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Da, dicht neben der Türeinfassung, lehnte das junge Mädchen an der Wand; mit blassem Gesicht, die Zähne fest zusammengebissen, starrte sie neben dem herabsteigenden Manne weg in die leere Luft – sie wollte ihn nicht sehen.
Er schrak bei ihrem Anblick zusammen und blieb einen Augenblick wortlos vor ihr stehen, die unbeweglich wie ein Wachsbild in ihrer Stellung verharrte. »Käthe!« rief er leise, ängstlich zögernd wie jemand, der einen in einem schweren Traum Befangenen zu erwecken sucht.
Sie richtete sich in ihrer ganzen Höhe und schlanken Schönheit auf und stieg langsam die Stufen herab. »Was wünschen Sie, Herr Doktor?« fragte sie, drunten auf dem Rasen stehend, über die Schulter nach ihm zurück. Auch diese Bewegung hätte noch den Eindruck des Automatenhaften gemacht, wäre nicht der empört flammende Blick gewesen, den sie jetzt auf den Doktor richtete.
Er errötete heiß wie ein Mädchen und trat zu ihr. »Sie haben gehört –« fragte er unsicher, aber gespannt in jedem Zuge seines Gesichts.
»Ja,« unterbrach sie ihn bitter lächelnd, »jedes Wort, und habe damit selbst schlagend bewiesen, wie recht Sie tun, Ihr Haus von fremden Eindringlingen zu säubern – die Wände haben Ohren.« – Sie ging noch einige Schritte vom Hause weg, als könne sie nicht entfernt genug von der Schwelle stehen, die sie nicht mehr betreten sollte.
Er hatte sich währenddessen gefaßt; er warf seinen Hut auf einen Gartentisch in Käthes Nähe und richtete seine hohe Gestalt aus der vorgeneigten Stellung empor, die er im ersten Zusammenschrecken angenommen hatte. Aus seinen Wangen war die Röte gewichen, aber es sah aus, als atme er auf, als sei es ihm erwünscht, daß eine solche Wendung eingetreten, daß ihm der Zufall zu Hilfe gekommen sei. »Die Furcht, belauscht zu werden, hat keinen Teil an dem, was ich vorhin meiner Tante ausgesprochen habe. Dieses stille Haus hat keine Geheimnisse, und das, was man in seiner Brust verschließen muß, wird auch nicht laut zwischen Wänden, die keine Ohren haben,« sagte er mit ruhigem Ernste. »Sie haben jedes Wort gehört – dann wissen Sie auch, daß mich nur der Wunsch nach zeitweiligem Ausruhen bestimmt, ungestörte Stille zu fordern. Ich muß es leider gleich von vornherein aufgeben, diese meine rohe Selbstsucht entschuldigend zu begründen. Sie können sich selber nicht denken, daß es Seelen gibt, die fortgesetzt gleichsam auf der Flucht sind vor Gedanken und – Gestalten, aber vielleicht wird es Ihnen leichter, sich den schmerzvollen Zorn, die Qual eines Verfolgten vorzustellen, der erschöpft dem schützenden Heim zueilt und gerade da sich vor denen sieht, die er flieht.«
Sie sah mit ihren klugen Augen scheu prüfend zu ihm empor, der ihr während des Sprechens näher getreten war. Ja, es war ihm tiefer Ernst mit dem, was er sagte; er schilderte nicht nur die Qual eines solchen Verfolgten, er empfand sie auch in diesem Augenblicke wirklich und leibhaftig, das sah sie an seinem seltsam verstörten Blicke, an dem fahlen Erbleichen, das sein Gesicht seltsam überschauerte; allein – vor seiner Braut floh er doch nicht, auch auf die unschuldigen Kinder konnte sie das Gesagte unmöglich beziehen; sonst aber verkehrte niemand hier – außer ihr. Mithin verhielt es sich in Wirklichkeit so, wie sie sich bereits tiefverletzt eingestanden: sie war ihm als Zeugin verschiedener Auftritte zwischen ihm und Flora lästig und unerträglich geworden; er mochte ihr wenigstens in seinem Hause nicht mehr begegnen, und die Unterrichtsstunden wurden nur eingestellt, um ihr jeden Vorwand zum ferneren Aus- und Eingehen abzuschneiden. Diese Überzeugung machte ihre lieblichen Züge in dem Ausdruck eisig lächelnden Unglaubens förmlich erstarren.
