch. Flora mochte freilich erwartet haben, daß mit ihrer Bitte um Verzeihung, mit ihrer offen an den Tag gelegten Reue sofort wieder jenes schöne, innige Verhältnis eintreten werde, wie es zu Anfang ihrer Brautschaft bestanden. Mußte er nicht, bei seiner unzerstörbaren Leidenschaft für sie, namenlos glücklich sein, sie nun unwiderruflich besitzen zu dürfen? Vielleicht barg er tief innen dieses Glück, aber zeigte es nur nicht, und seine schöne Braut tröstete sich mit dem Gedanken, daß ein Mann wie Bruck allerdings nicht so rasch versöhnlich sein dürfe; wußte sie doch, daß mit der Hochzeit, die nunmehr für den September festgesetzt worden war, alles anders werden müsse.

Mittlerweile war der 20. Mai, Floras Geburtstag, herangekommen. Auf allen Tischen des Zimmers dufteten Blumen, die die guten Freundinnen herkömmlicherweise gebracht hatten. Auch die Fürstin hatte der Braut des Hofrats, der mit Gnadenbeweisen förmlich überschüttet wurde, einen prachtvollen Strauß geschickt, und von den »stolzesten Granden« des Hofes waren Glückwünsche in der schmeichelhaftesten Form eingelaufen. Ja, es war ein Tag des Triumphes für die schöne Braut, ein Tag, an dem sie wieder einmal so recht bestärkt wurde in ihrer felsenfesten Überzeugung, daß sie wirklich ein Liebling der Götter, eine für einen auserwählten Lebensweg Geborene sei.

Und doch lag ein Schatten auf ihrer Stirn, und sie runzelte öfter ungeduldig und ärgerlich die Brauen. Auf dem Tische inmitten des Zimmers, zwischen den Gaben der Großmama und der Schwester, stand eine hübsche Tischuhr von schwarzem Marmor; Doktor Bruck hatte sie am frühen Morgen mit einem begleitenden Glückwunschschreiben geschickt und sich für die Vormittagstunden wegen seines Nichterscheinens entschuldigt, da er einen Schwerkranken vorläufig nicht verlassen dürfe.

»Ich begreife Leo nicht, daß er nichts Hübscheres für mich zu finden gewußt hat als das steinerne Unding da,« sagte sie, verdrießlich auf die Uhr zeigend, zu der Präsidentin, die den Strauß der Fürstin aus der Vase genommen hatte und unablässig daran roch, als müsse er einen ganz besonderen Duft ausströmen. »Ein schwarzes Geburtstagsgeschenk gibt man doch nicht gern; ich für meinen Teil finde es zum mindesten geschmacklos.«

»Die Uhr ist vollkommen passend, gerade in deinem Geschmacke gewählt, Flora; sie soll jedenfalls die wunderbar tiefsinnige Einrichtung dieses Zimmers vervollständigen,« sagte Henriette. Sie lag auf dem roten Ruhebett und streifte mit einem spöttischen Blick die schwarzen Säulenstücke in den vier Zimmerecken.

»Unsinn! Du weißt so gut wie ich, daß ich diese Einrichtung nicht mitnehmen kann. Moritz hat das Zimmer nach meiner speziellen Angabe eingerichtet, wie es ist, aber geschenkt hat er mir meines Wissens weder Möbel noch Ausschmückung. Ich möchte den Kram auch um alles nicht mitschleppen; man sieht sich ebenso satt und müde an einer ewig gleichen Zimmereinrichtung wie an einer oft getragenen Toilette. Was in aller Welt soll ich nun mit der schwarzen Figur da in meinem L.....ger Boudoir anfangen, das in Lila gehalten und mit Bronzegerät geschmückt sein wird?«

»Ein frischer Strauß wäre mir auch lieber gewesen, aber du bist ja nicht sentimental, Flora,« meinte Henriette, nicht ohne einen boshaften Anflug in der Stimme. Käthe aber, heute zum erstenmal schneeweiß gekleidet, stand neben einem herrlich entwickelten Myrtenbaum, den die Tante Diakonus selbst gezogen und herübergeschickt hatte, und ließ die Hand mit einem wehmütigen Lächeln wie schmeichelnd über die feinblättrigen, biegsamen Zweige gleiten. Niemand beachtete das selten schöne Geschenk, dessen Hingabe jedenfalls ein schweres inneres Opfer gekostet hatte.

