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24.

Der Polterabendlärm im unteren Stockwerk steigerte sich nachmittags bis zur Unerträglichkeit. Die adligen Rittergutsbesitzer aus der Umgegend fuhren vor und mußten untergebracht werden. Aus der Stadt wurden Korbwannen voll »Theaterstaat« herbeigeschleppt – die Darsteller sollten sich in der Villa umkleiden. Haarkünstler und Schneiderinnen rannten aus und ein, und dazwischen trabten die Gärtnergehilfen immer noch von den Treibhäusern her nach der Villa, keuchend und schweißtriefend unter der Last mächtiger Palmen, Orangen- und Gummibäume.

Bei all dem dumpfen Geräusch unter ihrem Zimmer war Henriette doch in einen scheinbar erquickenden Nachmittagschlummer gesunken. Im anstoßenden Raum saß Nanni, die Kammerjungfer, und nähte mit flinken Händen Silberflitter auf eine Tüllwolke, deren die noch immer fieberhaft arbeitenden Tapezierer drunten im Saale bedurften. Käthe öffnete leise die Tür und empfahl dem Mädchen, wachsam zu sein und das Zimmer nicht zu verlassen, bis sie zurückkehre – dann ging sie hinab, um in der Mühle verschiedene Anordnungen zu treffen.

Sie vermied es, den Hauptgang zu betreten – er wimmelte von ab- und zugehenden Menschen – und bog in den neben dem Saale hinlaufenden Gang ein. Er war weniger belebt, aber in der schmalen Tür, auf die er mündete und die ins Freie führte, stand der Kommerzienrat, den Strohhut auf dem Kopfe und augenscheinlich im Begriff, nach dem Turm zu gehen. Er gab dem Diener Anton, der eigens zu seiner Bedienung bestellt war und deshalb mit ihm die Ruine bewohnte, einige in der Stadt zu besorgende Aufträge. »Laß dir Zeit!« rief er dem Forteilenden nach. »Erst nach sechs Uhr will ich mich umkleiden.«

Käthe schritt leise und langsam weiter; sie hoffte, er werde nun auch die Schwelle verlassen und in den Garten hinaustreten, allein er schob zerstreut die Hände in die Seitentaschen seines leichten Überziehers und ging nicht. Zu seinen Füßen liefen einige Stufen hinab; er stand ziemlich hoch und konnte von da aus ein bedeutendes Stück seines herrlichen Parkes übersehen, und das fesselte ihn offenbar an seinen Platz. Hatte er denn noch nie diesen Anblick in seiner überraschenden Schönheit so empfunden wie jetzt, wo die Spätnachmittagsbeleuchtung, in die sich bereits rosige Tinten des Abendlichtes stahlen, darüber hinfloß? … Immer wieder zeigte die Bewegung seines Kopfes, daß er die Augen rundum schweifen lasse, aber das junge Mädchen sah auch, daß sein Oberkörper unter fliegenden, gepreßten Atemzügen förmlich bebte; sie sah, wie sich seine Hände in den Taschen krampfhaft ballten, wie die Rechte plötzlich aufzuckend nach der Stirn fuhr und sich über die Augen legte. Er kämpfte jedenfalls mit dem Unwohlsein, über das er heute morgen geklagt hatte, und das er standhaft verbiß, um die Abendfestlichkeit nicht zu stören.

Sie trat jetzt geflissentlich fester auf und bei dem Geräusch fuhr er herum.

»Dein Kopfweh hat sich verschlimmert?« fragte sie teilnehmend.

»Ja – und ich habe in diesem Augenblick wieder einen beängstigenden Anfall von Schwindel gehabt,« antwortete er mit unsicherer Stimme und drückte sich den Hut tiefer in die Stirn. »Kein Wunder! Hätte ich eine Ahnung gehabt von den tausend Widerwärtigkeiten, die mit dieser Polterabendfeier verknüpft sind, ich hätte ganz gewiß davon abgesehen,« setzte er gefaßter, aber auch mit einer ihm sonst fremden Art von Poltern hinzu. »Diese bornierten Handwerkerköpfe haben in meiner Abwesenheit alles verkehrt gemacht; sie haben mich und meine Absichten nicht begriffen, und was sie in einer vollen Woche zusammengekleistert und -genagelt haben, das mußte heruntergerissen und in Zeit von zwölf Stunden neu hergestellt werden. Nun haben wir den Lärm und die beispiellose Hetzerei bis auf den letzten Augenblick, wo die Gardine in die Höhe gehen soll.«

Er stieg die Stufen hinab, langsam und zögernd, als schwimme bereits alles wieder vor seinen Augen.