»Sie haben gar keine Verpflichtung, Ihre strenge Maßregel zu begründen – Sie sind Herr hier, und das genügt,« versetzte sie frostig. »Aber welche unbegrenzte Verehrung müssen Sie für die Frau Baronin Steiner hegen, daß Sie ihr die heißersehnte Ruhe opfern und ihren ungebärdigen Enkel samt Erzieherin in das Haus nehmen wollen!« – Das war eine herbe Zurechtweisung aus dem Mädchenmunde, der allerdings stets fest zu sprechen gewohnt war, noch nie aber gezeigt hatte, bis zu welcher Schneidigkeit die weiche Glockenstimme sich schärfen konnte. »Ach nein, tun Sie das nicht!« rief sie in plötzlicher leidenschaftlicher Steigerung und streckte die Hand gegen ihn aus, als er überrascht und betreten die Lippen zu einer Entgegnung öffnete; »ich möchte nicht, daß Sie sich aus leidiger Höflichkeit zu einer Bemäntelung herbeiließen und anders sprächen, als Sie denken. – Weiß ich doch nur zu gut, welche Beweggründe Sie leiten!« Sie kämpfte sichtlich zornige Tränen nieder. »Ich habe einigemal ungeschickterweise Ihren Weg gekreuzt und begreife vollkommen die Erbitterung, mit der Sie vorhin sagten: ›Immer dieses Mädchen!‹ … Ich kann mir ja selbst dieses Ungeschick nie verzeihen, obgleich ich in Wahrheit nur ein einziges Mal schuldig gewesen bin, das heißt mit Vorbedacht mich eingemischt habe. Sie aber gehen noch unerbittlicher mit mir ins Gericht – Sie verfolgen mich dafür.«
Doktor Bruck widersprach mit keinem Worte, allein es war, als schließe er gewaltsam die Lippen gegen die Versuchung, zu sprechen. Seine Augen sahen seitwärts mit einem festen, ausdrucksvollen Blick auf sie nieder, und die Rechte, die er auf den Gartentisch gestützt hatte, zog sich wie im Krampfe zusammen. In dieser Stellung, in jedem Zug seines schönen Gesichts lag das Grundgepräge dieses Männercharakters, die Verschlossenheit, die Willenskraft, die sich nur im äußersten Falle eine Erklärung abringen läßt.
»Ich bin mit innerem Widerstreben hierher zurückgekehrt,« hob sie wieder an. »Die alte Dame da drüben« – sie zeigte in der Richtung nach der Villa Baumgarten – »hat mit ihrem Präsidentenstolz meine Kindheit vergiftet, wo es ihr irgend möglich war, und die bitteren Tränen, die sie mit ihrer fortgesetzten Bosheit meiner armen Lukas damals erpreßte, kann ich ihr nie vergessen. Sie wissen, wie mir bei meiner Ankunft vor dem Zusammentreffen mit meiner geistesstolzen Schwester Flora bangte und wie ich angesichts der Villa am liebsten kehrt gemacht und zur selben Stunde die Rückreise in mein Dresdener Heim angetreten hätte – wäre ich doch gegangen! Neben dem Beamtenstolze und der geistigen Überhebung macht sich nun auch der unerträgliche Gelddünkel breit – es weht eine von Goldstaub und Anmaßung erfüllte Luft dort drüben, in der auch das lebensfrischeste Denken und Empfinden verkümmern muß. Meiner ganzen Natur nach bin ich unfähig, in einem solchen Boden Wurzel zu fassen, aber hier« – mit aufgehobenem Arme deutete sie über Haus und Garten hin – »hier war ich heimisch; hier hätte ich selbst meine Dresdener Heimat vergessen können, warum – ich weiß es ja selber nicht.«
Wie lieblich stand sie im schneeweißen Kleide da, den flechtengeschmückten Kopf sinnend gesenkt! »Die alte, prächtige Frau hat mir's angetan, glaub' ich,« setzte sie mit einem hellen Aufblicke hinzu, »ihre edle, einfache Erscheinung verhilft mir immer wieder zu innerem Gleichgewicht; sie geht leise und geräuschlos ihren Weg, und wenn man auch nie einen eigentlichen Widerspruch von ihren Lippen hört, nie ein eigensinniges Beharren bemerkt, so weicht sie doch nicht um eine Linie von dem, was sie für gut und recht hält, ab. Das tut wohl im Hinblick auf so viel inhaltslose Vornehmtuerei, auf so viel lügenhafte Aufbauschung und Aufgeblasenheit und auch – so manche beklagenswerte Schwäche, in die leider selbst der männliche Geist verfallen kann.« Die Brauen finster faltend, warf sie einen kleinen, blütenschweren Zweig, den sie unterwegs gepflückt und bisher spielend zwischen den Fingern gedreht hatte, verächtlich weit von sich.