Nach Tische hielt man sich im Balkon- und Empfangszimmer auf, weil immer noch Glückwünschende kamen und gingen. Sämtliche Türen der Zimmerreihe waren zurückgeschlagen; es war ein herrlicher Aufenthalt, dieses untere Stockwerk. Durch das vergoldete Bronzegitter des Balkons zogen weiche Lüfte, die den Duft vom jungen Lindenlaube der Allee und aus den halboffenen Blütenknospen des Ziergärtchens herübertrugen, und in die hohen Fenster fiel das goldene Maienlicht; nur dem dunkelpurpurnen Zimmer vermochte es keinen Widerschein abzulocken, das sah grämlich und kalt aus wie immer, und dem weichen Gefühle mußte der aufgehäufte Reichtum lebender Blumen zwischen diesen vier Wänden geradezu grausam erscheinen.

Henriette lag in einem Schaukelstuhl, der offenen Balkontür gegenüber. Sie hatte auch gern »maienhaft wie Käthe« aussehen wollen und ihr hageres Figürchen in eine ganze Wolke weißen Mulls gesteckt, aber fröstelnd hüllte sie den Oberkörper in einen weichen Schal von gesticktem Crêpe de Chine, und darüber her wogte aufgelöst ihr reiches blondes Haar, das sie seit dem letzten schweren Leidensanfalle nicht mehr aufnestelte. So stilliegend und vom halbgedämpften Sonnenlichte überspielt, mit den weit offenen, blauglänzenden und schwarzbewimperten Augen, der kalkweißen Haut, die nur in der Nähe der zarten Schläfen ein fieberhaft roter Anhauch betupfte, sah sie heute aus wie ein Wachspüppchen. Sie hatte Käthe an den Flügel im Musiksalon geschickt und wartete nun mit in den Schoß gefalteten Händen auf den Anfang des Schubertschen Liedes »Lob der Tränen«. Da verdunkelten sich plötzlich die Fieberflecken auf dem schmalen Gesichtchen zum tiefsten Karmin, und die verschränkten Hände fuhren unwillkürlich nach dem Herzen – Doktor Bruck trat in den Salon.

Flora flog ihm entgegen, hängte sich an seinen Arm und zog ihn in ihr Zimmer, damit er ihre Geburtstagsgeschenke ansehe. Die schöne Dame, die so lange ihrem ganzen Tun und Lassen den Stempel der Gelehrsamkeit, der ernstgrübelnden Forschung aufzudrücken verstanden, zeigte heute, an ihrem neunundzwanzigsten Geburtstage, die naive Grazie einer Sechzehnjährigen, und in dieser Wandlung war sie mit ihrem lieblich belebten Gesicht und dem weichen Spiel der schlanken, biegsamen Glieder auch wirklich jugendlich reizend.

Käthe stand am Notenschrank und suchte nach dem begehrten Lied, als das Brautpaar hinter ihr weg nach Floras Zimmer schritt; sie sah sich nur flüchtig um, wobei sie einen halbverlegenen Gruß vom Doktor erhielt, und suchte dann um so emsiger.

»Sieh, Leo, mit dem heutigen Tage schließe ich die Vergangenheit ab, in der ich so schwer geirrt und mich nahezu um mein Lebensglück gebracht hätte,« sagte Flora drüben mit unwiderstehlich süßer Stimme, während Käthe einen dicken Notenstoß aus dem Schranke hob. »Ich will die Erinnerung an jenen schlimmen Abend nicht wieder wachrufen, wo ich alle Herrschaft über mich verloren und in der Aufregung und Gereiztheit Aussprüche getan habe, um die meine Seele, mein Herz selbst nichts wußten, aber um der Wahrheit willen, und weil ich mir doch das schuldig bin, muß ich dir sagen, daß auch du damals geirrt hast, was dein absprechendes Urteil betrifft. Es war nicht der Trieb, mich hervorzutun, der mich der Schriftstellerei zugeführt hat, sondern in der Tat die Begabung – deutlich gesagt – der Genius. Frage mich nicht weiter! Ich kann dir nur versichern, daß ich meinen Weg gemacht haben würde, und zwar durch mein Werk ›Die Frauen‹, das du ja nicht kennst. Es ist nach Aussprüchen von maßgebender Seite wohl geeignet, meinen Namen rühmend in alle Welt hinauszutragen, aber wie könnte es mir jetzt wohl noch einfallen, an deiner Seite meinen eigenen Weg zu gehen und meine besonderen Fähigkeiten geltend machen zu wollen? Nein, Leo, ich werde mich einzig und allein in deinem Ruhme sonnen, wie es der Frau ziemt, und damit mir auch in Zukunft die Versuchung nie wieder nahe trete, müssen diese Blätter, das Resultat emsigen Studiums und des poetischen Quells, der nun einmal in meiner Seele quillt und sprudelt, aus der Welt verschwinden.«