»Soll ich zurückgehen und dir ein Glas Selterswasser holen?« fragte sie, auf der Schwelle stehen bleibend. »Oder wäre es nicht besser, den Arzt zu holen?«

»Nein – ich danke dir, Käthe,« versetzte er in seltsam weichem Ton, und sein feuchter Blick überflog schimmernd, wie messend, das schlanke Mädchen, das seiner Besorgnis so ungekünstelt Ausdruck gab. »Übrigens irrst du sehr, wenn du meinst, Bruck sei so leicht erreichbar. Der läßt sich von seiner Praxis hetzen bis zum letzten Augenblick; ich glaube, man wird ihn übermorgen vom Krankenbette zur Trauung holen müssen.« Ein sarkastisches Lächeln, als mache er sich innerlich über die ganze Welt lustig, flog über seine Lippen. »Das beste Mittel habe ich selber« – sagte er gleich darauf – »meinen kühlen Turmkeller. Ich bin eben im Begriff, hinüberzugehen und die Weine für heute abend herauszugeben; die frische Kellerluft wird wirken wie eine kühlende Kompresse.«

Käthe knüpfte die Hutbänder unter dem Kinne fester und trat hinaus auf die Türstufen.

»Und du gehst noch in die Mühle? Hoffentlich nicht weiter?« meinte er, nach seiner Uhr sehend; diese einfache Frage klang so nachlässig hingeworfen, und doch kam es Käthe vor, als stocke ihm der Atem dabei.

Die Stufen hinabsteigend, sagte sie ihm, was sie nach der Mühle führe, dann ging sie mit einem freundlichen Kopfneigen über den Kiesplatz, während der Kommerzienrat die Richtung nach dem Turme einschlug. Hinter dem ersten Strauche des nächsten Gebüsches sah sie noch einmal unwillkürlich nach ihm hinüber; er war unverkennbar leidender, als er eingestehen mochte. Schon wieder ging er zögernd, wie mit einknickenden Knien; er hatte den Hut in den Nacken geschoben, als stürme ihm die Fieberglut abermals nach dem Kopfe, und seine Augen irrten ziellos über den Park hin.

Jetzt brauste es auch ihr durch das Gehirn; ein dunkles Angstgefühl überkam sie. Der kranke Mann mit dem unsicheren Gebaren allein im Turmkeller! Wie ein Fiebergespenst jagte der grauenhafte Gedanke, der sie einst angesichts der Ruine gepackt hatte, an ihr vorüber. »Ich bitte dich, Moritz, sei vorsichtig mit dem Kellerlicht!« rief sie ihm angstvoll zu.

War er zu tief in Nachgrübeln versunken gewesen oder hatte sich bereits jene nervöse Reizbarkeit seiner bemächtigt, die vor jeder lauten Menschenstimme erschrickt – er fuhr wild empor, als habe ihn ein Schuß getroffen.

»Was willst du damit sagen?« rief er heiser zurück. »Wie? Siehst du Gespenster am hellen Tage, Käthe?« setzte er gleich darauf hinzu; er brach in ein schallendes Gelächter aus, das etwas tief Beschämendes für die jugendliche Warnerin hatte, und verschwand mit einem spöttisch grüßenden Handwinken und sehr stramm gewordener Haltung im nächsten Laubgang.

Kaum eine halbe Stunde später ging Käthe am Flusse hin. Die Geschäfte waren erledigt, und so viel Zeit blieb ihr noch, verstohlen das alte liebe Doktorhaus wiederzusehen. Wie schlug ihr das Herz, als sie durch das bewegliche Laub der Uferbirken die in der Sonne glühenden Wetterfahnen flimmern sah! Wie erschrak sie bei jedem verräterischen Knirschen des Sandgerölls unter ihren Füßen! Sie kam wie eine Vertriebene, die einen letzten Blick in das gelobte Land werfen will. Und nun lehnte sie an der Pappel neben dem Holzbogen – an dieser Stelle hatte sie das letzte unverwischliche Bild in ihre Seele aufgenommen; wie auf Goldgrund hatten sich die lauschenden Kinderköpfchen neben der Hausecke draußen von der strahlenden Landschaft abgehoben, und dort an dem Gartentisch war der kraftvolle, strenge Mann in unbegreiflicher Gemütserschütterung zusammengebrochen.

