Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

25.

Auf diesen grauenvollen Tag folgte eine dumpfschweigende Nacht voll todesbanger, atemloser Spannung. Niemand ging zu Bette; alle Gasflammen im Hause brannten; die Dienerschaft schlich ruhelos auf den Zehen umher oder hockte flüsternd in den Ecken zusammen, und nur wenn drüben vom Turme her die Schritte eines Feuerwächters näher klangen oder eine der nach außen führenden Türen leise geöffnet wurde, fuhren alle wie elektrisiert empor und rannten hinaus in die Korridore, denn der Herr des Hauses sollte und mußte noch kommen, aber die Nacht verging und das Frührot brach durch die Fenster – und er kam nie, nie wieder.

Es war ein rosiger, den klarsten Tag verkündender Strahl, der über die Villa Baumgarten hinglitt und die zersprungenen Spiegelscheiben glitzern und flimmern machte. Er lief durch den Festsaal und ließ den Purpursamt des herabgestürzten Brautbaldachins aufleuchten; er küßte das welkende Laub der Blumengewinde und das zerknickte Geäst der umgeworfenen Treibhausbäume – welch ein Chaos! Ein einziger Stoß hatte die kostbare, aber leicht gefügte Feerie aus »Tausendundeine Nacht« in ein schauerliches Gemengsel von zahllosen Scherben und Trümmerresten zusammengeschüttet. Und alle die zierlichen, die bräutliche Freundin verherrlichenden Verse waren ungesprochen geblieben, und da, wo die goldbeflitterten Genien im Rosengewölk hatten herabschweben sollen, spielte der scharf hereinziehende Morgenwind gespenstisch mit rosa und weißen Kreppfetzen.

Vielleicht heute zum erstenmal durfte das Frühlicht in die vornehmen Räume schimmern; kein Laden war vorgelegt, kein Vorhang niedergelassen worden; selbst das prächtige Schlafzimmer auf der nordöstlichen Ecke des Erdgeschosses mit seinen korinthroten Seidenbehängen und seinem kostbar geschnitzten, von Spitzen überdeckten Bette auf hohem Trittbrett war ihm preisgegeben, und es durfte sich in den Brillanten spiegeln, die noch in den Lockenpuffen der Präsidentin verstreut lagen. Die Hand der Kammerjungfer hatte die alte Dame nicht berühren dürfen; noch schleppte ihr das gelbe Stoffkleid schwer nach, wie sie immer wieder durch die lange Zimmerreihe wankte, in der die umgeworfenen Möbel, die von den Simsen gestürzten Statuen umherlagen.

Die Schleierwolke um Hals und Kinn der alten Dame hatte sich gelöst, und der sonst so sorgfältig verhüllte, fleischlose Unterkiefer hob sich welk, in scharfer Linie von dem vertrockneten Halse. Ja, sie war hochbetagt, und für den ausgedörrten Körper stand die Lebenssonne tief, tief im Niedergehen – und dennoch wälzte diese wankende Greisin in fieberhafter Angst den Gedanken unablässig durch den Kopf: »Wer wird Moritz beerben?« Sie selbst hatte nicht den leisesten Anspruch auf die Hinterlassenschaft des so jäh Hingerafften – nicht einmal auf das Bett, in dem sie schlief, nicht auf das Geschirr, aus dem sie aß. Der Kommerzienrat war früh verwaist; so viel sie wußte, gab es keine Verwandten seines Namens mehr, aber hatte er nicht öfter Unterstützung an eine arme Schwester seiner verstorbenen Mutter an den Rhein geschickt? Sollte sie die Erbin sein? Der Gedanke war zum Rasendwerden. Die Frau eines gewöhnlichen Schreibers, eine bedürftige Weißnäherin, nahm Besitz von den kolossalen Reichtümern, und die Frau Präsidentin Urach, die sich schon lange gar nicht mehr vorstellen konnte, wie man ohne seidengepolsterten Wagen von einem Ort zum anderen kommen, wie man ohne Koch und aufwartende Diener anständig essen und in einem Bette ohne Seidenhimmel schlafen könne, sie mußte ihre alten, auf den Dachboden gestellten Möbel wieder ausklopfen und in eine enge Mietwohnung schaffen lassen, wo es keinen Marstall voll dienstbereiter Pferde, keine Bedienung und keine fürstlich reiche Küche mehr gab – denn sie und ihre beiden Enkelinnen waren ja nicht blutsverwandt mit dem Millionär, der ohne Testament aus der Welt gegangen war.

Die aus der Umgegend eingeladenen Herren waren bis nach Mitternacht um die alte Dame versammelt geblieben, und wenn man auch diesen Punkt nicht berührt hatte, so war doch schon in die hochgehenden Wogen der schreckensvollen Bestürzung da und dort ein scheues Wort gefallen über die entsetzliche Verwirrung, die der Katastrophe bezüglich der Vermögensverhältnisse des Verunglückten auf dem Fuße folgen müsse, da der Kommerzienrat seine Dokumentenschränke und seine Bücher in dem Turme verwahrt gehabt habe, und von alledem nicht ein einziges versprengtes Papierblatt gefunden worden sei.

Aber mochten auch da drüben Unsummen in die Luft geflogen sein – stand sie, die alte Frau, nicht hier auf einem Grund und Boden, der nach vielen Tausenden geschätzt wurde? War nicht unter ihren Füßen, in dem festen Steingewölbe, die Silberkammer? Standen nicht Pferde der edelsten Rassen drüben in den Ställen? Und welcher unermeßliche Wert steckte in der Gemäldesammlung berühmter Meister! Das alles genügte, um der Frau Präsidentin das schöne, luxuriöse Leben einer reichen Frau bis an ihr Ende zu sichern, wenn die hochgeborene Dame den Beweis zu erbringen vermochte, daß das Blut des Seilersohnes auch in ihren Adern fließe.