Diese eine Bewegung reizte und empörte den vor ihr stehenden Mann sichtlich. Ein düsteres Feuer glomm in seinen Augen auf – er hatte sie verstanden. »Sie haben vorhin eine Tugend der ›alten, prächtigen Frau‹ aufzuzählen vergessen: die Milde und Vorsicht im Richten,« sagte er scharf und strafend. »Nie würde sie ein so unbedingt verdammendes Urteil in der unfehlbaren Weise aussprechen, wie Sie eben getan, weil sie weiß, wie leicht man mißversteht und daß sich gar manchmal – wie es sich denn auch in dem von Ihnen betonten Fall verhält – gerade hinter der vermeinten Schwäche ein Aufbieten aller inneren Kraft verbirgt.« Er sprach in heftiger Steigerung; die schlichte Gelassenheit, die er nicht einmal bei dem mächtigen Wechsel seiner Lebensstellung auch nur einen Augenblick eingebüßt hatte, war von ihm gewichen.
Wohl senkte Käthe in der ersten Bestürzung die Wimpern tief auf die heißen Wangen, aber sie fühlte sich im Recht; er war namenlos schwach gegen sich selbst, in seiner Liebesleidenschaft wie in seiner Abneigung – das letztere hatte sie ja eben an sich selbst erfahren müssen. Sie warf trotzig den Kopf zurück.
In diesem Augenblick kamen die kleinen Schülerinnen im Haschespiel um die Hausecke gelaufen. Käthe erblicken und jubelnd auf sie losstürmen, war eins. Daß der Doktor mit seinem tiefverfinsterten Gesicht neben dem Mädchen stand und die Hände abwehrend ausstreckte, kümmerte die fröhliche Schar nicht – im Nu war die schlanke weiße Gestalt umringt; die kleinen Hände stießen und drängten sich gegenseitig weg. Jedes wollte die Ärmchen um »die schöne Tante« legen, oder mindestens eine ihrer Hände erhaschen.
Trotz ihrer inneren Bewegung hätte Käthe beinahe hell aufgelacht; denn so fest sie auch auf ihren Füßen stand, sie schwankte unter dem Anprall der geschmeidigen Kinderleiber und konnte sich ihrer kaum erwehren, der Doktor aber ergrimmte, wie sie ihn noch nie gesehen hatte. Er schalt die Kleinen zudringlich, schob sie unsanft weiter und gebot ihnen mit harter Stimme, sich wieder hinter das Haus zu verfügen und dort zu warten, bis man sie entlasse.
Die Kinder schlichen betrübt und eingeschüchtert davon.
Käthe biß sich auf die Unterlippe, und ihr umflorter Blick verfolgte die kleinen Mädchen, bis sie hinter der Hausecke verschwunden waren. »Wie gern ginge ich mit ihnen, um sie zu beruhigen, aber ich werde natürlich nicht um einen Schritt auf dem Gebiet zurückgehen, das ich bereits für immer verlassen habe,« sagte sie mit einem Gemisch von Schmerz und heftigem Zürnen.