Jetzt war es still auf dem tiefbeschatteten Rasengrunde. Die Obstbäume, die sie in prangender Maienfrische gesehen hatte, bogen sich unter der Last ihrer Früchte, die gelb und rotbackig das unscheinbar gewordene Laub überstrahlten und die Lüfte mit dem köstlichen Duft der Reife erfüllten, und am Weinspalier des Hauses hing der vielgerühmte Traubenreichtum in tiefer Bläue. Nur einen einzigen schüchternen Blick nach dem Eckfenster, wo der Schreibtisch stand! Der Doktor war ja nicht daheim; er eilte von einem Krankenbette zum andern »bis zum letzten Augenblick«. Und in dem Zimmer wohnte er auch nicht mehr. Weiße, spitzenbesetzte Vorhänge hingen hinter den Scheiben; auf dem Sims, zwischen den Töpfen mit vollblühenden Alpenveilchen, lag ein schneeweißes Kätzchen, und jetzt hoben sich zwei strickende Hände und ein Frauenkopf mit silberweißem Scheitel unter dem sauberen Mullstrich beugte sich darüber her – die alte Freundin der Tante Diakonus war bereits eingezogen. Er hatte auch diese Brücke hinter sich abgebrochen; er war reisefertig, und übermorgen kam »der letzte Augenblick«, wo die stolze, herzlose Schwester neben ihm stand im weißen Atlaskleide, um – »die Salonrepräsentantin des berühmten Mannes« zu werden. Hatte sie einst schwerer gekämpft, die schöne blonde Edelfrau, als das Mädchen, das jetzt, bitterlich weinend, die Arme um den schlanken Stamm legte und an die rauhe Rinde die Stirn preßte, bis sie ihr schmerzte? Jene war geliebt worden, und wenn auch verlassen, traf sie keine Schuld, hier aber nagte an dem Herzen einer Ungeliebten sündhafte Eifersucht, und die sie beneidete, war – die eigene Schwester.

Starke Männerschritte hinter ihr machten sie aufschrecken. Der Müller Franz ging mit einer über die Schulter gelegten Eisenstange vorüber, um nach dem oberen Wehre zu sehen, wie er sagte. Diese Begegnung, die ihr das Blut in das Gesicht trieb, verscheuchte sie von ihrem Lauscherposten, und während Franz rasch weiter eilte, ging sie langsam am Ufer hin. Sie konnte sich noch nicht entschließen, in die Villa zurückzukehren – mit ihrem Anzug für heute abend war sie ja längst fertig, ehe Henriette, die trotz ihrer Hinfälligkeit um jeden Preis dem Festspiel beiwohnen wollte, ihren armen, elenden Körper so geschmückt hatte, daß die Spuren ihrer verheerenden Krankheit weniger hervortraten.

Hier war es so köstlich einsam. Niemand sah ihre geröteten Augen und wie sie zornig mit ihrem widerspenstigen Herzen rang, mit ihrer sündigen Sehnsucht, die sie hierhergetrieben hatte – ja, die allein – Schande über sie, wenn sie sich selbst anlog und ihr leidenschaftliches Verlangen beschönigte! Nicht das traute Haus, nicht die liebenswürdige alte Frau drinnen hatte sie wiedersehen wollen, und es war nicht ihre feste Überzeugung gewesen, daß er nicht daheim sein könne – sie hatte es doch gehofft, und nun, wo sich ein anderes Gesicht als das seine am Eckfenster gezeigt hatte, war ihr das traute Fleckchen Erde öde und sonnenverlassen erschienen.

Der voranschreitende Müller war ihren Blicken entschwunden – sie kam der Ruine näher. Der Wasserring glitzerte von ferne und das auseinandertretende Gebüsch ließ sie den anmutigen Brückenbogen übersehen, der sich über den Graben schwang … In diesem Augenblick beschritt ihn vom Turm her ein Mann mit großem, rotblondem, tief auf die Brust herabreichendem Vollbarte. Er trug eine blaue Arbeiterbluse unter dem lässig übergeworfenen Rock und jagte mit seinem Stocke die zwei Rehe vor sich her. Sie stoben förmlich über die Brücke und flohen in den Park hinein.

