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22.

Seitdem waren mehr als drei Monate verstrichen. Nie hatte sich Käthe so eifrig in ihr Musikstudium versenkt wie in dieser Zeit, aber auch ihr übriges Wesen hatte sich auszudehnen und zu vertiefen gewußt mit jener fieberhaften Hast, die in angestrengter Arbeit und Tätigkeit – Vergessen sucht. Henriette hatte eine Art Tagebuch für sie angefangen, das sie allwöchentlich schickte. Diese Blätter erzählten ihr, wie sich seit ihrer Abreise das Leben in der Villa weiterspann. Sie las nur zwischen den Zeilen, daß die Präsidentin förmlich neu auflebe, aber auch anmaßender und herrischer als je im Hause walte; unumwundener dagegen sprach Henriette aus, daß die Großmama Käthes plötzlichen Entschluß »um des dabei an den Tag gelegten Taktes willen« geradezu in den Himmel hebe, während Flora die Achseln zucke und von Backfischstreichen spreche. Der Kommerzienrat hatte mehrere Tage mit ihr gegrollt, ihrer unbefugten Einmischung wegen. Er war an jenem Abend, wo ihm Henriette in einer Ecke des Musiksalons leise das Geschehene mitgeteilt, blaß geworden vor Schreck und Verdruß, und nur die Anwesenheit der Gäste hatte einen heftigen Familienauftritt verhindert, der jedenfalls um so erbitterter ausgefallen wäre, als auch Flora den ganzen Abend sehr verstimmt und gereizt gewesen war – der Bräutigam hatte sich mit Berufspflichten entschuldigt und war in der Geburtstagsgesellschaft nicht erschienen.

Der Kommerzienrat hatte gleich zu Anfang an Käthe und die Doktorin geschrieben und »behufs einer Aussprache« seinen Besuch in Dresden für den Juni angekündigt; allein das Tagebuch teilte in jener Zeit mit, daß häufiger als je Depeschen in der Villa einliefen, daß der Kommerzienrat weit mehr in Berlin als daheim und mit Geschäften vollständig überbürdet sei. Der Besuch unterblieb; nur selten kam ein flüchtiger Geschäftsbrief von der Hand des Vormundes, und die letzte Geldsendung hatte – was bisher nie geschehen – der Buchhalter abgeschickt.

Käthe atmete auf; der gefürchtete Konflikt war ohne allen Zweifel beseitigt. Der Herr Vormund hatte aus ihrem Antwortschreiben die Überzeugung gewonnen, daß er niemals hoffen dürfe, und sich vernünftigerweise beschieden. Das junge Mädchen hätte nun als Pflegerin zurückkehren können, dem aber widersetzte sich die Doktorin energisch, weil Käthe, wie sie oft tadelnd und bekümmert aussprach, so sehr verändert, mit dem Verlust ihres jugendlichen Frohsinns und ihrer frischblühenden Gesichtsfarbe heimgekommen sei. Zudem hatte die Baronin Steiner in der Tat mit ihrem Gefolge für zwei Monate Einzug in der Villa gehalten und sich dermaßen ausgebreitet, daß kein Winkelchen im ersten Stockwerk unbesetzt geblieben war.