Käthe umschritt in diesem Augenblick, das endlich gefundene Notenblatt in der Hand, den Flügel. Sie sah, wie Flora das Manuskript mit einigen Streichhölzern entzündete und es auflodernd in den Kamin warf. Die schöne Braut wandte dabei den Kopf nach der Fensterseite zurück, wo jedenfalls der Doktor stand. Vielleicht wünschte sie, er möchte den Versuch machen, sie in ihrem Beginnen zu hindern; allein kein Schritt wurde hörbar, keine rettende Hand streckte sich aus, um das »kostbare« Brennmaterial den Flammen zu entreißen. Der Brandgeruch, den der Frühlingswind in das Zimmer zurücktrieb, wehte in den Musiksalon, und während Flora mit fest eingeklemmter Unterlippe und seltsam glimmenden Augen vom Kamin zurücktrat, nahm Käthe hastig den Platz am Flügel ein und begann sofort die Lisztsche Phantasie über das »Lob der Tränen«.

Käthe wollte Brucks Antwort nicht hören; denn es war ihr schrecklich, stets unfreiwillige Zeugin der Szenen zwischen den Verlobten zu sein – Bruck mußte sie zuletzt hassen. Aber sie war namenlos empört über die abermalige Komödie, die sich eben wieder vor ihren Augen abgespielt. Das abgegriffene, wandermüde Manuskript, das auf seinen »Zickzackwegen durch die Welt« von maßgebender Seite wiederholt als nicht brauchbar zurückgeschickt worden war – es hatte die Rolle eines tränenwerten Opfers spielen müssen, das die Seelengröße, die hehre Selbstüberwindung eines hochbegabten, sich und ihren Genius verleugnenden Weibes dem strengen Herrn und Gebieter brachte.

Es wurde drüben gesprochen. Käthe hörte durch die Melodie, die ihre Hände energischer als sonst den Tasten entlockten, die ernste, unbewegte Stimme des Doktors, aber sie verstand zu ihrer eigenen Beruhigung kein Wort, und als sie schloß, da kam auch Flora schon wieder herüber, um in das Balkonzimmer zurückzukehren. Diesmal hing sie nicht an Brucks Arm; sie hielt den Strauß der Fürstin in der Hand und ging neben dem Doktor her, verdrossen wie ein gescholtenes Kind, das aber nicht zu widersprechen wagt – Flora hatte ihren Herrn und Meister gefunden … Ein zorniger Seitenblick streifte die am Flügel sitzende Schwester, die eben die Hände von den Tasten sinken ließ. »Gott sei Dank, daß du fertig bist, Käthe!« sagte sie stehen bleibend. »Du lärmst ja auf dem Instrument, daß man sein eigenes Wort nicht versteht. Schau, deine eigenen Sachen spielst du ja ganz nett – das sind eben harmlose Kindermelodien ohne alle Tiefe – an Schubert und Liszt aber solltest du dich nicht wagen; dazu fehlt dir das Verständnis und vor allem die Fertigkeit.«

»Henriette hat das Stück zu hören gewünscht,« entgegnete Käthe gelassen und schloß den Flügel. »Für eine fertige Klavierspielerin habe ich mich nie ausgegeben –«

»Nein, Herzenskäthe, das hast du niemals getan, bist auch keine Virtuosin, die Bocksprünge mit ihren Fingern macht,« fiel Henriette ein; sie stand plötzlich, wie hingeweht, auf der Schwelle des Musikzimmers, »aber das Mädchengemüt möchte ich kennen, das Schubert inniger auffassen möchte als du – oder meint Schwester Flora, die Tränen, die einem dabei in die Augen treten, weine und heuchle man aus bloßer Gefälligkeit?«

»Kranke Nerven, Kindchen – weiter nichts!« lachte Flora und folgte dem Doktor in den Salon, von wo die Präsidentin ihn gerufen hatte.

