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20.

Käthe wanderte lange ziellos durch den Park, durch alle Laubgänge und Alleen, in die entlegensten Teile hinein. So aufgeregt, wie sie war, mochte sie der Tante Diakonus nicht unter die Augen treten; sie wußte, die alte Frau würde teilnahmvoll fragen, und dann mußte sie beichten, und wahrscheinlicherweise gehörte die alte Freundin auch zu denen, die ihre Verbindung mit dem Kommerzienrat wünschten – sie machten ja in dem Punkte alle Front gegen sie, Flora, Henriette, der Doktor. Egoisten waren sie alle, das wußte sie nun. Aber sie ließ sich nicht in den glänzenden Käfig sperren; sie flog ihnen davon. Das dachte sie bitter, mit finsterem Trotze, und blieb einen Augenblick mit müden Füßen vor der Ruine stehen, bis wohin sie sich verirrt hatte. Die Sonne stand schon tief – es war Abendsonnenlicht, das die Lüfte, den dunklen Tannenwald im Hintergrunde und den flutenden Wasserring um die Ruine von zwei Seiten her mit Purpur- und Goldtinten glühend tränkte und färbte. Wie ein Gebilde aus schwarzem Marmor hob sich die Hügelform mit dem Turme von dem glitzernden Grunde, und die vollblättrige Nußbaumgruppe stand vor ihr wie eine vielzackige dunkle Silhouette, durch deren Geäst nur da und dort die Farbengluten tropften.

Mit einem feindseligen Blick starrte das junge Mädchen über das Wasser hinüber. Dort oben, wo der schwere dunkelrote Seidenvorhang hinter der mächtigen Spiegelscheibe wie ein unheimlicher Blutstrom niederrollte, stand der vielberufene Geldschrank. Bis dahin hatte sie ihn gefürchtet; heute haßte sie diese vier engen eisernen Wände, die ihr Ich, ihr warmschlagendes Herz aus dem Dasein löschten und sich selbst an die Stelle eines jungen Mädchens mit idealen Hoffnungen und Wünschen und tiefer Sehnsucht nach wahrem, stillem Liebesglück drängten. Wer auch kam und um ihre Hand freite, er liebäugelte mit dem eisernen Ungetüm, das sich an ihre Fersen heftete; jeder Blick, der begehrend auf sie fiel, galt der Millionärin, jeder warme Händedruck dem Papiergespenst, »das immer neue Summen aus der Welt an sich zog«. Und das bedachte der Herr Kommerzienrat von Römer auch – der reiche Mann wollte noch reicher werden. Wahrlich, heimtückischer war das Nagen des Wurmes auch nicht, das allmählich von innen eine köstliche Frucht verzehrt, als dieser ewig bohrende, das Selbstgefühl vernichtende Gedanke, den Flora boshaft lachend in die Seele der jungen Schwester geschleudert hatte.

Und dort unten, am Fuße des Turmes gähnte die dunkle Kellerluke, wo die kostbaren Weine des reichen Mannes feurig gegen die einzwängenden Faßdauben und Flaschen pochten. Der Kommerzienrat hatte erst kürzlich wieder die Präsidentin und seine drei Schwägerinnen hinuntergeführt. Die Eisenbahn hatte wieder einmal zahllose Fässer und Körbe herangerollt, und sie alle fanden Platz in den mächtigen Gewölben, die ihre Steinbogen weit und tief in den Leib des Hügels hineintrieben.

Es wehte eine herrlich kühle, reine und trockene Luft da unten; die Steinfliesen des Fußbodens blinkten wie poliert; kein Staubkörnchen, nicht das dünnste Spinnwebfädchen hing an den Steinrippen, die sich oben zur Kuppel kreuzten, und das Kellergerät, das Trinkgeschirr, die grünen Römer, die Champagnergläser, alles funkelte und gleißte; man sah, daß hier dienende Hände ohne Unterlaß fegten und spülten, strenger und peinlicher als im glänzenden Saal. Und da, wo die edelsten Sorten, Faß an Faß, lagerten, wo nur ein schwacher Schein des Tageslichtes hoch oben an der Gewölbedecke dämmerte, da standen auch in der dunkelsten Ecke die zwei Tonnen mit dem historischen Schießpulver, so frisch und unversehrt, daß Käthe neulich lachend gemeint hatte, die ehrwürdigen Reliquien würden wahrscheinlich von Zeit zu Zeit erneuert wie der berühmte Tintenfleck auf der Wartburg. Diese Ecke aber war und blieb ihr unheimlich; sie begriff nicht, wie der reiche Mann sie Tag und Nacht unter seinen Füßen dulden konnte; und wenn sie sich auch nur die gespenstische Ahnfrau der Baumgarten mit umherleuchtender Fackel hin und her irrend dachte, dann sträubte sich ihr das Haar.