Käthe würde den Mann nicht weiter beachtet haben – Handwerker verkehrten ja oft im Turme – wenn sein Gebaren sie nicht stutzig gemacht hätte. Der Kommerzienrat liebte die Rehe zärtlich; er konnte sehr böse werden, wenn er eines im Parke umherirrend fand – und nun jagte der Fremde die scheuen Tiere geflissentlich über das Wasser! War er einer jener Verbitterten, die dem beneideten Reichtum Schaden zufügen und Schabernack antun, wo sie können? … Er schlug den Weg ein, der nach dem großen Parktore und auf die Landstraße hinausführte; sie verfolgte ihn mit den Augen, bis ihn das Dickicht aufnahm – welche Ähnlichkeit! Seiner Haltung und Größe, seinem ganzen Körperbau nach hätte der Mann im Arbeiterrocke ein blonder Zwillingsbruder des Kommerzienrates sein können.

Sie blieb wider Willen gefesselt stehen und sah nach dem Turme, von wo er gekommen war – wie herrlich gruppierte sich hier die Landschaft um die Ruine, und mit welch künstlerischem Gefühl hatte der aus der Ferne herbeigerufene Baumeister das Vorhandene zu benutzen verstanden, um die Mauerreste mit einem so ergreifenden romantischen Zauber zu umspinnen! Es war wieder still geworden; nur das Flügelklatschen der Tauben, die über dem Turme kreisten, klang schwach herüber – wie kleine Silberkähne durchschifften die anmutigen Luftsegler den klaren, rot angehauchten Abendhimmel und schlüpften durch die Lücken der Mauerkrone, die scharfzackig in das Ätherblau hineinschnitt – nein, nicht die Mauerkrone! Ein urplötzlich speiender Krater war es, der unter donnerndem Krachen eine Garbe schwarzen Schwalles riesenhoch in den Himmel hinaufschleuderte. Der Boden wurde dem Mädchen buchstäblich unter den Füßen weggerissen – sie stürzte, wie hingeschmettert – dann schwemmten kühle Wassermassen an sie heran.

Was war das? … Alles, was laufen konnte, stürzte aus der Villa und rettete sich hinaus in den Garten – das Haus hatte in seinen Grundfesten bis zum Einsturze gewankt. – Ein Erdbeben! Wie entgeistert, atemlos standen die Menschen draußen, jeden Augenblick erwartend, daß sich die Erde zu ihren Füßen auftun werde. Schon spie sie Wasserbäche dort über die niedriger gelegenen Rasenspiegel hin; die Lüfte atmeten Brandgeruch und streuten Teilchen zu Zunder gebrannter Stoffe auf den Kies … Die mächtigen Scheiben des stolzen Hauses waren zersprungen, und im großen Saale lagen die deckenhohen Spiegel zerschmettert auf dem Parkett; von dem luftigen Bau der Bühne war die Samt- und Seidenbekleidung abgeschüttelt, und die Arbeiter hatten sich nur mit Mühe vor den schwer niederstürzenden Bronzeverzierungen und Stangen gerettet.

Von der Straße her stürmten jetzt die Spaziergänger herein, unter ihnen Anton, der aus der Stadt zurückkehrte. »Dort, dort!« schrien die Leute der Präsidentin zu, die sich halb ohnmächtig auf Floras Schulter stützte, und zeigten über den Park hin. Dort brannte es – dicke schwarze Rauchwolken quollen auf, aus denen man besonders brennbare Stoffe wie Raketen einzeln in dunkler Nacht emporschießen sah.

»Das Pulver im Turme ist explodiert!« rief jemand aus der Mitte des Menschenknäuels.

»Unsinn!« antwortete Anton, nahezu lachend, obgleich ihm die Zähne vor Schrecken und Entsetzen zusammenschlugen. »Das taube Zeug explodiert längst nicht mehr, und die paar frischen Prisen, die der gnädige Herr aus Jux drüber hergestreut hat, heben keinen Ziegelstein von seinem Platze.«

Trotzdem rannte er wie toll parkeinwärts, quer über die schwimmenden Rasenflächen – er wußte ja seinen Herrn dort drüben, wo es brannte. Der ganze Menschenschwarm brauste hinter ihm drein, während auf dem nahegelegenen Stadtturm die Feuerglocke zu läuten begann.

Welche Verwüstung! Was war in einer flüchtigen Sekunde, die kaum zu einem Atemzuge genügte, aus dem paradiesischen Gefilde geworden, zu dem ein verschwenderischer Aufwand von Gold und Arbeit den ehemaligen Lustgarten eines erloschenen Rittergeschlechts umgewandelt hatte! Wie ein Springquell, der spielend Kiesel in die Lüfte wirft, so hatte dort, wo der schwarze Qualm den Himmel verfinsterte, ein Höllensprudel die Mauerquadern gepackt und in weitem Bogen verstreut, hier einen Granitwürfel tief in den weichen Rasenboden einwühlend, dort starke Baumwipfel wie Rohr unter der Steinwucht einknickend, und drüben nach Süden hin stand das Palmenhaus wie ein gläsernes Sieb, doppelt flimmernd und glitzernd mit seinen Scherbenzacken; ein wahrer Steinhagel mußte sich, wie aus boshafter Knabenhand geschleudert, gerade auf »das Glaswunder« der Residenz gesenkt haben.