Und auch von der, die über ihr in Henriettens Wohnzimmer lag, von der Enkelin dos Schloßmüllers, war gesprochen worden – man wußte, daß ihr ganzes großes Vermögen in dem Turme eingeschlossen war. Die Präsidentin in ihrer nervösen Angst und Unruhe hatte nur mit halbem Ohre hingehört – was ging sie das Wuchergeld des ehemaligen Müllerknechtes an! Flora dagegen hatte bei ihrer merkwürdigen Sammlung und sachlichen Ruhe, die sie angesichts des grauenhaften Ereignisses behauptete, die etwa möglichen Folgen bedacht, die die völlige Vernichtung der Dokumente für ihre Stiefschwester herbeiführen konnte.

Es hatte etwas Zornmütiges, Verbissenes in ihrem schönen, bleichen Römergesichte gelegen, als sie gegen zehn Uhr aus dem ersten Stockwerk herabgekommen war. Sie, der gefeierte Mittelpunkt der geselligen Kreise, das schöne Mädchen, dessen geistiges Übergewicht, dessen scharfes Urteil für alle Bekannten maßgebend war, sie hatte zu ihrer tiefsten Entrüstung die klägliche Rolle einer Überflüssigen droben in dem »sogenannten« Krankenzimmer spielen müssen. Außer Henriette, die, auf einem Sofa liegend, um keinen Preis Käthe verlassen wollte, war auch die Tante Diakonus als Pflegerin erschienen. Sie hatte zugleich ein Unterkommen in der Villa suchen müssen, denn auf dem Hause am Flusse, das ja der Unglücksstätte am nächsten lag, waren die Schornsteine eingestürzt; an der südlichen Hausmauer zeigten sich bedenkliche Risse und Sprünge; die Fenster lagen in Trümmern, und keine der Türen paßte mehr in Schloß und Angel. – Die neueingezogene Dame war mit der Köchin in der Schloßmühle bei Suse untergebracht worden, und für die Nacht hatte der Doktor zwei Wächter an dem verlassenen Hause aufgestellt.

Am Bette der Verletzten war kein Platz für Flora gewesen. Zu Häupten hatte die Tante, entsetzlich verweint, in einem Lehnstuhl gesessen, und ihr gegenüber der Doktor. »Die Alte« hatte sich gebärdet, als sei Käthes ungefährliche Stirnwunde, ihre anhaltende Betäubung das Allerbeklagenswerteste, das der unheilvolle Tag überhaupt gebracht habe, und der Doktor war nicht von seinem Platz gewichen – er hatte Käthes Hand nur aus der seinen gelassen, wenn der Umschlag auf ihrer Stirn erneuert werden mußte. Ein solch besorgnisvolles Gebaren um »das robuste, lange Mädchen mit den Nerven und Gliedern der ehemaligen Holzhackerstochter« widerspruchslos mit anzusehen, dazu hatte denn doch für Flora ein vollgerütteltes Maß Geduld und Selbstüberwindung gehört.

Des ewigen bangen Geflüsters müde und einsehend, daß sich heute mit all den verwirrten Menschen kein vernünftiges Wort reden lasse, war die schöne Braut endlich hinabgestiegen, allein und tief ergrimmt – der Doktor hatte sie nicht einmal bis zur Zimmertür, geschweige denn die Treppe hinabgeleitet. Zu Bette war sie selbstverständlich auch nicht gegangen; sie hatte das verunglückte Polterabendkleid abgestreift, ihre schmiegsamen Glieder in den weißen Kaschmirschlafrock von griechischem Zuschnitte gehüllt und sich gegen Morgen ein wenig auf das rote Ruhebett hingestreckt.

Das ehemalige Studierzimmer ließ an Öde und Unwohnlichkeit nichts mehr zu wünschen übrig. Der schwarze Schreibtisch stand abgeräumt und verstaubt in seiner Fensterecke; von den Regalen waren sämtliche Bücher genommen und lagen verpackt in großen Kisten inmitten des großen Zimmers. Die Säulenstücke samt Büsten rollten umgestürzt auf der Erde; darüber her warf die qualmende, von unsicherer Dienerhand angezündete Hängelampe einen häßlich ungewissen Schein, und nun, als die Morgenluft kräftig durch die Fensterscheiben zog und der Tag mit seinem hellen Lichte hereinbrach, schaukelte sie leise droben an ihrer Kette in bläßlichem Rot, als glimme der Ruinenbrand in ihrer weißen Schale nach.

Jetzt, mit Tagesanbruch, hatte Flora hinaufgeschickt und den Doktor zu sich bitten lassen – sie hörte ihn sicheren, militärisch festen Schrittes durch den Gang kommen. Mit eiligen Händen die verschobenen Stirnlöckchen unter den Spitzen des Morgenhäubchens noch einmal zurechtzupfend, drückte sie das weiße Marmorgesicht tiefer in die roten Polster und sah blinzelnd nach der Tür, durch die er eintreten mußte.

Er schritt über die Schwelle. Sie hatte ihn noch nie so gesehen, und deshalb erhob sie sich unwillkürlich, als trete ein fremder Mann herein.

»Ich fühle mich unwohl, Leo,« sagte sie unsicher und ohne den Blick des Erstaunens von dem Gesichte wegzuwenden, das bleich, überwacht und dennoch wie von einem inneren Lichte belebt und durchleuchtet, plötzlich einen so völlig veränderten Ausdruck angenommen hatte. »Mein Kopf brennt – der Schrecken und durchnäßte Füße haben mir jedenfalls ein Fieber zugezogen.« Sie setzte das stockend hinzu, während seine Augen kalt prüfend mit der beobachtenden Ruhe des Arztes über ihre Züge hinstreiften. Dieser eine Blick machte ihr das Blut sieden.