»Beruhigen!« wiederholte der Doktor in spottendem Tone. »Möchten Sie mich nicht auch noch zum Unmenschen stempeln, wie ich vorhin als Schwächling bezeichnet wurde? – Trösten Sie sich – solch ein Kindergemüt trägt die Beruhigungsmittel in sich selber; Lachen und Weinen wohnen eng zusammen. Hören Sie, wie dort drüben bereits wieder gekichert wird?« – Er zeigte mit einem flüchtig um seine Lippen spielenden Lächeln über die Schulter zurück. »Ich wette, das gilt mir und meiner Strenge. Ich habe um Ihretwillen die ausgelassene Schar in die Schranken gewiesen – ich konnte das nicht sehen; wie mögen Sie es dulden, daß man Sie so heftig überfällt? Die Kinder sind schlecht erzogen –«
»Weil sie mich lieb haben? Gott sei Dank, daß es so ist! Ja, Gott sei Dank, daß ich wenigstens da noch glauben darf!« rief sie, die Hände auf die Brust pressend. »Oder wollen Sie mich vielleicht auch angesichts dieser Zuneigung glauben machen, daß der Zärtlichkeitsbeweis einzig und allein meinem Geldschrank gelte? – Ach nein, auf dieser trostvollen Überzeugung stehe ich fest; da lasse ich mich nicht auch weghetzen – darauf verlassen Sie sich!« Wie herzzerschneidend klang diese bittere Verwahrung von den jungen Lippen.
»Welch seltsame Idee –«
»Ach, ist es Ihnen wirklich so verwunderlich, daß ich endlich aufgerüttelt bin aus meiner mehr als kindlichen Vertrauensseligkeit, die da gemeint hat, warmes Fühlen und braves, redliches Wollen gelten auch etwas in der Welt? Nicht wahr, es hat lange genug gedauert, bis der schwerfällige deutsche Michel in meiner Seele die Augen aufgeschlagen hat, um zu sehen, daß er sich unsterblich lächerlich mache mit seinen altmodischen Ansichten von gut und schlecht, von Wahrheit und Lüge?« Sie wurde ganz blaß und schauerte zusammen. »Es ist etwas Schreckliches um die plötzliche Erkenntnis, daß man eigentlich gar nicht mehr existiert als das, was man sich eingebildet hat zu sein, als ein junges Menschenkind mit der Berechtigung, dereinst auf seine Art glücklich zu werden.«
Er wandte schweigend die Augen von ihr weg, und sie fuhr nach einem tiefen Atemholen fort: »Sie haben mich bei unserer ersten Begegnung gefragt, wie ich mein plötzliches Reichwerden auffasse; ich bin erst in diesem Augenblicke fähig, Ihnen darauf die richtige Antwort zu geben. Ich komme mir vor wie verunglückt in diesem Geldmeere; es streckten wohl viele die Hand aus, aber nicht, um mich meiner selbst wegen an sich zu ziehen, sondern nur, weil die Goldwogen mir folgen.«
Der Doktor fuhr wie entsetzt empor. »Um Gott, wie kommen Sie zu dieser grauenhaften Vorstellung?«
Sie lachte herzerschütternd auf. »Das fragen Sie noch? Zwingt man mich nicht täglich, stündlich, diese grauenhafte Vorstellung mit der Gottesluft zu atmen, mit jedem Trunke zu schlürfen? Da soll man mir in meinem lieben Dresdener Heim nur schöntun, weil ich der ›Goldfisch‹ bin; meine Lehrer nähren das schwache Fünkchen des musikalischen Talentes in mir nur um des reichen, sicheren Honorars willen, das ich zahle, und der Vormund freit um die Mündel, weil er sie – am besten einzuschätzen versteht.«
Sie hatte, indem sie vor sich hinsprach, den Blick ziellos über den Abendhimmel schweifen lassen; jetzt sah sie den Doktor an – er hatte eine Bewegung gemacht, als gehe ein elektrischer Schlag durch seinen Körper. »Ist das bereits Tatsache?« stammelte er und strich sich wiederholt über die Augen, wie wenn ihn ein Schwindel überkomme. »Und es macht Ihnen wohl tiefen Kummer, sich vorstellen zu müssen, daß auch Moritz so denke?« setzte er nach einem augenblicklichen Schweigen gepreßt hinzu.