Ihr Blick stieg an den geschwärzten Quadern empor: ein einziger Funke, der von dem Kellerlicht wegsprang – und das alte, wie für die Ewigkeit gekittete Turmgefüge barst auseinander, und alles, was Menschenhände an Schätzen in dem Mauerviereck gierig zusammengerafft hatten, es stürmte, in Atome zerstückelt, gen Himmel. Auch die eisernen Wände zersprangen, und die Papiere, an denen der Fluch der Bedürftigen hing, zerstoben und zerflatterten nach allen Winden.

Dem jungen Mädchen graute vor der eigenen Seele, durch die der Gedanke huschte, es möchte so sein, auf daß ihr Ich erlöst werde von der goldenen Maske, nach der die Gelddurstigen strebten. Entsetzt vor dem Bilde der Zerstörung, das die eigene Phantasie heraufbeschworen, hatte sie die Augen bedeckt, und nun ließ sie die Hände sinken und sah tiefaufatmend in die blaugoldigen Lüfte, in denen, hoch über dem Turme, Henriettens Taubenscharen kreisten, und dort vor dem Fenster des scheinbar schiefhängenden Mauerstückes, das auf seinem Rücken den letzten herrlichen Säulenrest trug, hing der Amselkäfig des dort hausenden Dieners. Rosmarin und Goldlack standen auf dem Sims, und darüber her fiel ein Vorhang maiengrüner und maienduftender Hopfenranken. Das Vögelchen sang aus allen Kräften in das Gelärm der flügelklatschenden Tauben hinein, und den grasigen Abhang herab waren geräuschlos die Rehe gekommen und äugten über das Wasser hinweg nach dem großen, schlanken Menschenkind, das eben so häßlich, so verzweiflungsvoll geträumt hatte.

Die Rehe und die Tauben kannten sehr gut das junge Mädchen, das stets Brot und Körner in den Taschen mitbrachte; aber heute hatte dieses nur ein stummes Abschiedwinken mit der Hand für sie, ob auch das Taubenvolk sich jetzt auf den Rasen niederstürzte und seine Kecksten prüfend und bettelnd auf die Brücke vorausschickte. Käthe ging weiter am Flußufer hin, und bald mischte sich ferner Kinderjubel mit dem Rauschen des Wassers. Die kleinen Schülerinnen der Tante Diakonus spielten noch im Garten, und trotz der tiefen Niedergeschlagenheit, trotz der Seelenschmerzen, deren Wesen und Ursprung sie zum Teil nicht einmal begriff, weckten diese Laute ein warmes Freudengefühl in Käthe. Ach nein, die kleinen Geschöpfe da drüben mit den unschuldigen Augen und den jungen fröhlichen Herzen sahen nicht die Millionärin in ihr; sie wußten noch nichts von dem eisernen Geldschranke; sie nahmen unbefangen und dankbar das gereichte Vesperbrot und fragten nicht, wer es bezahlt habe. In den jungen Seelen lebte sie als Tante Käthe, um deren Liebesbeweise man sich stritt und zankte, der man sehnsüchtig entgegenlief und in deren Ohr das ängstliche Bekenntnis kleiner Vergehen oder die weinende Klage über ein erlittenes Unrecht vertrauensvoll geflüstert wurden. Nein, dort wurde sie geliebt, aufrichtig geliebt um ihrer selbst willen.

Sie verdoppelte ihre Schritte; je näher sie dem Hause kam, desto mehr wurde ihr zu Sinne, als kehre sie heim aus der Irre. Dort trat die Magd zwischen den zwei gewaltigen Pappeln hervor, die zu beiden Seiten der Brücke standen, und wanderte, den Henkelkorb am Arme, nach der Stadt, um die Abendeinkäufe zu machen – das war auch eine treue Seele, die nicht um des Geldes willen an der Herrschaft hing; ihr gutmütiges, offenes Gesicht gehörte so recht in das gemütliche Heimwesen am Flusse.

Von den Kindern war nichts zu sehen, als Käthe über die Brücke kam – sie spielten hinter dem Hause. Dafür machte sich der Haushahn um so breiter auf dem Rasenplatze, er schlug mit den farbenglänzenden Flügeln und krähte, daß es weit über das Feld hingellte; die Hühner unterbrachen ihr Scharren und schielten mit schiefgehaltenem Kopfe nach der Mädchenhand, die ihnen oft Futter hinstreute, und der Hofhund begnügte sich mit einem begrüßenden Schwanzwedeln. Er war jetzt gut Freund mit Käthe, bellte sie nie an und hatte sich mit der Zeit so viel Bildung angeeignet, die gelbe Henne nunmehr auch unangefochten vor seiner Nase hinspazieren zu lassen.

Die Haustür stand weit offen, und die Magd war ausgegangen, mithin befand sich die Tante im Hause. Käthe stieg eben die Stufen hinauf, als sie im Flur den Doktor sprechen hörte. Wie festgewurzelt blieb sie stehen.

