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27.

Über den Baumwipfeln des Parkes wehte die Morgenluft und zog durch das weit offene Fenster; sie trug ein traumhaftes, halbverlorenes Wasserrauschen vom fernen Fluß her in die Kirchenstille des Schlafzimmers und hauchte das weiße Gesicht der schlummernden Kranken mit Reseda- und Levkojendüften an. Und das rote wilde Weinlaub, das draußen den Fensterrahmen umkränzte, bebte im leisen, samtweichen Zugwind; es sah aus, als habe er die dreifingrigen Purpurblätter im Vorüberstreifen gepflückt und über die weiße Bettdecke und das gelöste aschblonde Haar verstreut und die blassen Hände in das kühle Laub wohlig vergraben. Henriette hatte sich die Blätter pflücken lassen, »als letzte Grüße des Sommers, der sich nun auch zur Wanderschaft anschicke«.

Käthe saß am Bett und behütete den Schlaf der Schwester. Sie hatte selbst das dreist herbeifliegende Rotschwänzchen, das gewohnt war, Kuchenkrümchen auf dem Fenstersims zu finden, mit einer angstvollen Handbewegung fortgescheucht; sein zartes Gezwitscher klang fast erschreckend in das bange Schweigen, das dem Ohr jeden schwachen Atemzug hörbar machte, unter dem sich die schmale Brust der Kranken in beängstigend langen Zwischenräumen hob. Doktor Bruck hatte seine Kranke für eine halbe Stunde verlassen müssen; der Fürst bestand darauf, den Arzt, der ihn nach so vielen fehlgeschlagenen Heilversuchen in kurzer Zeit vollkommen hergestellt hatte, bis zu dessen Abreise als Berater täglich zu empfangen. Und so war Bruck gegangen, die günstige Schlummerstunde benutzend, wo Henriette ihn nicht vermißte.

Die Kammerjungfer hatte mit einer Näharbeit hinter dem Bettvorhang Platz genommen, um nötigenfalls bei der Hand zu sein; sie sah dann und wann verstohlen zu dem regungslosen jungen Mädchen dort im Armstuhl hinüber. Drunten im Untergeschoß hatten sie vorhin davon gesprochen, daß »das Fräulein aus der Mühle« bei »dem Streich des gnädigen Herrn« am schlimmsten wegkomme, und sie meinte nun, ein Menschenkind, dem eben eine halbe Million aus der Hand geschlüpft sei, müsse doch ganz anders verzweifelt aussehen als die junge Dame, die, den Verband über der Stirn und die schönen Glieder in ein weiches, weißes Morgenkleid gehüllt, traurig ernst, aber still gefaßt, wie eine Bildsäule in ihrer aufmerksam beobachtenden Stellung verharrte. »So jung und so gesetzt, so frischblühend und lebenstrotzend, und doch so wenig für die Welt und alle ihre guten Dinge!« meinte die Beobachterin in ihren Zofengedanken weiter – da war die schöne Dame klüger, die jetzt drüben ihren Brautschatz einpackte: sie brachte vor allen Dingen ihre Sachen in Sicherheit; sie hetzte ihre Jungfer treppauf, treppab nach jedem Taschentuch, das sich in die Hauswäsche verirrt hatte und mit gepackt werden sollte – sie wollte nichts, auch gar nichts verlieren. So schlau und energisch hatte sie immer für sich gesorgt, und darum war sie auch die Reiche, »der kein Härchen gekrümmt wurde«, in der Familie geblieben. Nun reiste sie mit ihren Koffern und Kisten dem Bräutigam voraus nach L.....g und ging allen Schrecknissen, die jeden Augenblick über die Villa hereinbrechen konnten, aus dem Wege. Man hätte sich zu Tode ärgern mögen, daß ihr auch alles glückte, was sie durchsetzen wollte; sie durfte sich alles erlauben, und die ganze Welt hieß es gut und recht. Und jetzt wurde auch noch im Aussteuerzimmer so laut gepoltert, daß die Kranke aus dem Schlafe aufschrak.

»Das gnädige Fräulein kramt drüben und packt ihre Sachen,« sagte Nanni mit erkünsteltem Gleichmut, als Käthe entsetzt emporfuhr und die Hände beschwichtigend über die Halberwachte hinstreckte.