Käthe selbst schauderte bei dem Gedanken an eine Rückkehr, solange die Übersiedelung nach L.....g nicht stattgefunden hatte. Sie wußte nur zu gut, daß sie jetzt nicht mehr monatelang mit äußerer Ruhe inmitten der dortigen Verhältnisse ausharren könne – bedurfte es doch selbst in Dresden all ihrer Kraft, um nicht zu zeigen, daß sie ihren inneren Frieden verloren habe, daß sie fast übermenschlich ringe mit der süßen, zwingenden Gewalt, die sich ihrer Seele bemächtigt hatte, und welche die Menschen Sünde nannten. Henriette hatte ja auch noch nicht »gerufen«, trotz ihrer leidenschaftlichen Klagen und ihrer Sehnsucht nach »der starken, besonnenen Schwester«; sie sprach im Gegenteil mit begeistertem Dank von der Aufopferung, mit der sie von seiten der Tante einstweilen gepflegt und verhätschelt werde. Ihr Tagebuch war eigentlich auch nur eine fortlaufende Schilderung, in der zwei Menschen die Hauptrolle spielten, der Doktor und die Tante. Alles, was sich im Hause am Flusse ereignete, wurde getreulich mitgeteilt, und war es auch nur der jähe Tod der gelben Henne, die endlich doch ein tückisches Zuschnappen des grimmen Feindes vor der Hundehütte aus der Welt befördert hatte, oder der außergewöhnliche Traubenreichtum, der in diesem Jahre am Weinspalier hing; selbst ein neu angeschafftes, silberweißes Kätzchen, »das sich auf dem Sofa der Tante breit mache«, wurde als Merkwürdigkeit aufgezählt – das waren die harmlosen Momente, sonst aber trug das Tagebuch eine düstere Färbung. Manche Stellen lasen sich, als müßten die Briefblätter noch tränenfeucht sein, andere wieder so leidenschaftlich fortreißend, als sei aus den schreibenden Fingern Feuer in die Feder geströmt. Über das bräutliche Verhältnis zwischen Flora und dem Doktor fiel auch hier kein Wort, wohl aber wurde angstvoll geklagt, daß der letztere infolge seiner aufreibenden ärztlichen Tätigkeit sich auffallend verändere; nur den Kranken gegenüber sei er mild und geduldig, im geselligen Umgange dagegen verfinstert, wortkarg wie nie und sichtlich reizbar; in seiner äußeren Erscheinung verfalle er zum Befremden aller.

So war allmählich der Zeitpunkt herangerückt, auf den man die Hochzeit festgesetzt hatte. Flora hatte es unterlassen, die ferne Stiefschwester einzuladen; sie habe den Kopf voll – schrieb Henriette – eine Reihe von Festlichkeiten, die ihr zu Ehren noch gegeben würden, lasse sie kaum noch zu Atem kommen; dazu sei sie launenhaft wie immer, auch bezüglich ihrer Aussteuer und der Vermählungsfeierlichkeiten – es werde fortwährend noch ausgewählt und geändert zur Verzweiflung der Lieferanten. Henriette befand sich in unbeschreiblicher Aufregung; sie betonte wiederholt, daß sie in dem Hochzeitstrubel um keinen Preis allein bleiben wolle. Die Tante Diakonus werde ihr in »den entsetzlichen Tagen« voraussichtlich keine Stütze sein, da sie selbst schon unter dem Trennungsweh leide und oft auffällig verstimmt und bewegt sei. Diese Klagen steigerten sich von Blatt zu Blatt, bis eines Abends, wenige Tage vor der Hochzeit, ein Telegramm einlief, welches lautete: »Komm sofort! Ich bin auch körperlich sehr elend!«

Da galt kein Zögern; auch die Doktorin war damit einverstanden, daß Käthe gehe – und das junge Mädchen selbst? Ein Nervenschauer um den anderen durchschüttelte sie aus Angst vor dem Kommenden, und dabei jubelte sie auf in unbeschreiblicher Seligkeit, daß sie den noch einmal sehen sollte, der – ihr Schwager wurde.