Die alte Dame saß drüben mit etwas erhitztem Gesicht, in der einen Hand die Lorgnette, in der anderen einen Brief, den ein Diener eben gebracht hatte. »Ach, liebster, bester Hofrat« – sie gebrauchte diesen Titel, so oft er sich anbringen ließ, denn er schmeichelte ihrem Ohre trotz alledem und alledem – »da schreibt mir eben meine Freundin, die Baronin Steiner, daß sie in den nächsten Tagen hierherkommen will, um Rat und Hilfe bei Ihnen zu suchen. Sie ist ganz trostlos über ihren Enkel, den Stammhalter der alten Familie von Brandau – der Junge hinkt seit einiger Zeit ein wenig, und die tüchtigsten Ärzte tappen im Dunkeln über den Ursprung des Leidens. Wollen Sie das Kind untersuchen und in Behandlung nehmen?«

»Sehr gern, vorausgesetzt, daß die Dame nicht allzu große Ansprüche an meine Zeit macht.« Er kannte schon diese hocharistokratisch sich gebärdenden Damen, die gar zu gern »warten lassen« und einen angehenden Schnupfen wie eine Todeskrankheit respektiert sehen wollen.

Die Präsidentin war sichtlich verletzt durch die gleichgültige Art und Weise, mit der ihre Bitte aufgenommen wurde; sie antwortete nicht.

»Die Baronin ist sehr verstimmt durch meinen neulichen Absagebrief,« wandte sie sich an Flora; »der Zettel da« – sie tippte mit der Lorgnette auf das Briefblatt – »strotzt von Anzüglichkeiten, und wenn nicht Sorge und Angst an sie heranträten, würde sie mir wohl nie wieder geschrieben haben; wie mich das schmerzt, kann ich kaum sagen. Sie will nun im ersten besten Hotel wohnen, von wo aus unser Hofrat am ersten zu erreichen ist, und bittet mich wenigstens um die Gefälligkeit, ihr eine Wohnung von fünf Zimmern auszumachen.« Jetzt zuckte ein wahrhaft vernichtender Blick unter den breiten Lidern hervor nach dem jungen Mädchen im weißen Kleide, das ihr gegenüber hinter einem Stuhle stand und, die Hände auf die Lehne desselben gelegt, mit niedergeschlagenen Augen den Verhandlungen zuhörte, wobei abwechselnd Erröten und Blaßwerden über das liebliche Gesicht hinflogen – war doch jedes Wort ein Vorwurf für sie.

»Mein Gott, es ließe sich ja schließlich im ersten Stock einrichten, wenn die gute Steiner nicht durchaus fünf Zimmer haben müßte,« fuhr die Präsidentin fort. »Aber sie braucht doch notwendig einen Salon für sich und ihre Tochter Marie, ein Wohnzimmer für den kleinen Job von Brandau und seine Erzieherin, und allermindestens drei Schlafzimmer – die Jungfer kommt ja auch mit.« Sie stützte sorgenschwer und tief verstimmt den Kopf in die Hand.

»Das will alles in allem sagen, daß Käthe für die Besuchszeit dieser wildfremden und anmaßenden Frau Baronin im Wege ist,« fuhr es Henriette scharf und zornig heraus.

»Ich habe mich bereits erboten, in die Mühle zu gehen,« sagte die junge Schwester ohne eine Spur von Empfindlichkeit und strich beschwichtigend mit der Hand über Henriettens Haar.

»O nein, da weiß ich etwas Besseres, Käthe – wenn du denn einmal weichen mußt,« rief die Kranke mit aufleuchtenden Augen. »Wir bitten die Tante Diakonus um das liebe traute Fremdenzimmer für dich; ich weiß, sie wird ganz glücklich sein, dich drüben zu haben, denn du bist ja ihr Augapfel … Dein Flügel wird hinübergeschafft, und da darf ich dann auch kommen, so oft ich will –« Sie verstummte plötzlich mit einem Blick auf den Doktor. Dieser hatte sich zuerst abgewendet und durch das Fenster gesehen, und jetzt kehrte er ihr das tiefverfinsterte Gesicht zu, und das, was sie aus seinen Augen ansprühte, war heftiger, zürnender Widerspruch; sie traute ihren Sinnen kaum –, er war gar nicht mehr er selbst.

»Ich finde es praktischer und schlage deshalb vor, daß der Knabe mit seiner Erzieherin in meinem Hause einquartiert wird,« sagte er kalt und gezwungen.