Henriettens Wohnzimmer trennte allerdings die beiden Räume, und Flora setzte deshalb jedenfalls voraus, daß man ihr Hantieren im Krankenzimmer nicht hören könne; sonst hätte sie doch gewiß das anhaltende Schieben und Umherstoßen der Kisten und Koffer aus Rücksicht vermieden. Käthe erhob sich, und die nach dem Nebenzimmer führende Tür hinter sich schließend, ging sie hinüber in den Raum, wo gepoltert wurde.

Flora stieß einen leisen Schrei aus – es blieb unentschieden, ob vor Schreck oder aus Ärger über die Störung –, als die hohe, weiße Gestalt auf der Schwelle erschien und mit sanft gedämpfter Stimme um Ruhe für die Schlummernde bat.

Die schöne Schwester stand dicht neben dem Ständer, der das Brautkleid trug. Die weiße Atlasschleppe, von der das Kammermädchen die Orangenblütensträuße absteckte, um sie in eine Schachtel zu legen, hing neben ihrer Schulter nieder, und in den Händen hielt sie den Brautschleier, offenbar in der Absicht, ihn zusammenzufalten. Die zerstückte Hochzeitsfeier konnte allerdings nicht schneidender beleuchtet werden als durch diese Gruppe.

»Es tut mir leid; ich habe nicht geglaubt, daß das Aufstellen der Kisten bis zu Henriette hinüberschalle – wir werden vorsichtiger sein,« sagte sie kurz, aber doch mit hörbar erregter Stimme. Ein böses Lächeln stahl sich auf ihre Lippen. »Du schleichst ja so weiß, so lautlos durch das Haus, daß man denken könnte, die Ahnfrau der Baumgarten habe, weil es in der Stammburg mit dem Wandeln aus und vorbei ist, ihren Sitz in der Villa aufgeschlagen. Unheil genug heftet sich an deine Fersen – wo du eintrittst, sollte ein rechtschaffener Christ drei Kreuze schlagen.«

Sie schickte die Kammerjungfer mit einer Handbewegung aus dem Zimmer. »Halt!« rief sie, den Brautschleier fortschleudernd, als Käthe dem Mädchen schweigend folgen wollte. »Wenn ein Funken von Frauenehre in dir lebt, so stehst du mir jetzt Rede.«

Käthe streifte gelassen die Hand ab, die ihr Kleid festhielt, und trat in das Zimmer zurück. »Ich stelle mich dir zur Verfügung,« sagte sie ruhig und heftete ihre ernsten Augen fest auf das leidenschaftlich erregte Gesicht der Schwester. »Nur bitte ich dich, nicht so überlaut zu sprechen, damit uns Henriette nicht hört.«

Flora antwortete nicht; sie ergriff Käthes Hand und zog sie in die Nähe des Fensters. »Komm her! Laß dich einmal ansehen! Ich muß wissen, wie du aussiehst, nachdem du geküßt hast.«

Das junge Mädchen wich zurück vor dem frivol funkelnden Blick, der ihr, im Verein mit der leichtfertigen Bemerkung, die tiefe Glut der beleidigten Scham in das Gesicht trieb. »Als ältere Schwester solltest du doch Anstand nehmen, einen solchen Ton anzuschlagen –«

»Ei, du heilige Unschuld! Und ich sage dir: Als jüngere Schwester solltest du dich schämen, deine Augen auf einen Mann zu werfen, der mit der älteren verlobt ist!«

Käthe stand wie vom Blitz getroffen. Wer hatte in die Tiefen ihres Herzens geblickt und das Geheimnis, das sie angstvoll, mit Aufbietung aller inneren Kraft hinabgedrängt hatte, an das Licht gezogen? Sie fühlte, wie sie sich entfärbte; sie wußte, daß sie in diesem Augenblicke wie eine auf dem schwersten Verbrechen Ertappte dastand, und doch brachte sie keinen Laut über ihre blassen Lippen.