Da stand sie nun an einem Septembermorgen wieder in der Schloßmühlenstube. Sie war mit dem Nachtzuge gefahren und eben angekommen. Bei ihrer Abfahrt hatte sie Franz telegraphisch ihre Ankunft mitgeteilt, und liebevoller hätten Mutterhände ihre Aufnahme nicht vorbereiten können, als die alte Suse getan hatte. Die große, von dem durch die Kastanienwipfel hereinfallenden grünen Dämmerlicht angehauchte Stube war erfüllt von den Düften der Heliotropen, Rosen und Reseden, die auf den Fenstersimsen standen; saubere Decken lagen auf allen Tischen; im Alkoven lockte ein blütenweißes Bett, und auf dem großen Eichentisch mit den plump ausgespreizten Füßen stand die wohlbekannte kupferne Kohlenpfanne, mit ihrer Glut den Kaffee warm erhaltend. Sogar der selbstgebackene Kuchen war noch fertig geworden und stand, zuckerbestreut, in bräunlicher Schöne neben der vergoldeten Tasse, dem Prachtstück aus dem Glasschrank der seligen Schloßmüllerin.

Nun schütterten die schneeweiß gescheuerten Dielen wieder unter den Füßen des jungen Mädchens, und durch die offenen Fenster kam das Rucksen der Tauben und das Tosen des fernen Wehrs – sie war daheim. Von hier aus wollte sie die kranke Schwester besuchen und um keinen Preis die Gastfreundschaft im Hause des Kommerzienrates annehmen, mochte auch die Frau Präsidentin die Nase rümpfen über den anstößigen Verkehr zwischen Villa und Mühle.

Käthe war in einer seltsamen Stimmung. Furcht vor dem ersten Wiedersehen in der Villa, schmerzliche Sehnsucht nach dem Hause am Flusse, dessen Wetterfahnen sie mit hochklopfendem Herzen von dem südlichen Eckfenster aus erblickte und das sie doch nicht betreten durfte, leidenschaftliche Ungeduld, der hohen Gestalt, wenn auch nur noch ein einziges Mal, zu begegnen, die sie hier in der Mühle zum erstenmal gesehen und – das sagte sie sich ja täglich unter tausend Schmerzen – seit jenem Augenblick geliebt hatte; das alles wogte in ihr, und daneben schlich eine unerklärliche Bangigkeit und Beklemmung. Schon seit Monaten füllten die Sensationsnachrichten von dem Zusammenbrechen des Gründungsschwindels in Wien und später in der preußischen Hauptstadt die Spalten der Zeitungen. An allen öffentlichen Orten, in allen Salons war der welterschütternde Einsturz dieses modernen Turmes zu Babel das Tagesgespräch, und selbst in dem kleinen ästhetischen Zirkel der Doktorin hatte man die Ereignisse wiederholt erörtert. Während der Eisenbahnfahrt von Dresden nach M. waren sie auch das ununterbrochene Gesprächsthema der Mitreisenden gewesen – man hatte haarsträubende Dinge erzählt und noch schrecklichere prophezeit, und nun sah Käthe mit eigenen Augen eine der Folgen dieser Kalamität. In das Gelärme der Tauben und das Rauschen des Wehres hinein klang das laute Durcheinander von Menschenstimmen, und schräg hinter der letzten Kastanie hervor konnte das junge Mädchen den großen Kiesplatz vor der Spinnerei überblicken; er wimmelte, genau wie an jenem Tage des Attentates, von Arbeitern, die bald mit allen Zeichen der Niedergeschlagenheit, bald heftig streitend und drohend untereinander verkehrten – die Aktiengesellschaft, die die Spinnerei von dem Kommerzienrat gekauft, hatte Bankrott gemacht; eben war die Gerichtskommission erschienen, und die Leute stoben im ersten Schrecken wie Spreu auseinander.

»Ja, ja, so geht's,« sagte Franz, der eben Käthes kleinen Koffer heraufgetragen hatte. »Den Leuten war's zu wohl und sie meinten, es gehe ihnen noch lange nicht gut genug; nun gehen sie von einer Hand in die andere und kommen mit der Zeit vom Pferde auf den Esel. 's ist aber auch eine schlimme Zeit, eine heillose Zeit. Jeder will sein Geld mit Sünden verdienen und womöglich die Dukaten von der Straße auflesen, und man kann's den Kleinen kaum noch verdenken, die Großen machen's ja nicht besser.«