Die Präsidentin rückte und zupfte verlegen an der Schleierwolke unter ihrem Kinn, auch konnte sie ein flüchtiges spöttisches Lächeln kaum unterdrücken. »Das wird sich schwerlich machen lassen, bester Hofrat,« versetzte sie. »Meine alte Freundin wird sich um keinen Preis von Job trennen wollen, und dann – Sie haben keinen Begriff davon, wie entsetzlich verwöhnt der Junge ist. Unser kleiner lieber Erbprinz wohnt nicht so vornehm wie dieser einzige und letzte Sproß der Brandaus; das dürre, häßliche Kerlchen schläft unter Atlasdecken und hinter seidensamtenen Vorhängen. Mein Gott ja, die Familie kann das und findet solch eine luxuriöse Umgebung selbstverständlich. Unsereins kommt aber in Verlegenheit, wenn es gilt, sie zu beherbergen.«

»Und weshalb ziehst du es vor, das kleine Scheusälchen – dieser gefeierte letzte Sproß der Brandau ist nämlich der ungezogenste, nichtsnutzigste Bengel, den die Welt hat – der armen Tante Diakonus ins Haus zu bringen, Leo?« fragte Henriette heftig und gereizt den Doktor; sie war urplötzlich in jene krankhafte Aufregung verfallen, die sie öfter Dinge sagen ließ, die sie nachher bitter bereute. »Was hat dir denn Käthe getan? Ich sehe es längst mit Ingrimm, wie ungerecht und vorurteilsvoll du gegen sie bist; ist sie dir nicht vornehm genug, weil der Schloßmüller ihr Großvater war? Nie fällt es dir ein, sie auch nur anzureden, und das ist doch geradezu lächerlich, denn sie ist und bleibt Floras Schwester so gut wie ich. Unter uns allen waltet das trauliche ›Du‹ – nur sie ist die Ausgestoßene.«

»Mein lieber Schatz, dieses ›Du‹ ist mir längst ein Dorn im Auge, und wenn es auf mich allein ankäme, dann dürftest du es so wenig gebrauchen wie Käthe auch,« fiel Flora ein. »Aufrichtig gestanden, ich gönne keiner anderen auch nur das Jota von einem Vorrechte, das mir allein zusteht. In bezug auf dich will ich Gnade für Recht ergehen lassen – mag es dabei bleiben, von Käthes Seite aber würde ich mir eine solche Vertraulichkeit zu Leo ganz ernstlich und energisch verbitten.« Sie schlang ihren Arm um die Schulter des Doktors und schmiegte sich mit einem zärtlichen Aufblick eng an seine hohe Gestalt.

Machte es diese Berührung in Gegenwart der anderen, oder war er innerlich so bestürzt und empört über Henriettens rücksichtslose Vorwürfe – der Doktor fuhr empor, als halte ihn eine Schlange und nicht ein schöner, weicher Mädchenarm umschlungen, und sein Gesicht war weiß und blutlos wie der Tod.

Käthe wandte sich ab und wollte das Zimmer verlassen – sie hätte laut aufweinen mögen, so entsetzlich wehe hatte man ihr getan, aber sie verbiß standhaft die Qual und bemühte sich, ihre äußere Haltung zu behaupten; da wurde die Tür geöffnet, auf die sie zuschritt, und der Kommerzienrat trat herein. Wunderlich, sie vergaß in diesem Augenblicke völlig die Abneigung, die sich während der letzten Zeit in ihr Herz geschlichen; sie dachte nur daran, daß er ihr Vormund sei, Vaterstelle bei ihr vertrete und sie schützen müsse, und infolge dieses Antriebes trat sie neben ihn und legte die Hand auf seinen Arm.

Er sah sie überrascht, aber froh lächelnd an und drückte ihre Hand unter schalkhaftem Augenblinzeln mit seinem Arme fest an das Herz. Die Hände hatte er nicht frei; er trug eine kleine Kiste, die er auf den Tisch stellte, hinter dem die Präsidentin saß. Sein Eintreten unterbrach einen unsäglich peinlichen Auftritt, und Henriette, die ihn herbeigeführt, hätte dem Kommerzienrat jetzt um den Hals fallen mögen für den heiteren, frohmütigen Ton, den er in seiner Unbefangenheit anschlug.