Betroffen horchte sie auf – seine Stimme klang so auffallend matt und gebrochen. »Mehr noch verletzt es mich, daß sich jeder für berechtigt hält, in dieser Angelegenheit mitzusprechen,« entgegnete sie, und, ihre schöne, kraftvolle Gestalt majestätisch aufrichtend, stand sie da, die verkörperte Abwehr gegen fremde Anmaßung. Sie schüttelte den Kopf mit einem bitteren Spottlächeln. »Solch ein armer Goldfisch, wie muß er sich allen Ernstes wehren, wenn er nicht in den Händen der Egoisten zum erbärmlichen Spielball werden will, und ich will nicht – durchaus nicht! Sehen Sie sich vor, Herr Doktor! Sie gehören auch zu denen, die meinen, ein verwaistes junges Mädchen müsse sich lenken lassen, wie der Vorteil, das Behagen anderer sein Kommen und Gehen erheische. Hier verbannen Sie mich und dort möchten Sie mir eine Kette um den Fuß legen, damit ich bleibe. Ich möchte wissen, was Sie zu dieser Willkür berechtigt, oder nein,« – ihre Lippen zuckten im Kampfe mit aufquellenden Tränen – »ich möchte mit Henriette fragen: ›Was habe ich Ihnen getan?‹«
Das letzte dieser in leidenschaftlicher Klage herausgestoßenen Worte erlosch ihr auf den Lippen – der Doktor hatte ihr Handgelenk umfaßt. Seine kalten Finger drückten wie Eisen.
»Kein Wort mehr, Käthe!« raunte er ihr in Lauten zu, die sie erschreckten. »Ich weiß zum Glück, daß nicht eine Spur von komödienhafter Falschheit in Ihnen lebt, sonst müßte ich glauben, Sie hätten die raffinierteste Folterqual ersonnen, um mir ein streng behütetes Geheimnis zu entreißen!« er ließ ihre Hand fallen; »aber auch ich will nicht – durchaus nicht!«
Er schlug die Arme über der Brust zusammen und entfernte sich einige Schritte, als wolle er rasch nach Hause gehen, aber plötzlich wandte er sich dem wie erstarrt dastehenden Mädchen wieder zu. »Es interessiert mich übrigens, zu erfahren, inwiefern ich Ihnen eine Kette um den Fuß legen möchte, damit Sie bleiben,« sagte er ruhiger. Er kam zurück und blieb vor ihr stehen.
Käthe errötete tief; einen Augenblick zögerte sie in mädchenhafter Scheu, dann aber versetzte sie entschlossen: »Sie wünschen, daß ich die – Herrin in der Villa Baumgarten werde –«
»Ich – ich?« Er drückte die geballten Hände gegen die Brust und brach in jenes hohnvolle Lachen aus, das sie schon vorhin bei seiner Unterredung mit der Tante erschreckt hatte. »Und wie begründen Sie diese Beschuldigung? Warum soll ich wünschen, Sie als Herrin der Villa Baumgarten zu sehen?« fragte er, sich mühsam bezwingend.
»Weil Sie, wie Flora sagt, Henriette nicht so ohne weiteres ihrem Schicksale überlassen wollen,« antwortete sie mit der ganzen entschlossenen Aufrichtigkeit, die auf eine entschiedene Frage kein Ausweichen zuläßt. »Sie finden, daß ich meine arme Schwester mit hingebender Liebe pflege, und um ihr das Haus des Kommerzienrates, unser ehemaliges Vaterhaus, auch als fernere Heimat zu sichern, soll ich die schwesterliche Liebe und Hingebung noch weiter betätigen, indem ich – die Frau des Kommerzienrates werde.«
»Und Sie glauben, daß ich an der Spitze einer derartigen Familienintrige stehe? Sie glauben das ernstlich? Haben Sie vergessen, daß ich mich gleich zu Anfang dieser aufopfernden Pflege und Ihrem längeren Bleiben in Römers Hause widersetzt habe?«
»Seitdem hat sich vieles geändert,« entgegnete sie rasch und bitter. »Sie werden im September M. für immer verlassen; dann kann es Ihnen gleichgültig sein, wer in der Villa schaltet und waltet; Ihr Behagen wird nicht mehr gestört durch eine unerwünschte Persönlichkeit –«
»Käthe!« stieß er heraus.