»Wohl dem, der sein Schäfchen ins trockene bringt,« fuhr Franz, gemütlich auf die Tasche klopfend, fort. »Ehrlich verdient und fein stet und redlich vermehrt, das ist mein Wahlspruch; dabei kann man ruhig schlafen. Wer sich auf das Spekulieren nicht versteht, der soll's bleiben lassen. Da ist der Kommerzienrat drüben – den ficht freilich die ganze Geschichte nicht an; der sitzt bombenfest, weil er ein kluger Kopf ist und eine feine Nase hat.« Er hob mit wichtiger Anerkennung den Zeigefinger. »Kam gestern erst wieder von Berlin, stramm wie immer. Ich hatte gerade Mehl an die Bahn gefahren – hui, wie da seine zwei Schwarzen, seine Prachtpferde, vorbeisausten. So versteht's keiner. Die Leute meinten, er hätte gewiß wieder einmal gehörig eingestrichen, so munter sah er aus und so recht wie einer, der über Millionen verfügt. Er war diesmal lange fort und wär' wohl auch gestern abend nicht gekommen, wenn sie heute nicht Polterabend drüben feierten.«

Polterabend! und übermorgen war die Hochzeit, und gleich nach der Hochzeit sollte das junge Paar abreisen. Käthe wußte das ja; sie hatte es oft genug in Henriettens Tagebuch gelesen, und doch durchfuhr sie ein jähes, schmerzvolles Erschrecken, als es Menschenlippen so selbstverständlich aussprachen.

»Es soll hoch hergehen heute abend,« sagte Suse, indem sie der jungen Herrin eine Tasse Kaffee reichte. »Ich sprach gestern dem Herrn Kommerzienrat seinen Anton, der sagte, es kämen so viele Gäste, daß sie nicht Platz genug schaffen könnten. Ein Theater haben sie gebaut, und eine Menge Fräulein aus der Stadt sollen verkleidet kommen, und das Grüne zum Putzen wird wagenweise aus dem Walde geholt.«

Es schlug elf auf dem Turm der Spinnerei, als Käthe nach der Villa ging. Noch klang das verworrene Stimmengeräusch von der Fabrik her an ihr Ohr, als sie den Mühlenhof durchschritt, aber kaum war die kleine Bohlentüre in der Mauer, die das Mühlengrundstück von dem Parke trennte, hinter ihr zugefallen, als auch schon tiefe, vornehme Stille sie umfing.

Franz hatte recht: hier überkam einen das Gefühl, daß der wüste Lärm des Geldmarktes den reichen Mann und seine wohlgeborgenen Schätze nicht anfechte, daß die alles verschlingenden Unglückswogen nicht einmal bis zu seinen Sohlen hinauflecken durften. Ah, dort dehnte sich ein herrlicher Wasserspiegel aus. Er fing das Blau des wolkenlosen Morgenhimmels auf – ein riesiger Saphir von fleckenloser Reinheit! Der Teich war fertig, unglaublich rasch fertig geworden durch die massenhaft auf diesen kleinen Fleck vereinigte Menschenkraft und riesige Geldopfer. Schwäne durchfurchten die blaufunkelnde Flut, und nahe dem Ufer schwankte ein buntbewimpelter Nachen an der Kette. Als Käthe gegangen war, hatte der Park in heller Maienblüte gelegen – jetzt schien alles Grün tief dunkel wie ein altes Gemälde; über das sanfte Farbengemisch der Frühlingsblumen waren die Sonnenflammen sengend hingelaufen und hatten dafür die Blütenfackeln der Kannas, die kerzenartig aufstrebenden Gladiolen auf jedem zwischen dem Gebüsch hervortretenden Rasenspiegel angezündet.