»Schau, das böse Gewissen! Man könnte es nicht besser darstellen,« lachte Flora scharf auf und berührte mit dem Finger die Brust des Mädchens. »Ja, nicht wahr, Schatz, und wenn man es noch so schlau einfädelt, die ältere Schwester läßt sich nicht hinter das Licht führen? Sie sieht solch einer ›reinen‹ Mädchenseele bis auf den Grund; sie verfolgt mit klugem Blick die verschiedenen zarten Regungen von der ersten Blumenspende an, die man mit dem kindlichen Wunsche, Aufmerksamkeit zu erregen, dem Mann in sein Zimmer legt –«

Jetzt kam Leben in die förmlich versteinerte Gestalt des jungen Mädchens. Unwillkürlich schlug sie die Hände zusammen – es kam ihr vor, als sei, seit sie den Fuß auf den heimischen Boden gesetzt hatte, ihre ahnungslose Seele beschlichen worden wie das Wild vom Jäger. War es möglich, daß man ihr aus dieser kleinen Nachlässigkeit, die ihr ja selbst Tränen des Verdrusses erpreßt hatte, einen solchen gehässigen Vorwurf machen konnte? Jetzt wallte ein gerechter Zorn in ihr auf.

»Diese Vergeßlichkeit habe ich mir allerdings zu schulden kommen lassen,« sagte sie, ihre hohe Gestalt stolz aufrichtend. »Wer dir aber auch davon gesprochen haben mag –«

»Wer? Er selbst, Kleine.«

»Dann bist du es, die den Vorfall in ein völlig falsches Licht zieht –«

»Ah, Kind, nimm dich ein wenig zusammen! Die so lange verhaltene Leidenschaft bricht dir aus den Augen!« rief Flora mit kaltem Lächeln, aber ihre Fußspitze hämmerte in kaum zu bezähmendem Grimm auf dem Boden. »Also ich lüge? Nicht er, mein Fräulein, indem er sich der Eroberung rühmt?«

Es war abermals, als fliehe jeder Blutstropfen aus dem Mädchengesicht, während sie energisch den Kopf schüttelte. »Nein! Und wenn du mir das zu tausend Malen wiederholst, ich glaube es nicht. Eher werde ich irre an allem, was uns das Sittengesetz als gut und recht hinstellt. Er sollte eine Unwahrheit auch nur denken? Er sollte sich, wie nur irgend ein charakterloser Geck, einer Eroberung rühmen? Er, der –« Sie unterbrach sich, als erschrecke sie vor ihrer eigenen leidenschaftlich bewegten Stimme. »Du hast ihn häßlich verdächtigt, als ich hierher kam,« setzte sie, sich bezwingend, hinzu. »Damals durfte ich dir nicht entgegentreten, obgleich ich unwillkürlich sofort für ihn Partei ergriff, aber jetzt, wo ich ihn kenne, leide ich nicht, daß er auch nur mit einem Worte verunglimpft wird. Geradezu unglaublich ist's, daß ich dir das sagen muß. Wie kannst du es übers Herz bringen, wie ist es dir möglich, die Ehre dessen fortgesetzt anzugreifen, der dir in Kürze seinen Namen geben wird?«

Flora fuhr bei den letzten Worten herum und maß die Sprechende mit einem ungläubigen Blick, als traue sie ihren Sinnen nicht. »Entweder du bist eine vollendete Schauspielerin, oder – eine Liebeserklärung muß dir schwarz auf weiß überreicht werden, wenn du sie verstehen sollst. Du wüßtest wirklich nichts?« Mit einem unverschämten Lächeln, das alle ihre feingespitzten Zähne zeigte, legte sie beide Hände auf Käthes Arm und schob sie, nach einem durchbohrenden Aufblick in die braunen Augen, zornig, heftig von sich. »Bah, was will ich denn noch? Hast du nicht eben gekämpft und dich ereifert, als wolltest du den letzten Atemzug für ihn verhauchen?«

Käthe wandte ihr den Rücken und schritt nach der Tür. »Ich sehe nicht ein, weshalb du mich vorhin zurückgehalten hast,« sagte sie unwillig.