Es war ein Anblick, wohl geeignet, das Haar sträuben und die atemlos Herbeieilenden zurücktaumeln zu machen, als das letzte hohe, verbergende Buschwerk hinter ihnen lag. Hatte die Ahnfrau der Baumgarten in der Tat die Lunte angelegt, um dem komödienhaften Spiel, das der Emporkömmling mit den ehrwürdigen Überresten ihrer Stammburg trieb, ein Ende zu machen? Aber sie mußten Eisen in die Mauerfugen gegossen haben, die Alten. Wohl war das obere Gelaß mit der Zackenkrone auf dem Scheitel zerstückelt und nach allen vier Seiten hingeschleudert worden; von dem unteren Teil des Gemäuers dagegen hatte die Riesengewalt nur eine kleinere Hälfte abzusprengen vermocht; sie lag, herabgestürzt, aber noch festgefügt und unzerstörbar zusammenhaltend, nahe dem Graben, während die andere trutzig und dräuend wie zuvor in die Lüfte ragte; aus ihrem Schlund loderten die bleichgelben Flammen empor, jeden Balkensplitter, jeden Zeugfetzen gierig von den Innenwänden leckend.

»Mein armer Herr!« stöhnte Anton und streckte die Arme verzweiflungsvoll über den Graben hin. Da unten gurgelten und brodelten die Wasser, die der furchtbare Stoß aus ihren Ufern gehoben und weithin über den Park verschüttet hatte; nun stürzten sie zurück in ihr niedriger gelegenes Gebiet, Sand- und Rasenstücke und blutige, zerrissene Tauben- und Dohlenleichen mit sich schleppend. Der zierliche Brückenbogen war spurlos verschwunden, der schönberaste eiförmige Hügelrücken in klaffende Spalten geborsten, und die alten Nußbäume, die er genährt hatte und die sein Schmuck gewesen waren, hatte er ausgestoßen; sie lagen hingestreckt, die Äste wie die Geweihe zweier in erbittertem Kampf verendeter Hirsche ineinander verrannt.

Was half es, daß immer neue Menschenscharen zuströmten, daß die Feuerspritzen heranjagten? Da war nichts zu retten. Wer suchte noch dort in dem lodernden Krater die kostbaren Möbelstücke, die berühmte Humpensammlung, die Bild- und Skulpturwerke und Elfenbeinschnitzereien, die reichen Teppiche? Wie in entsetzlichem Hohn war einer der purpurnen Seidenvorhänge, unversehrt aus dem Fenster fliegend, am Sims hängen geblieben und fiel grauenhaft unbeweglich über die Außenseite des Turmrestes, wie wenn das Blut unmerklich rinnend einer breiten Wunde entströmt.

Und die Menschen raunten sich von aufgehäuften Gold- und Silberschätzen zu – oder nein, es waren ja Papiere gewesen, Papiere, die den Besitz von Fabriken, Grubenwerken, Landstrecken und dergleichen von unermeßlichem Werte verbürgten und die der alte, feste Turm mit seinen Mauern, seinen unbesieglichen Schlössern und seinem Wassergürtel wie ein Drache gehütet hatte. Wo waren sie? Wo die Eisenplatten, die sie umschlossen? Waren die Geldspinde unzersprengt hinabgestürzt in das Kellergewölbe, inmitten der Flammenglut eine Auferstehung ertrotzend?

Und was war aus ihm geworden, aus dem reichen Manne, von dem Anton bestimmt wissen wollte, daß er sich vor einer Stunde nach dem Turme begeben habe, um Wein aus dem Keller zu holen? Alles starrte mit stockendem Atem in das Flammengewoge, während der treue Diener händeringend den Graben umkreiste und den Namen seines Herrn immer wieder über das Wasser hinüberrief. Es war doch eine unverzeihliche Unvorsichtigkeit gewesen, Schießpulver da aufzubewahren, wo man mit dem offenen Kellerlicht hantierte.