»Nun bin ich getröstet, da ist endlich mein Angebinde für dich eingetroffen, Flörchen,« sagte er. »Mein Berliner Agent entschuldigt sein Zögern mit der Umständlichkeit der Fabrikanten.« Er lüftete den Deckel. »Apropos, ich habe auch noch eine Geburtstagsfreude für dich,« unterbrach er sich in leichtfertig scherzendem Tone. »Eben sagt man mir, daß du gerächt bist; heute morgen ist die Hauptheldin des Attentates im Stadtforste, die mit den gefahrdrohenden Nägeln, verurteilt und ihr eine ganz bedeutende Gefängnisstrafe zuerkannt worden; die anderen, entweder noch sehr jung oder zu der Missetat von der Anstifterin verführt, wie sich herausgestellt hat, sind meist mit einem blauen Auge davongekommen.«

»Ich will nicht hoffen, daß Flora diese Nachricht wirklich als Geburtstagsfreude aufnimmt,« rief Henriette. »Allerdings, Strafe muß sein, und der großen, wilden Megäre kann es nicht schaden, wenn sie durch Stillsitzen ein wenig zahm gemacht wird, allein für uns selbst hat in jenem entsetzlichen Auftritt etwas so namenlos Beschämendes gelegen – es ist schrecklich, sich so verhaßt und verwünscht zu wissen, und die Verhaßteste von uns allen ist Flora – daß du besser getan hättest, Moritz, gerade heute darüber zu schweigen.«

»Meinst du?« lachte Flora. »Moritz kennt mich besser; er weiß, daß ich hoch über der sogenannten Volkesstimme stehe, und um populär zu werden, nie einen Finger rühre. Und du hast früher nicht anders gedacht, Henriette. Ich möchte wissen, was du noch vor acht Monaten gesagt haben würdest, wenn irgend jemand die Volksinteressen in unseren Salons betont und vertreten hätte – das waren dir ›böhmische Dörfer‹. Aber seit Käthe da ist, sind diese Fragen in unserem ersten Stock so über alle Gebühr an der Tagesordnung, daß einem angst und bange wird vor so viel spartanischer Tugend und unfehlbarer Mädchenweisheit. Es sollte mich sehr wundern, wenn unsere Jüngste nicht bereits in ihrem Kochbuch Braten und Suppen aufgeschlagen hätte, die notwendig sind, um die Büßende bei Kräften zu erhalten.«

»Das nicht,« entgegnete Käthe mutig und ernsthaft in das vor Spott und Sarkasmus zuckende schöne Gesicht der impertinenten Schwester hinein; »aber nach ihren Familienverhältnissen habe ich mich erkundigt – sie hat vier kleine Kinder, und ihr unverheirateter Bruder, der in Moritzens Spinnerei beschäftigt war und für die halbverwaisten Kleinen mitgesorgt hat, liegt schon längere Zeit krank danieder. Es versteht sich von selbst, daß diese fünf hilflosen Menschen unter der notwendigen Strafe nicht mitleiden dürfen, und da will ich lieber gleich sagen, daß ich die Verpflegung in die Hand genommen habe, bis die zwei Versorger wieder arbeitsfähig sind.«

Der Kommerzienrat fuhr herum – er schien denn doch einen Widerspruch auf den Lippen zu haben. »Ja, Moritz,« sagte das junge Mädchen rasch mit einem ausdrucksvollen Blick, »das sind so Augenblicke, wo mir vor dem Geldschrank meines Großvaters weniger graut.«

Die Präsidentin rückte ungeduldig auf ihrem Lehnstuhl hin und her – diese krasse Sentimentalität ging ihr über den Spaß. »Das sind ja recht hübsche Eröffnungen! Wie wunderlich und verdreht sich doch solch ein Kindskopf die Welt malt! In gefährlichere Hände kann der Reichtum gar nicht kommen,« rief sie tiefgeärgert. »Ja, nicht wahr, bester Bruck, da stehen Sie nun auch und sehen sich nachdenklich die Hand an, die sich so hilfsbedürftig an Moritzens Arm anklammert und dabei doch so willkürlich und eigenmächtig das Geld zum Fenster hinauswirft, das er mit mehr Strenge verwalten sollte?«

Käthe zog augenblicklich die Hand zurück. Sie sah noch, wie die Augen des Doktors unverwandt und finster auf ihren Fingerspitzen hafteten und dann erschrocken über die gegenüberliegende Wand hinstreiften.

»Ach, Großmama, ein Blick der Mißbilligung ist das ganz gewiß nicht gewesen,« rief Flora scharf, sie trat mit einer ungestümen Gebärde ein wenig zurück und beobachtete argwöhnisch den Farbenwechsel auf dem schönen Gesichte des Verlobten. »Bruck war ja selbst immer so eine Art Schwärmer für das sogenannte Volkswohl.«

»Aber jetzt doch nicht mehr, mein Kind – jetzt, wo er bei Hofe verkehrt und die Gnade des Fürsten besitzt wie kaum ein anderer?«

»Und weshalb sollte ich diesem Verkehre meine Grundsätze unterordnen?« fragte der Doktor anscheinend ruhig, allein seine Stimme klang unsicher und bewegt, als habe er noch mit inneren Stürmen zu kämpfen.