»Ach, ich war zu verblümt! Muß ich durchaus gut deutsch reden? Nun denn, meine Liebe, ich will nichts mehr und nichts weniger wissen, als was Bruck gestern und heute mit dir verhandelt hat.«

»Was er mit mir verhandelt hat,« fuhr Käthe fort, »das darfst du wissen, Wort für Wort. Er hat sich bemüht, und ich habe es ihm schwer genug gemacht, mein blindes Hoffen auf eine abermalige Besserung der Kranken zu zerstören – er hat sich bemüht, mich darauf vorzubereiten, daß« – ihre Stimme brach, und halb verhaltene Tränen glänzten in ihren Augen – »Henriette uns verlassen wird.«

Flora trat schweigend und sichtlich verwirrt in das Fenster; bei aller Selbstvergötterung kam ihr doch vielleicht die Ahnung, daß sie diesen beiden Menschen gegenüber in allen Fällen eine klägliche, verlorene Rolle spiele. »Kind, weißt du das nicht längst?« sagte sie in gedämpftem Ton. »Und hast du dir nicht selbst gesagt, daß wir alle für die arme Kreuzträgerin um endliche Erlösung von der Schmerzenslast bitten müssen?« Sie trat mit lautlosen Schritten wieder an das Mädchen heran. »Und war das wirklich Wort für Wort der Inhalt eurer Gespräche?«

Das Gefühl unsäglicher Verachtung stieg in Käthe auf. Sie meinte, das sei gemeine Eifersucht nicht des liebenden, sondern des eitlen Weibes, das dem Manne nachschleiche und jedes seiner Worte zu überwachen suche. »Glaubst du, Bruck habe in solchen Stunden, wo er der armen Kämpfenden Trost und Stütze sein muß, für irgend etwas anderes Sinn und Teilnahme,« antwortete sie mit ernster Zurückweisung, »noch dazu an einem Schmerzenslager wie das da drüben, wo ihm die treueste Freundin auf Erden stirbt?«

»Ja, sie hat ihn geliebt,« sagte Flora kalt.

Eine Flamme schlug über Käthes Gesicht hin – Flora weidete sich förmlich an der mädchenhaften Unbeholfenheit, mit der die junge Schwester ihr Erglühen zu verbergen suchte. »Ei ja, der Mann kann sich beglückwünschen zu dem Zauber, der ihn, ihm selbst unbewußt, umgibt, der die Mädchenherzen anzieht wie die Lichtflamme einen Mückenschwarm. Und die Welt wird lachen, wenn sie erfährt, daß, so viele Töchter Bankier Mangold hinterlassen hat, auch ebenso viele in den Lichtkreis hineingetaumelt sind. – Bleib!« Sie hatte in fast spielendem Tone gesprochen bis zu dem Augenblick, wo Käthe sich abermals abwandte und nach der Tür eilte – jetzt kam der herrische Befehl wie ein wilder Schrei von ihren Lippen. Das junge Mädchen blieb, als wäre sie festgewurzelt, aus Furcht, daß der Aufschrei sich wiederholen und die Kranke erschrecken könne. »Auch unsere Jüngste, die schöne Müllerin, derb von Gliedern und tapfer von Gemüt, ist so schwach gewesen,« fuhr sie, in ihren bissigen Ton zurückfallend, fort. »O, möchtest du protestieren mit dieser trotzigen Miene, mit diesem kläglichen Versuch, stolz und beleidigt auszusehen? Nun gut – ich will dir glauben; du kannst dich reinwaschen, wenn du widerrufst, was du vorhin mit solch unvergleichlichem Nachdruck zu Brucks Verherrlichung ausgesprochen hast –«

»Nicht das Geringste widerrufe ich.«

»Siehst du wohl, du Sünderin, daß du deiner sträflichen Liebe mit Haut und Haar verfallen bist? Sieh mir in die Augen! Kannst du deiner verlobten Schwester ins Gesicht hinein ›nein‹ sagen?«

Käthe hob den gesenkten Kopf und sah über die Schulter zurück; sie griff nach der Stirnwunde, die infolge der Nervenaufregung zu schmerzen begann, aber das geschah unbewußt – und wenn ihr Leben der Wunde entströmt wäre, sie hätte es nicht beachtet in diesem Augenblick, wo sich ihr ganzes Denken und Fühlen auf einen Punkt richtete. »Du hast kein Recht, mir eine solche Beichte abzuverlangen,« sagte sie fest und doch mit einer Stimme, aus der stürmisches Herzklopfen klang; »ich bin nicht verpflichtet, dir zu antworten. Aber du hast mich eine Sünderin genannt, du hast von Verrat gesprochen – das sind dieselben Worte, mit denen ich mich selbst beschuldigt und gestraft habe, bis ich mir klar geworden bin über die Neigung, die du eine sträfliche nennst –«