Wie viele Hände mußten bezahlt werden, um dem Parke das Gepräge peinlicher Sauberkeit und Pflege zu bewahren! Kein abgefallenes Blättchen lag auf den Wegen; kein Grashalm bog sich über die vorgeschriebene Linie; keine verdorrte Blüte hing an den Zweigen. Und dort zwischen den köstlich schattierten Gruppen von Laubholz trat jetzt die stattliche Vorderseite des neuen Marstalls hervor; auch an ihr war ununterbrochen gearbeitet worden; ihr Emporwachsen war ein so zauberhaft rasches, als habe eine Riesenkraft das Mauerwerk mit seinen Stuckverzierungen aus der Erde getrieben. Und hier förderte in der Tat die treibende Macht, das Geld, fort und fort; hier sprang der Goldquell in unverminderter Stärke, ob auch auf der Börsenbühne die großen Brunnen verschüttet waren – nein, nicht einer der elektrischen Schläge, die die Geschäftswelt mörderisch durchzuckten, hatte seinen Lauf hierher gelenkt.

Unter der kühlen Wölbung der Lindenallee hinschreitend, kam Käthe der Villa näher und näher. Noch nie war ihr das kleine Feenschloß so aristokratisch unnahbar erschienen als in dieser tiefgoldenen Morgenbeleuchtung, mit der aufgezogenen farbenglänzenden Flagge auf seiner Plattform. – Das flatternde Willkommzeichen wogte, festlich einladend, hoch in den Lüften. Unwillkürlich legte das junge Mädchen die Hand auf das ängstlich pochende Herz – sie war nicht eingeladen, und doch kam sie. Es war ein schwerer Gang, es war ein großes Opfer der Schwesterliebe, dieses Niederkämpfen der eigenen stolzen Natur. Hinter dem Bronzegitter des unteren Balkons lief das Löwenhündchen der Präsidentin auf und ab und kläffte die Kommende wie immer feindselig an, und die Papageien im blauen Empfangszimmer begleiteten es kreischend durch die weitoffenen Glastüren.

Als Käthe unter das Portal trat, huschte eine Dame an ihr vorüber; sie hielt das Taschentuch vor das Gesicht, aber über den Spitzenbesatz hinweg streifte ein scheuer Blick aus furchtbar verweinten Augen das junge Mädchen. Käthe erkannte sie – es war die schöne, üppige, in Luxus schwelgende Frau eines Majors; die Gewähltheit ihrer Toiletten war in der Residenz sprichwörtlich geworden. Sie eilte um die Hausecke in das Dunkel des Gebüsches, jedenfalls um erst die Tränenspuren zu beseitigen, ehe sie die von Spaziergängern wimmelnden Wege betrat.

»Dem Manne bleibt auch nichts anderes übrig, als ›die Kugel vor den Kopf‹ – das Bett unter dem Leibe soll ihm genommen werden,« hörte Käthe, unter der halboffenen Tür der Pförtnerstube vorübergehend, einen Bedienten sagen. »Geschieht ihm ganz recht – was braucht denn solch ein Offizier in Papieren zu spekulieren, von denen er nicht den Pfifferling versteht! Nun kommt die Frau und heult unserem Herrn was vor, und der soll nun den Karren aus dem Moraste holen – das könnte ihm fehlen! Wenn er allen denen helfen wollte, die in den letzten Tagen dagewesen sind, da könnte er nur den Ziegenhainer in die Hand nehmen und den Staub von den Schuhen schütteln – da bliebe ihm nichts.«