»Mein Gott, Sie werden doch nicht mit diesen Umsturzmenschen, diesen Sozialdemokraten, gehen wollen?« rief die Präsidentin ganz bestürzt.

»Ich glaube, schon einigemal ausgesprochen zu haben, daß ich gar keiner dieser heftig streitenden Parteien angehöre, eben aus Humanität. Ich bemühe mich, den klaren Überblick zu behalten, den der Parteihaß stets trübt und der doch so notwendig ist, wenn man zum wahren Menschenwohle wirken will.«

Währenddem hatte der Kommerzienrat geschäftig die Kiste ausgepackt. Ihm war es stets höchst fatal, wenn das Gespräch auf ein Gebiet hinüberspielte, wo die Meinungsverschiedenheiten ihm das häusliche Behagen, wenn auch nur für einen Augenblick, störten. Er entfaltete maisgelben Atlas und veilchenfarbenen Seidensamt. »Zwei Toiletten zu deinem ersten Auftreten als Frau Professorin auf dem Balle und in der Abendgesellschaft,« sagte er unmittelbar nach Brucks letzten Worten.

Er hatte seinen Zweck erreicht – der Glanz, den er hinbreitete, war zu verführerisch für Damenaugen; selbst Henriette vergaß für den Augenblick ihren Groll, als auch noch elegante Fächer und Schachteln mit Pariser Blumen und Federn das reiche Geburtstagsgeschenk vervollständigten. Aber noch war der Inhalt der Kiste nicht erschöpft. »Die anderen Damen meines Hauses dürfen nicht leer ausgehen, um so weniger, als ich einstweilen eine Reise nicht in Aussicht und mithin für die nächste Zeit nicht die Gelegenheit habe, etwas mitbringen zu dürfen,« fuhr der Kommerzienrat fort.

Die Präsidentin nahm mit süßem Lächeln einen kostbaren Spitzenschal in Empfang, und Henriette erhielt ein weißes Taftkleid, in Käthes widerstrebende Hand aber drückte der Kommerzienrat mit einem eigentümlich verständnisvollen, vielsagenden Blicke ein ziemlich umfangreiches Etui.

Dieser eine Blick rief blitzschnell in der Seele des jungen Mädchens einen wahren Sturm der widerwärtigen Empfindungen wach, die sie in der letzten Zeit zu ihrem eigenen Befremden so sehr gegen den Schwager und Vormund eingenommen hatten. Nein, und abermals nein! So seltsam feurig und so innig vertraut, als gelte es ein Geheimnis, um das nur sie beide wüßten, durfte und sollte er sie nicht anblicken – sie wollte sich das ein für allemal verbitten. Scham, Abneigung und der fast unbezwingliche Drang, ihren Widerwillen gleich jetzt, vor aller Ohren, unverhohlen auszusprechen, das alles kämpfte in ihr und mochte sich wohl auf ihrem Gesicht spiegeln, wenn es auch mißverstanden wurde.

»Nun, Käthe, ist es dir etwas so Neues, beschenkt zu werden?« fragte Flora. »Was hat dir denn Moritz zugesteckt? – Einmal müssen wir es doch erfahren, das süße Geheimnis – gib nur her, Kind!« – Sie fing das Etui auf, das eben im Begriff war, auf die Erde zu fallen, und drückte auf die Feder. Ein blaßrotes Feuer entströmte den Steinen, die, als Halsband aneinandergereiht, auf schwarzem Samt lagen.

Die Präsidentin nahm die Lorgnette vor die Augen. »Prächtig gefaßt! Eigentlich zu künstlerisch, zu antik für die Imitation, wenn sie auch modern ist und selbst von hochgestellten Damen augenblicklich gebilligt wird … Der Glasfluß ist merkwürdig rein und feurig.« Sie blinzelte angestrengt hinüber und streckte nachlässig die Hand aus, um sich das Etui zur näheren Besichtigung auszubitten.