»Ah, ein Bekenntnis in bester Form!«

Ein weiches Lächeln spielte um den blaßroten Mund; ein verklärender Schimmer legte sich über das erbleichte Gesicht, das in diesem Augenblick weiß erschien wie die Binde über der Stirn. »Ja, Flora, ich bekenne, weil ich mich nicht zu schämen brauche, ich bekenne auch um unseres verstorbenen Vaters willen; ich will die scheinbare Schuld, als griffe ich nach den heiligen Rechten einer meiner Schwestern, seinem Andenken gegenüber nicht auf meiner Seele haben. Für unsere Gefühle können wir nicht – verantwortlich sind wir nur für die Macht, die wir ihnen einräumen; das weiß ich nun, nach dem erfolglosen Kampfe mit einer rätselhaften Neigung, von der man sich plötzlich sagt, daß sie mit einem geboren und immer dagewesen sein muß – nur schlafend. Ist es Sünde, wenn man verehrend an den Hausaltar eines anderen tritt? Ist es Sünde, wenn man freudig zu einem stolzen Baume aufblickt, der im Garten eines anderen steht? Ist es Sünde, wenn ich liebe, ohne zu begehren? Ich will nichts von euch; ich werde nie deinen und Brucks Weg kreuzen. Ihr sollt nie wieder von mir hören, sollt euch nicht einmal meiner erinnern; was kann es eurem ehelichen Glück schaden, wenn ich ihn liebe, so lange ich atme, und ihm die Treue halte wie einem Gestorbenen?«

Ein verletzendes Auflachen unterbrach sie. »Nimm dich in acht, Kleine! Im nächsten Augenblick wird dein dichterischer Schwung in Verse verfallen.«

»Nein, Flora, die überlasse ich dir, wenn ich mir auch sagen muß, daß ich gesteigert bin in meinem Empfinden und nicht mehr in den festen, ruhigen Geleisen meiner Erziehung gehe, seit ich diese Neigung im Herzen trage.« Sie schritt wieder tiefer in das Zimmer zurück, an dem Ständer vorüber, der den Brautanzug trug. Ohne es zu wissen, streifte sie die nur noch lose droben hängende Schleppe, und mit einem leisen Gezisch sank der rauschende Seidenstoff zur Erde.

Käthe bückte sich erschrocken, aber Flora schleuderte den Atlas verächtlich mit dem Fuß aus dem Wege. »Laß den Plunder liegen!« sagte sie schneidend. »Aber sieh, selbst der leblose Stoff gerät in Aufruhr und empört sich gegen die Schuldige.«

»Und sprichst du dich ganz frei von Schuld, Flora?« fragte Käthe rasch mit fliegendem Atem – sie hatte auch lebhaft wallendes Blut in den Adern; sie hatte ein strenges Rechtsgefühl in der Seele – dem ausgesprochenen Unrecht der eigensüchtigen Willkür beugte sie sich nicht, bloß um des lieben Friedens willen. »Was war es, das mich zu Anfang erfüllt hat? Mitleid, unsägliches, schmerzliches Mitleid mit dem edlen Mann, den du nicht verstanden, den du vor unser aller Augen gemißhandelt und um jeden Preis abzuschütteln gesucht hast. Wäre es nicht eine schwere Schuld gewesen, wozu hättest du dann Abbitte geleistet? Ich habe dich als Büßende gesehen … Als du den Ring in den Fluß warfst –«

»Gott im Himmel, Käthe! Wärme doch nicht immer die alte Vision auf, die du einmal gehabt haben willst,« rief Flora und preßte sekundenlang die Hände auf die Ohren; dann hielt sie dem jungen Mädchen den Goldfinger unter die Augen, und ihre Oberlippe hob sich scharf einwärts gekrümmt über den weißen Zähnen. »Da – da sitzt er ja. Und ich kann dir versichern, daß er echt ist – die gravierten Buchstaben lassen nichts zu wünschen übrig … Um aber der Sache ein Ende zu machen, will ich dir sagen, daß dieses Ding da in meinem Leben keine Rolle mehr spielt, es sei denn die eines Drahtes, an dem man eine Puppe lenkt – mein bräutliches Verhältnis zu Bruck ist gelöst –«

Käthe fuhr bestürzt zurück. »Die Lösung hast du ja schon früher erfolglos versucht,« stammelte sie verwirrt, atemlos.