»Nimm dich in acht, Bruck!« sagte sie mit völlig beherrschter Stimme, aber ihr Busen wogte unter gepreßten Atemzügen und die schöngeschwungenen Brauen hoben sich, so daß zwei strenge, tiefe Querfalten die weiße Stirn durchschnitten. »Ich ertrage es nun schon monatelang geduldig, daß deine Praxis die Geliebte ist, der ich mich unterordnen muß.« Sie zuckte die Achseln. »Ich sehe ein, daß das mein Schicksal bleiben wird, und denke groß genug, um mich darüber hinwegzusetzen; denn diese Hingebung an seinen Beruf macht den Mann bedeutend, dessen Namen ich tragen werde.« Bei diesen Worten wandte sie den hochgehobenen Kopf weg, als überfliege ihr geistiger Blick die weite Welt, die sein berühmter Name erfüllte. So entging ihr die jäh emporlodernde Flammenglut auf seinen Wangen. »Aber ich verwahre mich entschieden gegen jede Zurücksetzung, sobald ich selbst deinen ärztlichen Rat brauche,« fuhr sie fort. »Wir alle haben unter dem furchtbaren Ereignis zu leiden gehabt – ich armes Opfer mußte bei allem Schrecken noch die halb wahnwitzige Großmama und Henriette in ihrem trostlosen Zustande unter die Flügel nehmen – eine nicht zu beschreibende Aufgabe. Und doch ist es dir bis zu dieser Stunde nicht eingefallen, auch nur einmal zu fragen: ›Wie trägst denn du das Unglück?‹«

»Ich habe nicht gefragt, weil ich weiß, daß bei dir dergleichen seelische Eindrücke durch den Verstand kontrolliert werden und weil ich auf den ersten Blick hin sehe, wie wenig dein körperliches Befinden in Wahrheit beeinträchtigt ist.«

Sie horchte befremdet auf den Ton seiner Stimme – er sollte gelassen wie immer klingen, und doch bebte er hörbar, wie infolge ungestümer Herzschläge.

»Was deine zweite Behauptung betrifft, so irrst du,« sagte sie nach einem augenblicklichen Schweigen; »ich habe in der Tat nervöses Klopfen an den Schläfen; bezüglich der ersten aber magst du recht haben. Ich suche mich jedem Ereignisse gegenüber – gleichviel welchem – stets so rasch wie möglich zu sammeln, um es mit klarem Blick übersehen zu können. Du scheinst diese meine Taktik zu mißbilligen, wie ich aus deinem seltsamen Tone entnehme, und doch hast du gerade heute alle Ursache, sie zu preisen. Ich habe mich nie überreden lassen, mit meinen vom Papa geerbten soliden Papieren zu spekulieren – hätte ich mithin nicht auch bei überschwenglichen Glücksfällen den Kopf oben behalten, dann stände ich heute hier vor dir mit leeren Händen – meine Mitgift wäre verpufft, wie das unermeßliche Papiervermögen, das gestern in alle Lüfte geflogen ist. Ja, sieh mich nur scheu an, Bruck!« sie dämpfte ihre Stimme. »Ich lasse mich nicht irreführen und nenne die Dinge beim Namen. Die Großmama rennt drüben auf und ab und ringt die Hände, daß der riesige Besitz Fremden zufalle; unsere lieben Gäste haben die halbe Nacht hindurch den reichen Mann beklagt und beweint, der ein Schoßkind des Glückes gewesen sei, den die boshafte Ironie des Schicksals in so tragischer Weise mitten aus seinem Erdenhimmel gerissen habe – ich aber sage: der theatralische Abgang war mittelmäßig in Szene gesetzt; in den Kulissen ist eine Lücke geblieben, durch die man der Wirklichkeit auf den Leib gehen wird. In Kürze, vielleicht in den nächsten Tagen schon, werden die Gerichte festgestellt haben, daß Römer anfangs vielleicht nur ein sehr leichtsinniger Spekulant, schließlich aber – ein Schurke gewesen ist.«

Eine einschneidendere Wandlung der Dinge ließ sich nicht denken, als die schöne Dame in diesem Augenblicke zur Geltung brachte. Sie stand in ihrem weißen Iphigeniagewande, den roten Teppich unter den Füßen, die schwebende Hängelampe über der Stirn, genau auf derselben Stelle, wo sie im Dezember gegenüber dem Kommerzienrate die ärztliche Wirksamkeit ihres Verlobten gebrandmarkt und gesagt hatte: »Ich dulde nichts Totgeschwiegenes in meiner Seele.«

Flora hatte recht; sie nannte allerdings die Dinge beim Namen – sie sprach das aus, was der Mann da vor ihr in seinem Innern nicht leugnete, was ihn seit gestern in eine namenlose Seelenpein versetzt hatte, aber daß der fein geschnittene, zarte Frauenmund sich vor den nacktesten Ausdrücken nicht scheute, um den Scharfsinn, »der sich nicht irreführen lasse,« an den Tag zu legen – das war wohl geeignet, einen Sturm von Unwillen in einer feinfühlenden Menschenseele hervorzurufen.

»Ach, wie ich sehe, habe ich heute das Unglück, dir in allem, was ich sage, zu mißfallen,« hob sie nach einem sekundenlangen Verstummen halb spöttisch, halb schmollend wieder an und ging ihm um einige Schritte nach – er hatte sich mit unverhohlener Entrüstung abgewendet und war schweigend in die Fensterecke getreten. »Möglich, daß mein gerechtes Urteil ein wenig zu drastisch ausgesprochen war; vielleicht hätte ich auch, dankbar für manche kleine Annehmlichkeit, die mir Römer hier und da verschafft hat, weniger wahr und aufrichtig sein sollen,« – sie zog die Schultern und die Brauen empor – »aber ich bin nun einmal eine geschworene Feindin aller schwächlichen Bemäntelung und habe dabei auch alle Ursache, empört zu sein. Meine Schwester Henriette, mit deren Erbteil Römer spekuliert hat, wird mit dem Zusammensturze bettelarm, und Käthe? – Sei versichert, daß ihr von ihrem ganzen ungeheuren Vermögen nicht ein Papierschnitzel bleibt!«

»Desto besser!« kam es wie ein Hauch von den Männerlippen, die so jünglingshaft rot und keusch unter dem vollen Barte schimmerten und in diesem Augenblick sanft zu lächeln schienen.

So schwach die zwei Worte auch geklungen hatten, Floras Ohr hatte sie doch aufgefangen. »Desto besser?« fragte sie erstaunt und schlug, halb und halb lachend, die Hände zusammen. »Sehr angenehm ist mir unsere Jüngste allerdings auch nicht, aber was hat sie denn verbrochen, daß du ihr Unglück in so befremdlicher Weise aufnimmst?«

Er biß sich wie in innerem Kampfe heftig auf die Unterlippe und preßte die Stirn an das Fensterkreuz; sie sah nachsinnend neben ihm weg, hinaus in den Garten, wo eben der goldene Morgenstrahl das weiße Haupt der steinernen Brunnennymphe erreichte.