»Nein, Tante, der Lärm belästigt mich. Meine Kopfnerven machen mir augenblicklich zu schaffen,« sagte er. »Wenn ich mich für Augenblicke in den grünen Winkel hier flüchte, so will ich ausruhen; ich brauche Ruhe, Ruhe.« – War er es wirklich, der gelassene Mann, in dessen Stimme so viel nervöse Ungeduld, so viel zitternde Pein mitsprach? »Es ist ein Opfer, das ich von dir verlange, Tante, ich weiß es, aber trotz alledem bitte ich dich dringend, diese Unterrichtsstunden für die wenigen Monate, die ich noch hier sein werde, auszusetzen. Für diese Zeit will ich herzlich gern ein Zimmer in der Stadt mieten und eine Lehrerin bezahlen, damit deinen Schülerinnen kein Nachteil erwächst –«

»Um Gott, Leo, du brauchst ja nur zu wünschen,« unterbrach ihn die Tante erschrocken. »Wie konnte ich denn ahnen, daß dir dieser Verkehr plötzlich so unangenehm ist? Nicht ein Laut mehr soll dich stören – dafür laß mich sorgen! Mich dauert nur eins dabei – Käthe –«

»Immer dieses Mädchen!« brauste der Doktor auf, als verliere er bei dieser Klage den letzten Rest von Geduld und Selbstbeherrschung. »An mich denkst du nicht.«

»Aber ich bitte dich, Leo, was ficht dich an? Ich glaube gar, du bist eifersüchtig auf die Liebe und Zuneigung deiner alten Tante,« rief die alte Frau, erstaunt und ungläubig lachend.

Er schwieg; das junge Mädchen draußen hörte, wie er einige Schritte nach der Haustür machte.

»Meine arme Käthe! Es ist völlig undenkbar, daß ihr geräuschlos wohltuendes Walten, ihre ganze Erscheinung irgendeinem Menschen auf Gottes Erde unangenehm sein könnte,« sagte die Tante, leisen Trittes ihm nachgehend. »Ich habe noch kein Mädchen gesehen, das so prächtig Kindesunschuld und Frauenwürde, Verstandesschärfe und Innigkeit des Gemütes in sich vereinte. Das zieht mich unwiderstehlich zu ihr hin, und ich meine, so ungerecht dürfte auch mein Leo nicht sein, daß er neben seiner vergötterten Braut kein anderes weibliches Wesen gelten ließe.«

Käthe schrak zusammen – der Doktor brach in ein krampfhaftes Gelächter aus, so laut und erschütternd, daß sie sich davor entsetzte. Unwillkürlich hob sie den Fuß zur Flucht – nein, sie blieb. Das spöttische Lachen galt ihr – sie wollte wissen, wie der Doktor die gute Meinung der Tante, die ihr allerdings die Glut der Beschämung in die Wangen trieb, widerlegen werde.

»Du bist sonst eine so kluge, klarsehende Frau, Tante, aber hier läßt dich dein Scharfblick kläglich im Stich,« sagte er, das Lachen in jäher, unheimlicher Weise abbrechend. »Immerhin! Ich werde selbstverständlich deine Ansichten nicht anfechten – wer vermag sich denn selbst in das Gesicht zu schlagen? Ich habe dich nur um eins zu bitten: daß unser Zusammenleben bis zu meiner Abreise sich genau wieder so gestalte, wie es vordem war – wir wollen allein sein. Du hast dich früher ohne die Gesellschaft junger Damen zufrieden gefühlt; suche dich für die wenigen Monate meines Hierseins wieder in die ungestörte Einsamkeit zu finden – ich will niemand hier aus und ein gehen sehen.«

»Also auch Käthe nicht?«

Ein starkes Aufknirschen des über die Steinfliesen hingestreuten Sandes drinnen ließ das junge Mädchen vermuten, daß der Doktor ungeduldig mit dem Fuß auftrete. »Tante, soll ich denn durchaus gezwungen werden –« rief er erbittert; seine Stimme war kaum zu erkennen.

»Behüte Gott – alles, wie du willst, Leo!« unterbrach ihn die alte Frau erschrocken und doch ihr schmerzliches Bedauern nicht verbergend. »Ich werde mich bemühen, die Verbannung so schonend wie möglich einzuleiten, damit sie nicht allzu wehe tut … Aber, mein Himmel, wie erregt du bist, Leo, und wie fieberisch deine Hand brennt! Du bist krank. Du opferst dich für deine Patienten. Nun, wenigstens hier in deinem Heim werde ich dir Ruhe verschaffen – darauf verlasse dich! Darf ich dir ein Glas Limonade mischen?«

Er dankte mit beruhigter Stimme und verabschiedete sich. Käthe hörte, wie die Tante nach der Küche ging, wahrscheinlich, um das verspätete Vesperbrot herzurichten. Gleich darauf trat der Doktor unter die Haustür.


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