»Die verkommene historische Merkwürdigkeit hat das nicht getan; dazu ist ein ganz anderer Sprengstoff nötig gewesen,« sagte einer der zuerst herbeigeeilten Spaziergänger, ein Ingenieur, laut und sehr bestimmt in das Stimmengewirr hinein.

»Aber wie wäre denn der in den Keller gekommen?« stammelte Anton stehen bleibend, indem er den Sprecher blöde und verständnislos mit seinen angstverschwollenen Augen ansah.

Der Herr zuckte schweigend, mit einer zweideutigen Miene die Achseln und wich mit den anderen zurück – die Spritzen begannen ihre Arbeit.

Und nun zischten die Wasserstrahlen empor und die Glocke auf dem Stadtturm läutete unermüdlich, solange sich das Feuer ungebärdig gegen seinen Erzfeind aufbäumte; von der Villa her schleppte die Feuerwehr Bretter und Stangen, um eine Notbrücke über den Graben zu schlagen, und der Lärm und das Menschengetümmel wuchs und schwoll von Sekunde zu Sekunde. Da scholl mitten in das Getöse hinein ein markdurchschütternder Schrei – dort drüben, der Ruine ziemlich nahe, auf dem Wege vom oberen Wehre her, hatten sie den Müller Franz gefunden; ein schwerer Stein hatte ihn zu Boden gerissen und ihm die Brust zerquetscht – der Mann war tot.

Es war, als pflanze sich der Schrei, den die Frau des Müllers im Hinstürzen über den Entseelten ausgestoßen hatte, von Kehle zu Kehle fort – ein solch unbeschreiblicher Stimmenaufruhr wogte über den Park hin.

»Moritz – sie haben ihn gewiß gefunden!« murmelte die Präsidentin aufschreckend. Sie war unweit des Hauses auf einer Gartenbank zusammengesunken; weiter hatten sie ihre Füße nicht getragen, jetzt machte sie abermals eine krampfhafte Anstrengung, sich zu erheben – vergebens! Die bisher so standhaft überwundene Altersschwäche machte sich angesichts einer wirklichen Gemütserschütterung in bestürzender Weise geltend. »Haben sie ihn? Ist er tot? Tot?« lallte sie, und die sonst so fest, so vornehm und kühl blickenden Augen irrten, weit aufgerissen, in wilder Angst den Weg entlang, der in der Richtung der Ruine den Rasenplatz durchschnitt; dabei umklammerte sie Floras Arm, die neben ihr stand.

Die schöne Braut war die einzige, die ihre Fassung behauptete. Welch ein Gegensatz! Dort über den Bäumen zog schwelend und träge der dicke Qualm und färbte weithin den Himmel mit einem schmutzigen Schiefergrau, hier, vor dem Hause mit seinen zertrümmerten Spiegelscheiben, seinen umgestürzten Orangeriekübeln unterhalb des Balkons, verliefen und versickerten nur langsam die angeschwemmten Wasser und sammelten sich zu rinnenden Bächen in den tiefen Furchen, die die Räder der Feuerspritzen in die Kies- und Rasenflächen rissen, dazu das wahnwitzige Geschrei, das durch die Lüfte gellte, das geräuschvolle Vorüberstürzen immer neuer Menschenmassen von der Stadt her und inmitten dieser Verwüstung, dieses Aufruhrs eine schneeweiße Braut, weiße Maßliebchen an der Brust und in den blonden Locken, bleich bis in die Lippen, aber zuversichtlich und überlegen in der äußeren Haltung wie immer – eine gegen jedes persönliche Unglück Gefeite.

»Wenn du meinen Arm nur einmal loslassen wolltest, Großmama!« sagte sie ungeduldig. »Ich könnte dich möglicherweise überzeugen, daß du Gespenster siehst. Weshalb soll und muß denn Moritz durchaus verunglückt sein? Bah – Moritz mit seinem fabelhaften Glück? Ich bin überzeugt, er ist heil und ganz drüben mitten im Getümmel, und unsere kopflose Dienerschaft, die es, nebenbei gesagt, nicht für der Mühe wert hält, nach uns zu sehen, und nur dann und wann im Vorüberrennen albernes Gewäsch in den Himmel hineinschreit, diese beschränkten Menschen, sage ich, sehen ihren Herrn mit offenen Augen nicht.« – Ihr Blick streifte den nassen Boden, dann sah sie auf ihren Fuß, der sich im weißen Stiefelchen unter dem Besatz ihres Kleides vorschob. »Man wird denken, ich sei auch ein wenig verrückt geworden,« meinte sie achselzuckend, »aber ich muß hinüber –«

»Nein, nein, du bleibst,« rief die Präsidentin und grub ihre Finger in die Falten des weißen Kleides. »Du wirst mich nicht allein lassen mit Henriette, die noch hilfloser ist als ich und mir nicht beistehen kann. O mein Gott, ich sterbe. Wenn er tot wäre, wenn – was dann?« Ihr Kopf fiel tief auf die Brust, die in Brillanten flimmerte – wie entsetzlich alt sah die Frau aus! Ihre gelbe Moireeschleppe umbauschte wie in grellem Hohn die gebeugte Greisengestalt.