»So schlimm wie Henriette ergeht es Käthe allerdings nicht – die Schloßmühle bleibt ihr, und die mag schon ein hübsches Stück Geldes wert sein,« setzte sie nach einer Pause hinzu. »Dorthin kann sie sich retten, wenn hier alles zusammenbricht, und auch für unsere arme Brustkranke wüßte ich keinen besseren Zufluchtsort; beide Schwestern lieben sich ja und würden sich gewiß vertragen. Es wird uns auch nichts anderes übrig bleiben; die Großmama mit ihrem schmalen Einkommen kann unmöglich für Henriette sorgen, und dir werde ich selbstverständlich nie zumuten, die kranke Schwester in unsere junge Häuslichkeit mitzunehmen.« Sie schlang plötzlich ihren Arm in den seinigen und sah verführerisch zärtlich zu ihm auf. »Ach Leo, wie will ich Gott danken, wenn wir morgen im Wagen sitzen werden, all das Schreckliche, das nun hier erfolgen muß, im Rücken –«

Mit einer leidenschaftlichen Gebärde, mit einem Ingrimm, wie sie ihn noch nie in diesem stillen, ernsten Männerantlitz gesehen, riß er sich von ihr los. »Möchtest du wirklich alle im Stiche lassen, die Armen, die in den nächsten Tagen rat- und hilflos inmitten der schrecklichen Schicksalschläge dastehen werden?« rief er wie außer sich. »Geh, wohin du willst – ich bleibe!«

»Leo!« schrie sie auf – dann stand sie einen Augenblick sprachlos und rang mit einer unbeschreiblichen Erbitterung. Sie legte die geballte Faust auf das Herz, als habe sie einen Dolchstoß erhalten. »Du hast gewiß die Tragweite deiner allzu raschen Worte selbst nicht ermessen,« sagte sie endlich klanglos und gepreßt; »ich will sie deshalb nur insoweit gehört haben, als sie eine Bemerkung meinerseits nötig machen: wenn wir nicht morgen, bevor der Ausbruch erfolgt, unsere Reise antreten – und niemand wird es uns verargen, daß wir das nun einmal Vorbereitete in aller Stille ausführen – dann muß unsere Verbindung überhaupt hinausgeschoben werden.«

Er schwieg und verharrte, wie zu Stein geworden, in seiner abgewendeten Stellung, und diese wortlose Unbeweglichkeit reizte sie sichtlich; ihr ganzes leidenschaftliches Naturell funkelte in den großen grauen Augen.

»Ich habe dir vorhin erklärt, daß ich zeitlebens gutwillig deiner Praxis, der Liebe zu deinem Berufe nachstehen will,« setzte sie dringender hinzu. »Nie aber werde ich mit meinen Interessen anderen Frauen weichen – das merke dir, Leo! Ich kann nun und nimmer einsehen, weshalb ich der Großmama und meiner Schwestern wegen den furchtbaren Zusammensturz hier mit durchkämpfen soll, da mir doch das Recht zusteht, mich in die ruhige, schützende Häuslichkeit zu flüchten, die du mir zu geben gelobt hast; ein solches Opfer solltest du mir gar nicht zumuten. Liegt es in meiner Macht, etwas an der Sachlage zu ändern? Ganz und gar nicht – wozu dann die nutzlose Aufregung, in die du mich geflissentlich stürzest? Soll ich durchaus das Vergnügen haben, auch ein Gegenstand des öffentlichen Mitleids zu sein? Eher gehe ich stehenden Fußes von hier fort – ich will nicht, daß man mit den Fingern auf mich zeige.«

Sie durchmaß aufgeregt das Zimmer. »Du hast mir gegenüber für dein Bleiben hier nicht die leiseste Entschuldigung,« hob sie, fern von ihm stehenbleibend, mit finster zusammengezogenen Brauen wieder an, nachdem sie vergeblich auf einen Laut von seinen Lippen gewartet hatte. »Nicht einmal auf die Kranken im ersten Stock kannst du dich berufen. Henriette hättest du sowieso ihrem Schicksale überlassen müssen, und was Käthe betrifft, so wirst du mich nicht überzeugen, daß die Stirnschramme, die du selbst für vollkommen ungefährlich erklärt hast, deine ganze ärztliche Kunst und Hilfe erheische. Ehrlich gestanden, ich habe in dieser Nacht das Lachen verbeißen müssen über dein und der Tante Gebaren. Wenn Henriette über die paar vergossenen Blutstropfen kindische Tränen weint, so mag das hingehen – sie ist krank und nervengereizt – aber daß du dich gebärdetest, als sei unsere Jüngste, dieser derbe, urgesunde Holzhackersproß, aus Duft und Schnee zusammengesetzt –« Unwillkürlich verstummte sie vor Leos Aussehen. Er hatte sich ihr zugewendet mit drohend gehobenem Finger, mit einer nicht mehr zu bezwingenden Aufregung in den Zügen.

Sie lachte zornig auf. »Glaubst du, ich fürchte mich? Ich habe deiner sehr unpassenden Handbewegung eine ganz andere entgegenzusetzen! Hüte dich – noch ist das ›Ja‹ am Altare nicht gesprochen; noch liegt es in meiner Hand, eine Wendung herbeizuführen, die dir schwerlich gefallen dürfte. Und nun gerade wiederhole ich, daß mich dein gestriges ärztliches Tun und Treiben um Käthe schließlich angewidert hat. Soll ich nicht spöttisch werden, wenn du sie pflegst und verziehst wie eine Prinzessin –«

»Nein, nicht wie eine Prinzessin – wie eine Geliebte des Herzens, wie eine erste und einzige Liebe, Flora,« fiel er mit seiner tiefen, klangvollen Stimme in sichtlicher Bewegung ein.

Ein Schrecken durchfuhr sie, als habe ein Blitzschlag die Erde vor ihren Füßen gespalten; unwillkürlich hoben sich ihre Arme gen Himmel und so stürzte sie auf den Sprechenden zu.