»Glasfluß?« wiederholte der Kommerzienrat beleidigt. »Aber, Großmama, wie können Sie mich denn für so entsetzlich unnobel halten? Ist denn auch nur ein Faden hier unecht?« – Er fuhr mit der Hand durch die knisternden Stoffe. »Ich kaufe grundsätzlich nie Unechtes – das sollten Sie doch aus Erfahrung wissen.«

Die Präsidentin biß sich auf die Lippen. »Das weiß ich, Moritz – ich bin nur ganz verblüfft der Tatsache gegenüber; das sind Rubinen, wie sie, meines Wissens, unsere liebe Fürstin nicht einmal aufzuweisen hat.«

»Dann tut mir der Fürst leid, daß ihm die Mittel dazu fehlen,« rief der Kommerzienrat unter übermütigem Lachen. »Übrigens müßte ich mich schämen, gerade Käthe etwas Wertloses zu schenken, Käthe, dem Goldkind, das in zwei Jahren aus dem eigenen Besitze jedes beliebige Kapital entnehmen und sich Juwelen anschaffen kann, so viel sie Lust hat. Wie würde sie dann die Imitation als eine Beleidigung verächtlich in die Ecke werfen!«

»Ich glaube das selbst,« fiel die Präsidentin mit kühler Ironie ein; »Käthe hat eine merkwürdige Vorliebe für alles Schwere, in dem recht viel Geld steckt – das beweisen ihre ewigen Tafttoiletten. Aber, mein Kind« – sie heftete die Augen scharf auf das junge Mädchen, das die bebenden Hände wieder auf der Stuhllehne gefaltet und keine Miene gemacht hatte, das Geschmeide zurückzunehmen – »auch die Art, sich zu kleiden, muß vom Taktgefühl, vom guten Ton ausgehen, wenn man denn einmal gern zur feinen Welt gehören möchte. Achtzehn Jahre und Brillanten passen nicht zusammen – an einen Mädchenhals gehört ein schlichtes Kreuz oder Medaillon am Samtbande, allerhöchstens eine einfache Perlen- oder Korallenschnur.«

»Ich bitte dich, Großmama, Käthe bleibt doch nicht immer achtzehn Jahre und auch nicht immer ein Mädchen,« rief Flora mutwillig. »Das weiß ich am besten, gelt, Käthe?«

Die Augen des Mädchens flammten auf vor beleidigter Scham und vor Unwillen; sie wandte sich stolz ab, ohne auch nur mit einer Silbe zu antworten.

»Schau, wie sie erhaben aussehen kann, die Kleine!« lachte Flora gezwungen auf – es gelang ihr nicht, ein Gemisch von Ärger und Verlegenheit ganz zu verbergen. »Tut sie doch, als hätte ich an das strengste Amtsgeheimnis mit meiner unschuldigen Ausplauderei gerührt! Ist's denn ein Verbrechen, wenn man den Wunsch hat, sich zu verheiraten? Geh, kleine Prüde! Was man in einem vertraulichen Augenblicke bekennt, das muß man auch öffentlich nicht verleugnen.« Sie schob die schneeweißen Finger spielend unter die funkelnden Rubinen und sah schelmisch und vielsagend blinzelnd den Kommerzienrat von der Seite an. »Wahr ist's, Moritz – das ist in der Tat ein Halsband – wie es nur die Frau eines Millionärs tragen kann.«

Bei diesen Worten erhob sich die Präsidentin. Sie raffte mit ungewohnter Hast und unsicheren Fingern Brief und Lorgnette auf und zog den Umhang über die Schultern, um zu gehen. »Magst du auch immer streng auf Echtheit halten, bester Moritz,« sagte sie vornehm gelassen, »der Champagner, den wir mittags auf Floras Wohl getrunken haben, war es nicht; er macht mir unerträgliches Kopfweh. Ich muß mich für einige Stunden niederlegen.«

Inmitten des Salons wandte sie sich noch einmal zurück. »Wenn ich mich erholt habe, möchte ich dich um eine Entscheidung bitten,« setzte sie hinzu, indem sie dem Kommerzienrat den Brief hinhielt. »Lies ihn – du wirst finden müssen, daß die Baronin nicht zum zweitenmal zurückgewiesen und beleidigt werden darf. Ich habe mich neulich gefügt um des lieben Friedens willen, aber nun bin ich nicht mehr in der Lage, so unverantwortlich nachzugeben. Leute unseres Standes lassen sich denn doch nicht wie Marionetten, je nach Gefallen, dirigieren und wohl gar als unbequem abschütteln. Das bedenke wohl, Moritz!«

Mit kalter Strenge in den Zügen und einem hochmütigen Kopfnicken ging sie hinaus.


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