Henriette kauerte auf der anderen Seite der Bank, aschfarben vor Erregung und mit entsetzten Kinderaugen ins Weite starrend. »Käthe! Wo nur Käthe bleibt?« sagte sie mit bebenden Lippen immer wieder vor sich hin, als sei ihr der Satz eingelernt worden.

»Gott im Himmel, schenke mir Geduld!« murmelte Flora zwischen den Zähnen. »Es ist doch etwas Schreckliches um solche Frauenzimmer … Ich bitte dich, Henriette, warum schreist du denn immer nach deiner Käthe? Die wird dir doch niemand nehmen!«

Mit verzehrender Ungeduld überflog ihr Blick das Haus, aber da war kein lebendes Wesen zu sehen, das sie von dem ihr aufgezwungenen Beschützerposten hätte erlösen können – sie waren alle nach der Ruine gerannt, die bereits angekommenen Gäste aus der Umgegend, die Diener, die dienstbaren Geister der Küche; selbst die feinbeschuhten Kammerjungfern waren durch die tiefen Wasserlachen mitgelaufen. Aber von der Stadt her nahte jetzt Beistand – die darstellenden Damen des Festspiels kamen atemlos um die Hausecke.

»Um Gottes willen, was geht bei euch vor?« rief Fräulein von Giese und stürzte auf die verlassene Frauengruppe zu.

Flora zog die Schultern empor. »Im Turm hat eine Explosion stattgefunden – mehr wissen wir auch nicht. Alles rennt vorüber, niemand steht uns Rede, und ich kann nicht von der Stelle, weil die Großmama den Kopf verloren hat und mir in ihrer bodenlosen Angst buchstäblich die Kleider vom Leibe reißt. Sie bildet sich ein, Moritz sei umgekommen.«

Die jungen Mädchen standen wie zu Stein erstarrt vor dieser gräßlichen Vermutung – der blühend schöne Mann, der vor wenigen Stunden noch »dem herrlichen Leben« ein Hoch gebracht, dort in den Flammen umgekommen oder in Stücke gerissen! Das war nicht auszudenken. »Unmöglich!« stieß Fräulein von Giese heraus.

»Unmöglich?« wiederholte die Präsidentin unter einem Gemisch von Schluchzen und wahnwitzigem Auflachen; jetzt stand sie wie emporgerissen auf ihren Füßen, aber sie schwankte wie eine Betrunkene und deutete mit einer unsicheren Armbewegung nach dem nächsten Gebüsch. »Da – da bringen sie ihn! Gerechter Gott! Moritz, Moritz!«

Dort wurde unter feierlichem Schweigen ein Gegenstand hergetragen, und in dem Kreise neugierig mitlaufender Menschen schritt Doktor Bruck; er war ohne Hut und seine hohe Gestalt überragte alle.

Flora flog hinüber, während die Präsidentin in ein lautes, krampfhaftes Weinen ausbrach. Beim Anblick der herbeieilenden, gebieterisch schönen Braut trat die Begleitung unwillkürlich auseinander; nach einem raschen Blick über die hingestreckte Gestalt, die man auf einem Ruhebette trug, wandte sich Flora sofort zurück und rief beschwichtigend: »Beruhige dich doch nur, Großmama! Es ist ja nicht Moritz –«

»Käthe ist's – ich wußte es,« murmelte Henriette halb schluchzend, halb gespenstisch flüsternd mit ihrer heiseren Stimme und wankte hinüber, wo die Träger, Atem schöpfend, für einen Augenblick ihre Last niedergesetzt hatten.

Die Verunglückte lag auf einem altmodischen Ruhebette aus des Doktors Arbeitszimmer – ihre seitwärts niederhängenden Kleider troffen von Nässe. Weiche Bettkissen unterstützten Kopf und Rücken; sie hätte mit ihren sanft geschlossenen Lidern und den zwanglos im Schoße ruhenden Händen ausgesehen wie eine friedlich Schlummernde, wäre nicht das Blutgerinnsel an der linken Wange nieder und die Binde über der Stirn gewesen, die von einer Kopfwunde zeugten.