Er streckte ihr abwehrend die Hände entgegen; sonst stand er in unerschütterter Haltung. »Was ich bisher, unter unbeschreiblichen Kämpfen mit mir selbst, in meiner Brust verschlossen habe – aus Scham und von einem Grundsatze ausgehend, der sich als falsch, ja, als unmoralisch erwiesen hat –, ich muß es dir jetzt bekennen. Ich sehe ab von jeder Verteidigung, von jedem beschönigenden Worte« – die Stimme sank ihm – »ich bin treulos gewesen von dem Augenblicke an, wo ich Käthe zum erstenmal gesehen habe.«

Flora ließ langsam ihre Hände sinken. So unumwunden und zweifellos auch das Geständnis lautete, es war dennoch das Unglaubwürdigste, das sie je gehört. Bah, wie hatte sie sich hinreißen lassen können, ein so kopfloses Erschrecken zu zeigen! Es war wohl oft genug geschehen, daß die gefeierte Flora Mangold Männerherzen unwiderstehlich an sich gezogen und sie dann in Augenblicken, wo es am wenigsten erwartet wurde, launenhaft und unbarmherzig von sich gestoßen hatte – ach ja, das war zu ihrer innersten Genugtuung so oft geschehen, wie sie Ballfeste mitgemacht hatte, aber daß ein Mann ihr die Treue brechen könne – lächerlich! Das war zu widersinnig; das glaubte niemand in der Residenz, und sie selbst am wenigsten. Da lag es doch weit näher, zu denken, daß Doktor Bruck endlich auch einmal den Mut zur Vergeltung finde. Sie hatte eben »ihre Feuerprobe« bis an die äußerste Grenze geführt; sie hatte in ihrem wohlbegründeten Verdrusse gedroht, noch wenige Schritte vom Altar ihr »Ja« zurückzuhalten. Das hatte ihn gereizt, hatte seine Langmut erschöpft; er wollte sie strafen, indem er sie eifersüchtig machte. Ihre bodenlose Eitelkeit, ihr Leichtsinn halfen ihr noch für wenige Augenblicke über die bitterste Täuschung ihres ganzen Lebens hinweg.

Sie verzog spöttisch die Lippen und schlug die Arme unter. »Ah, also gleich beim ersten Erblicken!« sagte sie. »War das gleich draußen im Flur, wo sie nach Handwerksbrauch, den Reisestaub auf den Schuhen, mit dem poetischen Taschentuchbündelchen in der Hand hier ankam?«

Man sah, wie ihr spielender Hohn jeden Blutstropfen in dem Manne empörte; angesichts der furchtbaren Entscheidung, die endlich, nach namenlosen Leiden und Kämpfen, durch seine wahre »erste und einzige« Liebe herbeigeführt worden war, wurde er lächelnd und übermütig ins Gebet genommen wie ein Schulknabe. Er bezwang sich mühsam; die Lösung dieser Lebensfrage mußte noch in dieser Stunde erfolgen, aber daß es nicht in würdeloser Weise geschehe, das war seine Aufgabe.

»Da war ich schon ihr Führer und Begleiter gewesen; in der Mühle habe ich Käthe zuerst gesehen,« versetzte er, nach einem kurzen Ringen mit sich selbst, ziemlich gelassen.

Eine dunkle Röte der Überraschung überflog Floras Wangen. Es begann in ihren Augen zu glimmen; sie biß sich auf die Lippen. »Ei, davon erfährt man ja das erste Wort. Und auch die Duckmäuserin mit dem ›reinen‹ Herzen hat Grund gehabt, diese interessante Begegnung zu verschweigen.« Sie lachte kurz und hart auf. »Nun, und weiter, Bruck?« Die Arme noch fester unter dem Busen kreuzend, stemmte sie den Fuß sichtlich herausfordernd auf den Teppich.

»Wenn du in dem Tone verharrst, dann bleibt mir kein Weg zur Verständigung als der schriftliche.« Er wollte mit allen Zeichen der Entrüstung vor ihr vorübergehen.

Sie vertrat ihm den Weg. »Mein Gott, wie du das tragisch nimmst! Ich bemühe mich ja nur, auf deine kleine Komödie einzugehen. Also in einen Federkrieg willst du dich mit mir einlassen? Lieber Leo, da ziehst du den kürzeren – darauf verlaß dich! – magst du auch noch so viel Aufsehen erregende medizinische Schriften in die Welt geschickt haben.«

Das übermütige Lächeln, das ihre Versicherung begleitete, erstarb ihr auf den Lippen, ein so eisig finsterer Blick begegnete dem ihren. Jetzt dämmerte allmählich die Ahnung in ihr auf, es könne ihm doch wohl Ernst, bitterer Ernst sein – nicht mit seiner angeblichen Liebe für »die Jüngste« – die war nun einmal nicht denkbar – wohl aber mit dem Entschlusse, bei aller Leidenschaft für sie, doch lieber in der letzten Stunde noch mit der launenhaften Braut zu brechen, als sich zeitlebens der »Feuerprobe« zu unterwerfen. Sie bereute ihr Vorgehen, und dennoch siegte der wilde Trotz, der beispiellose Übermut in ihr.

»So geh!« sagte sie, rasch zur Seite tretend. »Solche Blicke, wie du mir eben zugeworfen hast, vertrage ich nicht. Geh – ich rühre nicht einen Finger, dich zu halten.« Sie brach in ein schneidendes Hohngelächter aus. »O Männercharakter, viel berühmter und besungener! Es hat eine Zeit gegeben, wo ich fast auf den Knien um meine Freiheit gebettelt habe; man war würdelos genug, die widerstrebende Braut um so fester in Ketten zu legen. Da sieh und lerne von mir, was in solchen Augenblicken selbst für ›die schwache, eitle Frauenseele‹ einzig und allein maßgebend ist: der Stolz –«