Abermals ein Opfer des entsetzlichen Zusammenbruchs! Käthe schauerte in sich zusammen und stieg unbemerkt die Treppe hinauf. Im ersten Stock war es feierlich still – mechanisch schritt sie zuerst nach dem Zimmer, das sie bewohnt hatte, und öffnete die Tür. Die Baronin Steiner herrschte hier allerdings nicht mehr, aber das Zimmer war auch nicht angetan, einen anderen Gast aufzunehmen. Sämtliche Möbel waren ausgeräumt – dafür standen große, schönbehängte Tafeln die Wände entlang und trugen auf ihren Flächen eine förmliche Ausstellung von Ausstattungsgegenständen, den mit großer Absichtlichkeit aufgebauten, wahrhaft fürstlichen »Trousseau« der künftigen Professorin; in der Mitte des Zimmers aber wogte von einem Kleiderständer nieder milchweißer Atlas, umhaucht von Spitzenduft und mit Orangenblüten besteckt, und so hoch auch das Gestell war, der schwere Stoff schleppte doch noch weit über den Fußboden hin – Floras Brautanzug! Käthe drückte mit weggewandten Augen die Tür wieder zu – einige Sekunden später lag sie tieferschüttert in Henriettens Armen, die in einen so maßlosen Jubel ausbrach, als werde sie durch diese Ankunft aus namenloser Pein erlöst.

Die kranke Schwester war allein. Man habe heute im Hause keine Zeit für sie, klagte sie; der Kommerzienrat richte Flora die Hochzeit aus, und zwar mit einem beispiellosen Aufwand. Er wolle bei dieser Gelegenheit der Residenz wieder einmal zeigen, wie hoch er alle überrage, wenn er auf seinen Geldsäcken stehe – das sei nun einmal seine Schwäche … Ganz ihrer unabhängigen Art und Weise gemäß hatte sie es unterlassen, den Verwandten anzuzeigen, daß sie Käthe telegraphisch berufen habe. Das sei doch völlig überflüssig, meinte sie mit großen, erstaunten Augen auf Käthes betroffenes Kopfschütteln hin; sie habe es doch stets betont, daß die Schwester eines Tages zurückkommen werde, um sie zu pflegen – man wisse das im Hause gar nicht anders, und was ein mögliches unvorbereitetes Zusammentreffen mit dem Kommerzienrat betreffe, so möge sie ganz ruhig sein, er habe jedenfalls »eine neue Flamme« in Berlin; er sei die beiden letzten Male – vorzüglich aber gestern – ziemlich zerstreut zurückgekehrt, und habe auf Floras Neckereien hin nur schlau gelächelt und durchaus nicht geleugnet.

Käthe schwieg auf alle diese Mitteilungen; sie hatte zuletzt nur den einen Gedanken, daß es allerdings die höchste Zeit für sie gewesen sei, zurückzukehren. Sie fand die Kranke maßlos aufgeregt; der hohle, erstickende Husten schüttelte den schattenhaft abgezehrten Körper viel häufiger als früher; die Hände brannten wie Kohlen und der Atem ging so schwer, so mühsam aus und ein. Henriette hatte es bisher auch bei den heftigsten Leiden nie »zu Tränen kommen lassen« – sie hatte einen unglaublich starken Willen, heute aber waren ihre schönen Augen verweint bis zur Unkenntlichkeit. Sie verzehre sich in Angst, daß Bruck bei all seiner Liebe für Flora doch vielleicht sehr unglücklich werden würde, klagte sie, ihr Gesicht an Käthes Brust verbergend, und obgleich nie ein unvorsichtiges Wort darüber gefallen, sei sie dennoch fest überzeugt, daß die Tante genau so denke und sich gräme … Käthe wies sie mit der schneidenden Antwort zurück, daß das einzig und allein Brucks Sorge sei und bleiben müsse; niemand habe mehr Anlaß gehabt, tiefe Einblicke in Floras selbstsüchtiges Wesen zu tun, als gerade er; wenn er trotz alledem darauf bestehe, sie zu besitzen, so werde er sich auch mit seinem Schicksal abzufinden wissen, möge es fallen, wie es wolle … Henriette fuhr erschrocken empor, so rauh klang das Gesagte; es lag überhaupt etwas so bestürzt Fremdes, eine Art starrer Zurückhaltung und Abgeschlossenheit in der Erscheinung der jungen Schwester, als sei auch sie mit ihrem Schicksal fertig – nach schweren Kämpfen …


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