»Ja, damals hatte der Erbärmliche noch einen Rest von Kraft in der Seele; jetzt ist er windelweich geworden.«

»Flora – er gibt dich frei?«

»Mein Gott, ja, wenn du denn durchaus die Freudenbotschaft noch einmal hören willst –«

»Dann hat er dich auch nie geliebt. Dann hat ihn damals etwas anderes getrieben, auf seinen Rechten zu beharren. Gott sei Dank, nun kann er noch glücklich werden!«

»Meinst du? Wir sind auch noch da,« sagte Flora; sie legte ihre Hand mit festem Druck auf den Arm des jungen Mädchens, und ihr Blick tauchte vielsagend und drohend in die verklärten braunen Augen. »Ich werde ihm die Stunde nie vergessen, in der er mich vergebens um meine Freiheit betteln ließ. Nun soll er auch fühlen, wie es tut, wenn man den Becher zum ersehnten Trunk an die Lippen setzt und er wird einem aus der Hand geschleudert. Ich gebe den Ring nicht heraus, und sollte ich ihn mit den Zähnen festhalten –«

»Den gefälschten –«

»Willst du das beweisen, Kleine? Wo sind deine Zeugen? Mir gegenüber bist du verloren mit einer Anklage, wenn sie nicht Hand und Fuß hat – man sagt mir nicht mit Unrecht nach, daß ein Jurist an mir verloren sei … Übrigens magst du dich beruhigen. So unmenschlich grausam bin ich nicht, meinem ehemaligen Verlobten das Heiraten überhaupt zu verbieten; mag er sich doch vermählen – morgen, wenn er Lust hat, aber selbstverständlich nur mit einer Ungeliebten; gegen eine Vernunftehe erhebe ich keinen Einspruch … Ich werde ihm nachspüren, nachschleichen auf jeder inneren Regung, die er unvorsichtig an den Tag legt – wehe ihm, wenn ich ihn auf einem Wege betreffe, der mir nicht zusagt!«

Sie hatte einen der rings verstreuten Orangenzweige ergriffen und wiegte ihn zwischen den Fingerspitzen spielend hin und her; sie sah aus wie ein schönes Raubtier, das ein Opfer mit geschmeidigen Windungen des schlanken Körpers umkreist.

»Nun, Käthe, du liebst ihn ja; hast du nicht Lust, für ihn zu bitten – wie?« hob sie wieder an, die langsam gesprochenen Worte scharf betonend. »Schau, ich habe sein Glück in der Hand; ich kann es zerdrücken, ich kann es aufleben lassen, ganz nach Belieben. Diese Machtvollkommenheit ist für mich allerdings unbezahlbar, und doch – kaum kann ich der Versuchung widerstehen, sie hinzugeben, lediglich um einmal zu erproben, inwieweit die hochgepriesene sogenannte wahre Liebe feuerfest ist … Gesetzt, ich legte diesen Ring mit der Befugnis in deine Hand, ihn zu verwenden, wie es dir gut dünkt – versteh mich recht: ich selbst hätte mich dann von diesem Augenblick an jedes Einspruchs, jedes Anrechtes begeben – würdest du bereit sein, dich jeder meiner Bedingungen zu unterwerfen, damit Bruck von dieser Stunde an freie Wahl hätte?«

Käthe hatte unwillkürlich die Hände verschlungen und drückte sie fest gegen die wogende Brust; man sah, ein unbeschreiblicher Kampf arbeitete in dieser jungen Seele. »Ich unterwerfe mich jeder, auch der härtesten Bedingung sofort, wenn ich Bruck aus deinen Schlingen erlösen kann,« rang es sich heiser, aber entschlossen von ihren Lippen.

»Nicht zu lebhaft, meine Tochter! Du könntest mit diesem übereilten Opfermut leicht dein eigenes Lebensglück hinwerfen.«

Das junge Mädchen schwieg und legte die Rechte an die schmerzende Stirn. Man sah, der Starken brach eine Stütze nach der anderen, der Jugendmut, die Kraft, die auf sich selber pocht, der Glaube an das schließliche innere Überwinden – nur der Wille blieb stark. »Ich weiß, was ich will – da braucht es kein Besinnen,« sagte sie.