»Es war auch Stolz, der mich damals unerbittlich bleiben ließ, unbändiger Stolz, wenn auch ein ganz anderer, als das Gemisch von Trotz und Grimm, das du als solchen bezeichnest,« unterbrach er sie mit maßvoller Ruhe, obgleich die letzte Spur von Farbe aus seinen Wangen gewichen war. »Ich bekenne mich ja dazu, schwer gefehlt zu haben; ich werde dich, wie bereits gesagt, mit keiner Verteidigung behelligen, die andere auch nur entfernt der Mitschuld bezichtigen könnte … Der Grund meiner damaligen Handlungsweise war das Pochen auf die eigene Kraft, auf den Manneswillen, der mit allen Gefühlsausschreitungen der Seele fertig werden müsse, wie ich wähnte. Ich gab dir dein Wort nicht zurück, weil ich gewohnt war, das meine, einmal gegeben, in allen Lebenslagen als unverbrüchlich bis in alle Ewigkeit anzusehen; von dem Standpunkt aus erschien mir unser Verlöbnis so unlösbar wie dem Katholiken die Ehe … Ich leugne nicht, daß auch ein Rest studentischer Ehrbegriffe in mir nachwirkte. An jenem Abend habe ich dir diesen einen Beweggrund ausgesprochen, und ich muß ihn auch jetzt noch einmal betonen: ich wollte nicht in die Schar derer zurücktreten, die an deinem Siegeswagen gezogen und dann plötzlich entlassen worden waren. Ich wiederhole, daß ich diese Anschauung setzt als jugendlich unreif verwerfe, weil in solchen Fällen nicht die Ehre des Mannes, sondern die der Frau bloßgestellt ist.«

Sie wandte ihm mit einem zornflammenden Blick den Rücken und ließ ihre Finger in leisem, unregelmäßigem Getrommel auf der Tischplatte spielen. »Ich habe dir nie verschwiegen, daß meine Hand unzähligemal begehrt und erstrebt worden ist, ehe ich mich mit dir verlobte,« sagte sie stolz nachlässig, ohne auch nur den Kopf in der Richtung nach ihm zu bewegen.

»Du so wenig wie alle meine Bekannten,« fiel er ein. »Du darfst aber nicht vergessen, daß du das unnahbare Ideal meiner Jugend gewesen bist. Auf der Universität und noch im letzten Feldzuge hat mich der Gedanke angespornt, daß das stolze Herz der Vielumworbenen sich noch keinem zugeneigt, daß es den hoch beglücken müsse, der es erringe –« Er unterbrach sich – er durfte und wollte sich nicht auf ihre Koketterie beziehen; er verschmähte alle, auch die begründetsten Vorwürfe als Hilfstruppen.

»Und möchtest du dem entgegen behaupten, ich hätte auch nur einen aus dem Troß dieser unvermeidlichen Anbeter geliebt?« brauste sie auf.

» Geliebt? Nein, Flora, keinen von allen – auch mich nicht,« rief er, doch wieder fortgerissen. » Geliebt hast du stets nur die unvergleichliche Schönheit, die gesellschaftliche Gewandtheit, den vielbewunderten Geist, den künftigen Ruhm der gefeierten Flora Mangold.«

»Sieh, sieh – die Schmeichelei des Liebenden habe ich stets auf deinen Lippen schmerzlich vermißt; selbst beim bräutlichen Kosen hast du nie einen bezeichnenden Schmeichelnamen für mich gefunden – und jetzt, in der Erbitterung, zeigst du mir ein Spiegelbild, mit dem ich wohl zufrieden sein kann.«

Er errötete wie ein Mädchen. Es war lange her, daß er den schönen Mund dort nicht mehr geküßt, und doch meinte er, daß es überhaupt geschehen, sei eine Versündigung an der anderen, die, rein und unberührt an Leib und Seele, sein Frauenideal erst jetzt verwirklichte. Er entzog unwillkürlich sein Gesicht den Augen, die ihn mit einem heimlich lachenden Ausdrucke musterten, und sah in den Garten.

Ah, sie hatte ihn im richtigen Augenblick an schöne Zeiten erinnert – jetzt hatte sie gewonnenes Spiel. »Leo, bist du wirklich zu mir gekommen, um hart mit mir zu verfahren, um mich anzuklagen?« fragte sie, rasch zu ihm tretend – sie legte ihre Hand auf seinen Arm.

»Du vergissest, daß du mich zu dir beschieden hast, Flora,« entgegnete er ernst. »Ich wäre nicht aus eigenem Antrieb gekommen – ich habe oben zwei Kranke; Henriettens Zustand ist gegen Morgen bedenklich geworden; ohne deinen ausdrücklichen Wunsch würde ich sie nicht verlassen haben, so wenig, wie ich in diesen unseligen Tagen voll Angst und namenloser Verwirrung daran gedacht hätte, eine Entscheidung herbeizuführen, wie du sie vorhin herausgefordert hast.«

»Eine Entscheidung? Weil ich dich in kindischem Trotz und Ärger gehen hieß? … Geh, wie magst du Mädchenzorn so bitter ernst nehmen!« Das sagte sie, die sonst jede mädchenhafte Regung als ihres männlich gearteten Geistes unwürdig verleugnete – mit dieser aalglatt entschlüpfenden Frauenseele war schwer zu rechten.

Dem Doktor stieg das Blut in das Gesicht; sie hatte ihn durch ihre unberechenbaren Einwürfe einen Kreislauf machen lassen – er stand wieder am Ausgangspunkte. »Ich messe dir auch darin die Schuld nicht bei,« antwortete er mit unverkennbar hervorbrechender leidenschaftlicher Ungeduld. » Ich habe mich hinreißen lassen, dir zu gestehen –«

»Ach ja, du sprachst von deinem Manneswillen, der mit allen Gefühlsausschreitungen fertig werden müsse – ist er dir dennoch treulos geworden?«

»Nein, treulos nicht; er hat sich nur einer besseren Überzeugung unterwerfen müssen. Flora, ich habe dir gleich zu Anfang gesagt, daß ich bei meiner Weigerung, unser Verlöbnis zu lösen, von einem falschen Grundsatze ausgegangen sei. Ich wußte damals längst, daß nicht eine Spur wahrer, hingebender Liebe für mich in deinem Herzen lebte, und auch ich hatte mit meinem Gefühle für dich vollkommen abgeschlossen, das schwärmerische Bewunderung von der Ferne aus, niemals aber warme, innige Herzensneigung gewesen war – wir hatten beide geirrt. Zwar litt ich schwer unter dem Bewußtsein, einer liebeleeren Zukunft entgegenzugehen, ich, dem die Natur ein liebeheischendes Herz gegeben, der ich mir den eigenen Herd nicht ohne die verklärende Familienliebe denken kann, aber ich fügte mich, und du hast dich noch rascher mit deiner vermeintlichen Nebenbuhlerin, meiner Praxis, abgefunden; du hast die Entfremdung willig gutgeheißen, weil sie dir kein inneres Opfer auferlegte.«

Sie schwieg, und ihre Augen irrten unwillkürlich über den bestaubten Teppich hin – es war ihr unmöglich, dem Sprechenden in das ernste, von tiefer Erregung beseelte Gesicht hineinzulügen.