»Herr Doktor?« Sie hielt, den Kopf stolz hebend, seinen flammenden Blick ruhig aus. »Der Gedanke einer solchen Anordnung liegt eigentlich sehr nahe, und nur einem so langsam begreifenden Wesen wie mir konnte es geschehen, so lange blind an dem allen vorüberzugehen,« setzte sie scheinbar gelassen hinzu. Es war etwas Überlegenes in ihrem Ton und Wesen, als sei sie plötzlich um Jahre an Erfahrung und Erkenntnis gereift. »Dann käme nichts Fremdes in den Familienkreis; die ganzen häuslichen Einrichtungen könnten bleiben, wie sie sind, Bequemlichkeiten und Gewohnheiten in der Villa wie drüben im Turme würden nicht berührt; nichts, nicht einmal ein eiserner Spind in Moritzens ›Schatzkammer‹ brauchte von seiner Stelle gerückt zu werden; das ist so praktisch gedacht –«
»Und leuchtet Ihnen so sehr ein, daß Sie nicht einen Augenblick schwanken, zu bleiben,« ergänzte er fliegenden Atems mit einem so ungeduldig verzehrenden Blicke, als zürne er den Lippen, daß sie nicht rasch genug bestätigten.
»Nein, Herr Doktor, Sie triumphieren zu früh,« rief sie mit einer Art von wilder Schadenfreude. »Der widerspenstige Goldfisch durchbricht das Netz. Ich gehe, ich gehe heute noch. Ich kam vorhin nur, um mich von der Frau Diakonus zu verabschieden, und würde daher gelächelt haben über das Verbannungsdekret, das Sie gegen mich richteten, wenn es mich nicht so schmerzlich berührt hätte. Meine Schwestern haben mir vorhin die blinden Augen geöffnet und mir in prächtigem Ausblick ›das Glück‹ gezeigt, das man für mich beabsichtigt. Ich hatte im Augenblick der Eröffnung das Gefühl, als gäbe es aus dem blauen Zimmer der Frau Präsidentin nur noch einen Weg für mich, den direkten, sofortigen nach der Eisenbahn, die mich heim beförderte, und ich wäre auch gegangen, wenn ich mich nicht meiner übernommenen Pflichten erinnert hätte. Ich gehe nicht für lange, nur für die Zeit, in der ich Moritz von der Ferne aus überzeugt haben werde, daß er mir nie und nimmer mit einer anderen als seiner streng vormundschaftlichen Beziehung kommen darf, daß ich ihm stets die entschiedenste Abneigung zeigen werde, sobald er Miene macht, einen anderen Ton als den des väterlichen Beraters anzuschlagen.«
Ihr Busen hob sich in tiefen, befreienden Atemzügen, und die heiße Glut, die ihr Gesicht bis an die Haarwurzeln überströmte, war das hinreißende Erröten widerstrebender Scham, aber man sah, sie wollte es um jeden Preis klar werden lassen zwischen sich und dem Manne, der sich, während sie sprach, emporrichtete, hoch und geschmeidig, als werde plötzlich eine niederdrückende Wucht von seinen Schultern genommen.
»Seit dem Tage, wo wir Henriette so schwer leidend in Ihr Haus brachten, besteht ein schönes Verhältnis zwischen der Frau Diakonus und meiner armen Schwester,« fuhr Käthe rascher fort; »ich kann ruhigen Herzens gehen, wenn die Tante sich Henriettens annimmt. Um diesen Liebesdienst wollte ich sie bitten; deshalb kam ich hierher. Ich werde ihr nun von Dresden aus schreiben; denn Sie begreifen wohl, daß die von Ihrem Grund und Boden Verbannte auch nicht einmal die kurze Strecke von hier bis zu dem Hausflur je wieder beschreiten wird.«
Mit diesen Worten ging sie an ihm vorüber. »Leben Sie wohl, Herr Doktor!« sagte sie mit einer leichten Verbeugung und schritt nach der Brücke. Jenseit des Holzbogens, beim Umschreiten der Pappel, wandte sie den Kopf noch einmal nach dem lieben alten Hause zurück. Dort an der Ecke lugten die Kinderköpfchen neugierig und kichernd eines über dem anderen, neben dem Gartentische aber stand der Doktor, beide Hände sonderbar schwer auf die Tischplatte stützend, und aus seinem aschfahlen Gesichte starrten die Augen mit einem fast wilden Blicke ihr nach.
Seltsames Mädchenherz! Sie flog ohne Besinnung über die Brücke zurück, über den verpönten Weg, den sie nie mehr beschreiten wollte – sie wäre noch weiter gelaufen, in die weite Welt hinein, ihm zu Hilfe.
»Ach, Sie sind krank?« stammelte sie, ihre warmen, geschmeidigen Hände angstvoll auf die seinen legend.