»Was ist's mit Käthe, Leo? Was in aller Welt hat sie an der Unglücksstätte zu suchen gehabt?« fragte Flora, an das Ruhebett herantretend – Ton und Blick zeigten mehr Ärger über den vermeintlichen Vorwitz der Stiefschwester als eigentlichen Schrecken.

Der Doktor war vorhin bei ihrer beschwichtigenden Versicherung wie in jäh aufloderndem Zorne emporgefahren; jetzt schien es, als höre er gar nicht, daß sie spreche – so fest lagen seine Lippen aufeinander und so leer war der Blick, der neben ihr hinstreifte und dann auf Henriette niedersank.

Die arme Kranke stand, nach Atem ringend, vor ihm, und ihre tränenumflorten Augen sahen in Todesangst zu ihm auf. »Nur ein einziges Wort, Leo – lebt sie?« stammelte sie mit bittend gehobenen Händen.

»Ja, die Lufterschütterung und der Blutverlust haben sie betäubt, gefahrbringend sind augenblicklich nur die nassen Kleider; die Stirnwunde ist ungefährlich, Gott sei Dank!« antwortete er wie aus tiefster Brust in bebenden Tönen, und liebreich wie ein Bruder legte er den linken Arm um ihre schwache Gestalt, die sich kaum auf den Füßen zu erhalten vermochte. »Vorwärts!« befahl er den ruhenden Trägern mit hörbarer innerer Angst und Ungeduld.

Der begleitende Menschenschwarm verlief sich enttäuscht: es war ja keine Gefahr vorhanden; die meisten kehrten nach der Brandstätte zurück. Das Ruhebett wurde über den Kiesweg getragen, an der Präsidentin vorüber, die völlig geistesabwesend auf die Ohnmächtige stierte und nichts mehr zu begreifen, zu fassen schien. Die entsetzte Mädchenschar drängte sich wie gescheucht aneinander und blickte ratlos zu dem jungen Arzte empor, der, ohne sie zu beachten, neben dem Ruhebette schritt. Noch hielt er mit dem linken Arm Henriette umschlungen; die Rechte aber hatte er auf Käthes Stirn gelegt, um jeder schmerzenden Erschütterung vorzubeugen. Der sonst so scheu sein Inneres verbergende Mann, den man in der letzten Zeit nur noch mit tiefverfinsterten Augen und gezwungenem Wesen gekannt hatte, sah unverwandt behütend, mit unverhohlener Zärtlichkeit auf das erblaßte Mädchengesicht nieder, als gebe es nichts anderes mehr für ihn, als habe er unter Todesqualen sein Liebstes und Heiligstes auf dieses Ruhebett gerettet.

Flora ging der schweigenden Gruppe nach, abseits, wie wenn nicht das geringste Band sie mit den drei Menschen verkette, die das Unglück plötzlich vor aller Augen in so innige Beziehung brachte. Dort, wo die Träger gerastet hatten, standen noch tiefe Wasserlachen; sie war mit ihren zierlichen weißen Stiefeln in das trübe Naß getreten, und ihre lange Schleppe schleifte durchfeuchtet und beschmutzt über den Kies. Mit einem raschen Griff nahm die schöne Braut den weißen Margeritenkranz aus dem Haar; er war zur bitteren Ironie geworden inmitten der entsetzlichen Ereignisse; sie zerdrückte und zerriß ihn mechanisch mit den Fingern, und wo sie gegangen war, lagen die kleinen schneeigen Sterne verstreut.

Aber sie schritt auch an der Großmama und den Freundinnen vorüber, ohne sie anzusehen. Ihr funkelnder Blick maß unausgesetzt die stattliche Gestalt des Bräutigams – man sah, sie erwartete von Sekunde zu Sekunde, daß er sich nach ihr umwende, und so folgte sie ihm Schritt für Schritt über den weiten Platz, über die Schwelle des Hauses. Die Präsidentin rief nach ihr; ein abermaliges erderschütterndes Gerassel, dem ein emporbrausendes Toben von Menschenstimmen folgte, dröhnte von der Ruine herüber – sie sah nicht zurück. Mochte auch hinter ihr die Welt zusammenbrechen – sie ging in unerbittlicher Entschlossenheit »ihren Rechten« nach.


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