»Und ich klammerte mich um so angstvoller an die Unverletzlichkeit meines Wortes, je treuloser meine Gedanken von dir abirrten –«

»Ah – also doch?«

»Ja, Flora. Ich habe gerungen mit meiner Neigung wie mit einem erbitterten Todfeind.« Ein schwerer, gepreßter Atemzug hob seine Brust. »Ich bin vom ersten Augenblick an hart, grausam mit mir selbst und mit dem Mädchen verfahren, das mir diese unbesiegbare Neigung einflößte. Ich habe jede, auch die unschuldigste Annäherung streng von mir gewiesen – nicht einmal die Blumen, die sie in der Hand gehalten und achtlos vergessen hatte, litt ich in meinem Zimmer. Sie war gern in meinem Hause, und ich wehrte diesem Verkehre, als ob sie mir einen Feuerbrand unter das Dach trage; ich war kalt, unhöflich ihr in das Gesicht hinein, das mich doch entzückte wie noch nie ein Menschenantlitz –«

»Mein Gott, ja – man begreift das! Entzückend für das Auge des Arztes, gesund und rund und weiß und rot, als habe die Natur den Tüncherpinsel dazu genommen.« Mit diesen Worten wich die Erstarrung, die über die atemlos horchende Frauengestalt gekommen war – sie preßte die geballte Rechte heftig gegen die Brust. »Und ein solches Bekenntnis wagst du mir gegenüber? Wie, Blumen wirft diese naive Jugend in das Zimmer der Männer, die sie kirren will –«

»Still!« er hob die Hand mit jenem gebieterisch zwingenden Blick, der stets selbst diesen Mund verstummen machte. »Mich überschütte mit Vorwürfen – ich will sie widerstandslos über mich ergehen lassen, vor Käthe aber stehe ich in Wehr und Waffen. Sie hat meine Liebe zu ihr niemals angefacht; sie ist nach Dresden zurückgekehrt und hat nicht gewußt, wie es um mich, wie es um – sie selbst steht. Weshalb sie damals gegangen ist, das weißt du am besten. Während man sie von einer Seite drängte, eine Ehe ohne Liebe einzugehen, wurde ihr von der anderen erschreckend deutlich nahegelegt, daß sie ihr Zimmer zu räumen und einem hochgeborenen Besuche Platz zu machen habe. Ich war Zeuge dieser unverblümten Ausweisung; um ein Haar hätte ich mich damals vergessen und der Frau Präsidentin Worte der Erbitterung gesagt, und doch, als die indirekte Aufforderung an mich erging, die Überzählige in mein Heim aufzunehmen, da hatte auch ich keinen Raum für sie; ja, sie mußte eine Stunde später vor meinem Hause, wenn auch ohne mein Wissen, mit anhören, wie ich meine Tante ersuchte, den Verkehr mit ihr abzubrechen, solange ich noch aus- und eingehe. Und da ist sie gegangen, tiefverletzt in ihrem stolzen, festen und doch so weichen Gemüte, und ich war barbarisch, nein, unmoralisch genug, um eines falschen Prinzips, um eines tönernen Götzen willen, der gewisse Ehrbegriffe vertritt, in der großen Lüge zu beharren, die ich ihr, mir selbst und der ganzen Welt glaubwürdig zu machen suchte.«

Wie überwältigt von seiner eigenen Schilderung schwieg er sekundenlang; Flora warf sich über das Ruhebett hin und preßte den Kopf zwischen ihre schmalen Hände, als wolle sie nichts mehr hören, aber er fuhr fort: »Ich ließ sie erbarmungslos gehen; ich atmete auf – nun sollte es besser gehen mit mir und meiner inneren Qual – töricht, töricht! Ich sah nicht, wie in demselben Augenblick, wo sie hinter dem Ufergebüsch verschwand, ein Etwas an mich herankroch, das sich festklammerte – es war nicht die Überbürdung durch meine Praxis, was mich hohlwangig und der Geselligkeit gegenüber finster und feindselig machte – in der angestrengten Arbeit und Tätigkeit bin ich stets freudig und tatkräftig geblieben – es war die Sehnsucht, die sich von Tag zu Tag steigerte.«

Er hatte den Fensterbogen verlassen und durchmaß das Zimmer in sichtlichem inneren Aufruhr, und jetzt erhob sich Flora wieder wie mit einem gewaltsamen Ruck und schüttelte das nach vorn gefallene Lockengeringel wild aus der Stirn.

»Um Käthes willen?« rief sie bitter auflachend. »Möchte doch der Papa jetzt sehen, welch richtiger Instinkt seine Erstgeborene geleitet hat, als sie sich weigerte, die Schloßmüllerstochter Mama zu nennen, als sie seiner neugeborenen Jüngsten den Rücken wandte, weil sie ja schon zwei richtige Schwestern habe und kein Stiefschwesterchen wolle! Und es ist kein falscher Grundsatz gewesen, der dir bisher zur Richtschnur gedient hat – nein. Wie viel tausend ›große Lügen‹ um dieses Prinzipes willen beseelen und lenken das Menschengetriebe, und die sie siegreich durchführen, wird man bis in alle Ewigkeit achtbar und ehrenhaft nennen –«