»Nein, nicht krank, Käthe – nur das, was Sie mir, wenn auch in einem anderen Sinne, schuld gegeben – ein erbärmlicher Schwächling!« stöhnte er und strich sich mit einer heftigen Gebärde das nach vorn gefallene reiche Lockenhaar aus der Stirn zurück. »Gehen Sie, gehen Sie! Sehen Sie denn nicht, daß ich in einem Seelenzustande bin, für den jedes Wort der Teilnahme, jeder warme Blick zum Dolchstoß wird?« rief er rauh, und doch beugte er sich blitzschnell nieder und preßte seine Lippen fest und heiß, wie in wahnsinnigem Schmerz, auf die Mädchenhand, die noch auf seiner Linken lag.
Erschrocken fuhr das junge Mädchen zusammen, allein sie fühlte ihr Herz von einem nie gekannten, beseligenden Zärtlichkeitsgefühl überströmen, und es schwebte ihr auf den Lippen zu sagen: »Nein, ich gehe nicht – du bedarfst meiner.« Da stand er jedoch schon wieder hochaufgerichtet vor ihr und winkte mit schmerzentstelltem Gesicht stumm, aber gebieterisch nach der Brücke – und jetzt floh das Mädchen, als schreite der Engel mit dem feurigen Schwerte hinter ihr …
Einige Stunden später stieg sie in Hut und Schleier, eine Reisetasche in der Hand, eine Seitentreppe der Villa geräuschlos herab – sie ging, wie sie gekommen war, plötzlich, unerwartet. Henriette hatte, wenn auch tödlich bestürzt und unter heißen Tränen, dennoch in die schleunige Abreise und mehrwöchige Abwesenheit der Schwester gewilligt, da sie sich selbst sagen mußte, daß auf Floras unumwundene, taktlose Mitteilungen hin nun eine Reihe peinlicher Auftritte für alle Teile folgen würde. Sie war auch damit einverstanden, daß Käthe stillschweigend gehe und von Dresden aus ihre Willensmeinung äußere, während sie selbst es übernahm, die Verwandten von der Abreise in Kenntnis zu setzen. Dafür stellte sie die Bedingung, daß Käthe sofort zurückkehre, gleichviel wann, und möge sie auch sein, wo sie wolle, sobald die kranke Schwester eine Stütze brauche und sie rufe.
Henriette blieb droben an der Treppe stehen und streckte der Scheidenden die Hände nach, während Käthe den Schleier über die verweinten Augen zog. Wie ein Lichtmeer wogte es durch das Haus; alle Gasflammen loderten und am Tor fuhr donnernd ein Wagen nach dem anderen vor. Für einen Augenblick war Käthe gezwungen, in einen Seitengang zu flüchten; dort, an die Wand gedrückt, sah sie Damen in eleganter Abendtoilette vorüberrauschen. Die Diener schlugen die Türen des blauen Empfangszimmers weit zurück, und drinnen stand Flora im spitzenbesetzten blaßroten Seidenkleide, strahlend schön und vornehm lächelnd wie ein Fürstenkind, und begrüßte die Gäste, die um ihretwillen kamen – der Kommerzienrat gab ihrem Geburtstag zu Ehren eine große Abendgesellschaft.
Bei diesem Anblick war es der Lauschenden draußen, als gingen schneidende Schwerter durch ihre Seele. Dort stand die Übermütige, umschwebt von Glück, das ihr förmlich bettelnd nachgelaufen war, ob sie es auch verächtlich mit dem Fuß fortgestoßen hatte – und hier verbarg sich die Hoffnungslosigkeit, scheu wie die Sünde. Warum war aller Glücksreichtum, die ganze Fülle von Liebesseligkeit auf dieses eine Haupt gehäuft, das ihrer entbehren konnte, während die andere Schwester inmitten ihrer Goldschätze hungernd und entsagend durch das Leben gehen sollte?
Die Türflügel fielen zu und Käthe eilte hinaus in den Park, von einer Verzweiflung erfüllt, wie sie nur ein junges, heißes Herz zu erschüttern vermag, und während die Kammerjungfer droben ahnungslos ihrer harrte, um auch ihr beim Ankleiden für die Gesellschaft behilflich zu sein, pochte sie an das erleuchtete Mühlenfenster und berief Franz, sie nach dem Bahnhof zu begleiten.