Flora hielt den Blütenzweig vor das Gesicht, als atme sie den Duft der künstlichen Blumen ein. »Und wenn er nun – vielleicht nur um mich namenlos zu demütigen – dich selbst begehrte?« fragte sie mit einem blitzenden Seitenblick.

Der jungen Schwester stockte der Atem. »Das wird er nicht – ich war ihm nie sympathisch.«

»Das ist richtig. Ich will aber einmal annehmen, er sagte dir, daß er dich liebe, da wäre das Unterpfand seiner Freiheit denn doch sehr schlecht aufgehoben in deinen Händen – meinst du nicht? … Er würde eines Tages um die Geliebte freien, und sie könnte nicht widerstehen, und ich mit meinen unbestrittenen Anrechten hätte das Nachsehen – nein, ich behalte meinen Ring.«

»O Gott, darf es wirklich geschehen, daß eine Schwester die andere so entsetzlich martert?« rief Käthe in schmerzlicher Entrüstung. »Aber gerade in diesem Augenblick, der deine ganze beispiellose Selbstsucht, dein Herz ohne Erbarmen, deine unbezwingliche Neigung zu Ränken bloßlegt, wie noch nie, fühle ich mich doppelt berufen, Bruck um jeden Preis von dem Vampir zu befreien, der nach seinem Herzblut trachtet – du darfst keine Gewalt mehr über ihn haben … Er soll ein neues Leben anfangen; er wird sich eine Häuslichkeit schaffen, die ihn beglückt und befriedigt; er wird nicht mehr verurteilt sein, an der Seite einer herzlosen Gefallsüchtigen ein steifes Gesellschaftsleben zu führen –«

»Sehr verbunden für die schmeichelhafte Beurteilung! Du sprichst viel zu warm für sein Glück, als daß ich dir mein Kleinod anvertrauen möchte.«

»Gib es her – du kannst es getrost.«

»Und wenn er dich nun wirklich und wahrhaftig liebte?«

Die Lippen des jungen Mädchens zuckten in unsäglicher Qual; sie verschlang die Hände angstvoll ineinander, wie es die Verzweiflung tut, aber sie blieb standhaft. »Wäre es auch – ich bin nicht unersetzlich. Wie leicht wird es ihm werden, eine Bessere zu finden! Und daß er nicht wieder blindlings ein falsches Los zieht, dafür bürgt seine schmerzliche Erfahrung. Gib mir den Ring, den gefälschten, von dem ich weiß, daß in Wahrheit auch nicht die leiseste Spur von einem Recht mehr an ihm hängt – ich verspreche dir, ihn zu achten wie den, der im Flusse liegt, weil er trotz alledem und alledem Brucks Befreiung verbürgt.« Sie streckte die Hand aus.

»So wie ich dich kenne, bist du ehrenhaft genug, ihn nie zu deinen Gunsten zu verwenden,« sagte Flora nachdrücklich und den Ring abstreifend; ein leises Zittern durchlief Käthes Glieder, als das Gold ihre Handfläche berührte – dann schlossen sich die Finger wie im Krampf über dem Reif; dabei stahl sich ein bitter-verächtliches Lächeln um den Mund des Mädchens – sie war zu stolz, auch nur mit einer Silbe ihre makellose Absicht zu beteuern.

»Nun?« rief Flora beunruhigt.

»Du hast mein Wort; jetzt bin ich die Puppe, die du an diesem Drahte lenkst,« – sie hob die geschlossene Hand mit dem Goldreif – »bist du zufrieden?« Damit ging sie.

In dem Augenblick, wo sie auf die Schwelle der geöffneten Tür trat, kam Doktor Bruck die gegenüberliegende Treppe herauf. Sein Blick überflog die zwei Gestalten, von denen die eine aufrecht, sieghaft inmitten des Zimmers stand und ihn kalt anlächelte, während das fieberglühende Mädchen bei seinem Anblick fast zusammenbrach.

Er eilte bestürzt herbei und legte rückhaltlos den Arm um die Schwankende. Die Tür hinter ihnen fiel zu und in ihr Geknarr mischte sich ein wohlbekanntes gedämpftes Auflachen.


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