»Ich habe mir gelobt, das Vergangene bei dieser Entscheidung nicht zu berühren,« unterbrach er sie stehenbleibend mit bebender Stimme, aber offenbar entschlossen, der Sache ein Ende zu machen, »und doch zwingst du mich, auf jenen Auftritt zwischen dir und mir zurückzukommen, der nach dem Überfall im Walde erfolgte. Ich habe mir damals von meiner Braut in das Gesicht sagen lassen, daß sie mich hasse oder vielmehr verachte, weil mich ein Mißgeschick zu verhindern schien, die Berühmtheit zu werden, mit der sie sich zu verloben geglaubt hatte. Ich habe tags darauf die beispiellose Tatsache erlebt, daß sich dieser Haß durch meine Ernennung zum fürstlichen Hofrate sofort in die innigste Zuneigung verwandelte, und habe schweigend, mit verbissener Verachtung mein Joch weitergeschleppt, weil ich eben ›achtbar und ehrenhaft‹ bleiben wollte. Und ich hätte auch diese abscheuliche Lüge zu Ende geführt, wären wir zwei allein die Betreffenden geblieben, wäre nur mir die Marter eines verödeten Lebens aufgebürdet gewesen. Ich möchte die drei Menschenherzen, um die es sich handelt, vor die große Schiedsrichterin, die Moral, hinstellen: das eine, das sich zu dem ›Ja‹ am Altare nur herbeiläßt, weil es ihm zu einer lebhaft gewünschten äußeren Lebensstellung verhilft, und die beiden anderen, die sich der heiligen Mission plötzlich bewußt werden, in wahrer, inniger Liebe sich zu ergänzen, die in gleichem Schlage zueinander gehören, ob sie auch bis nach den entgegengesetzten Polen auseinander gedrängt würden –«

Ein halberstickter Schrei unterbrach ihn. »Hat sie es wirklich gewagt, das heuchlerische Geschöpf, ihre Augen zu dem Verlobten ihrer Schwester zu erheben? Sie hat dir ihre verbrecherische Liebe eingestanden?«

Er maß sie einen Augenblick mit flammenden Augen, in sprachlosem Zorne. »Und wenn du auch vor den schlimmsten Bezeichnungen nicht zurückschrickst, du kannst diesen fleckenlosen Mädchencharakter doch nicht verunglimpfen, sagte er gepreßt. »Ich habe seit jenem Abschied kein Wort wieder von ihren Lippen gehört; auch in dieser Nacht nicht, wo sie endlich die Augen mit zurückkehrendem Bewußtsein wieder aufschlug. Sie ist gestern zurückgekommen, und ich habe es nicht gewußt. Ich war vor dem Polterabendlärm, der selbst an jedem Krankenbett erwähnt und erörtert wurde, in meinen einsamen Garten geflüchtet – und da sah ich sie plötzlich an der Brücke stehen, eine Verbannte, die sich nicht über den Holzbogen wagte, weil mein hartes Wort sie hinausgestoßen hatte.« Er verstummte, und eine dunkle Glut überströmte sein Gesicht; nun und nimmer sprach er es vor diesen Ohren aus, wie ihm mit jenem Anblick die »himmelhochjauchzende« Überzeugung gekommen sei, daß das weinende Mädchen dort ihn liebe.

»Ich habe sie dann, nach dem furchtbaren Ereignis, im Parke gesucht,« fuhr er fort, sich gewaltsam in eine ruhigere Redeweise zwingend; »und als ich sie vom Boden aufnahm, da sagte ich mir, daß der Tod an diesem schwachatmenden Leben nur vorübergegangen sei, damit ich doch noch glücklich werden solle. Da riß ich mich los von allen Banden des Herkommens und einer zweifelhaften Ehrenverpflichtung; ich stellte mich über das Basengeschwätz der lästernden Welt und verzichtete auf den Ehrentitel eines ›respektabeln‹ Heuchlers.«

Schon während seiner ganzen letzten Schilderung hatte sich Floras Haltung verändert; sie hatte verspielt – es war alles aus, und sie wäre nicht das ränkevolle Weib mit dem scharfen Blick und dem kalt berechnenden Geist gewesen, wenn sie sich nicht auch sofort dieser Lage zu bemächtigen gewußt hätte. Das trotzig Gespannte in ihrer Gestalt wandelte sich unter den Augen des sprechenden Mannes in die weiche Gliedergeschmeidigkeit der Katze. Mit fliegenden Händen zog sie das verschobene Morgenhäubchen über die Locke, und während sie die Spitzenbänder unter dem Kinn ineinander schlang, sah sie mit einem wahrhaft teuflischen Lächeln unter den tiefgesenkten Brauen empor und sagte, alle ihre scharfen, blitzenden Zähne zeigend, mit bezug auf seine letzten Worte: »Wie, ohne mich zu fragen, mein Herr Doktor? Nun, immerhin! Im Hinblick auf die eben gehörten naiven Geständnisse fragte ich mich, nicht ohne ein befreites Aufatmen: ›Was hätte aus dir werden sollen an der Seite eines solchen Gefühlsschwärmers!‹ Und drum ist's gut so, ganz gut so für uns beide, wie es gekommen ist. Ich gebe dir dein Wort zurück, allerdings nur ungefähr so, wie man einen Vogel am Faden fliegen läßt, dessen eines Ende man fest um – den Finger wickelt.« Sie tippte, abermals scharf lächelnd, mit der feinen Fingerspitze auf den Verlobungsring an ihrer Hand. »Freie um die erste beste junge Dame der Residenz – und sei es eine meiner glühendsten Neiderinnen, wie ich ja deren genug habe – und ich will den Reifen in ihre Hand legen; nur Käthe nicht, absolut nicht! Hörst du? Und wenn du mit ihr über das Meer flüchten oder an den entlegensten Dorfkirchenaltar treten wolltest: ich würde im richtigen Augenblick da sein, um Einspruch zu tun.«

»Gott sei Dank, dazu hast du nicht die Macht,« sagte er totenbleich und tiefatmend.

»Meinst du? Daß du niemals nach deinem Wunsch und Sinn glücklich wirst, dafür laß mich sorgen, Treuloser, Erbärmlicher, der ein stolzes Blumenbeet zertritt, um – eine Gänseblume zu pflücken! Du wirst von mir hören.«

Unter leisem Hohngelächter schritt sie nach ihrem Schlafzimmer zu, dessen Tür sie hinter sich verriegelte, und fast gleichzeitig klopfte ein Diener draußen und berief den Doktor in den ersten Stock, weil Fräulein Henriette eben wieder von einem sehr schlimmen Brustkrampf befallen worden sei.


 << zurück weiter >>