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Langsam stieg sie die gewundene Treppe hinab, die in ihrer oberen Hälfte das Mauerwerk so schmal durchschnitt, daß sich wohl nur der Schatten der wandelnden Ahnfrau an dem Herabsteigenden vorbeizudrücken vermochte … Die arme Ahnfrau, hier hatte sie nichts mehr zu suchen, hier war sie verscheucht, und wenn auch der neugebackene Edelmann sie kraft seiner Besitzrechte reklamierte, wenn er auch, um der Auszeichnung willen, daß die gespenstische weiße Frau sich um sein Wohl und Wehe kümmere, noch einmal so tief in seinen strotzenden Geldsäckel griff, als ihm bereits der Adel gekostet. Drunten hing es an den Wänden, das Rüstzeug ihres ritterlichen Geschlechts, die Waffen, mit denen die alten Recken um Ehre und Schande, um Gut und Blut gekämpft; die hatte sie allnächtlich mit vorübergleitenden Händen gefeit und doppelt gesegnet, je mehr Beulen und Scharten und unheimliche dunkle Flecken feindlichen Blutes sie aufwiesen. Jetzt funkelten und gleißten sie feiernd am Nagel, und das Rüstzeug des neuen Geschlechts im alten Turme waren – die modernen Geldschränke.
Ja, das seltsam fremdartige Element, das drüben in der Villa durch alle intimen Familiengespräche zitterte – das Geldfieber, der Spekulationsgeist – es war auch hierher in das ernsthaft kopierte Ritterwesen verschleppt worden. Es wehte in der Luft; es schlich treppab, treppauf, und dort die mächtigen, Jahrhunderte alten Humpen auf den Kredenztischen der Halle, sie waren Ironie in den weichen Händen der Couponschneider, wie die riesenhaften, neu aufgefrischten Riegel und Vorlegeschlösser in grotesker Lächerlichkeit die eiserne Kellertür bedeckten – sie hüteten die Champagnerflaschen des Kommerzienrats, während droben Tausende hinter kaum erkennbarem, zierlichem Verschlusse lagen. Das historische Pulver aus dem Dreißigjährigen Kriege lag auch noch drunten, lediglich um deswillen von seiten des Kommerzienrats geduldet, wie Henriette boshaft behauptete, um wißbegierige Besucher nebenbei auch die kostbaren Weinsorten im kühlen trockenen Turmkeller sehen zu lassen … Und das war's, was Käthe den alten Heimatboden, auf welchem ihre Kindheit sich abgespielt, fast unkenntlich machte, dies Sichsehenlassen, dieses Berechnen des Eindrucks nach außen in kostspieligen Neuerungen, das fieberhafte Streben, die Welt auch wissen zu lassen, daß das Postament, welches man erklommen, ein goldenes sei – das alles schlug dem Geist der ehemaligen alten Firma Mangold geradezu in das Gesicht; sie hatte nie ihren gediegenen Wohlstand als »blendenden Goldregen« aus den altfränkischen Truhen aufsteigen lassen; ebensowenig durfte zu Bankier Mangolds Lebzeiten die Geldmacht im Familienkreise den Ton angeben; ein so pünktlicher Chef er auch in seinem Kontor gewesen, nie war ihm daheim ein Wort über Geldgeschäfte entschlüpft. Und jetzt! Selbst die Präsidentin spekulierte; sie hatte ihr kleines Vermögen von wenigen Tausenden auch in das große Glücksrad geworfen, das heißt in Aktien angelegt, und fast unheimlich sah es aus, wenn das Gesicht der sonst so kühl empfindenden Frau bei den immer wiederkehrenden Geldgesprächen vor aufgestörter innerer Leidenschaft rot bis über die Schläfe wurde …
Käthe verließ den Turm und betrat die Brücke. Sie beugte sich einen Augenblick über das Geländer und sah forschend in die Wasserflut, als müßten die alten Bekannten, die Zwergobstbäumchen und Beerensträucher, noch an ihren Plätzen stehen, aber sie blickte nur in ihr eigenes Gesicht mit dem Diadem der dicken braunen Flechte über der Stirn – dieses Mädchen hatte die wundersame Eigenschaft, der Goldfisch der Familie zu sein; das wurde ihr täglich gesagt, als solcher wurde sie geachtet und ausgezeichnet; man suchte ihr begreiflich zu machen, daß sie eben als solcher die braunen Flechten nicht selber ordnen dürfe, daß eine Kammerjungfer nunmehr unumgänglich nötig sei, aber sie hatte sich ernstlich und energisch der Frau Präsidentin gegenüber verwahrt; sie gab ihren Kopf nicht in dergleichen künstlerische Hände – im Frisiermantel stundenlang steif und feierlich wie ein Götzenbild zu sitzen, das brachte sie in ihrem ganzen Leben nicht fertig … O ja, es war und blieb »über die Maßen hübsch«, reich zu sein, nur durfte der Reichtum nicht unfrei machen; er durfte dem raschen, warmblütigen Menschenkind die regen Hände nicht binden wollen.
Sie hatte die zierlichen Anlagen vor der Ruine verlassen und schritt auf dem wenig gepflegten Wege neben dem weidenbesetzten Flußufer. Noch den Hauch scharfer Winterkälte ausströmend und den geschmolzenen Schnee aus den Bergen mit sich schleppend, schossen die Wassermassen lehmfarben neben ihr hin, aber die Elritzen zuckten frühlingslebendig und blank wie Silberstäbchen durch die trübe Flut; an den Weidengerten saßen die weichflaumigen Blütenkätzchen, und unter dem schützenden Laubgebüsch hatte das Leberkraut den ganzen zarten Schmelz seiner himmelblauen Blumen ausgebreitet – die gaben schon einen Frühlingsstrauß.
Die Blumen in der Hand, wandelte sie langsam weiter bis zu der alten Holzbrücke … Dort streckte sich Susens Bleichplatz, die mit Obstbäumen bestandene Rasenfläche, hin. Der Kommerzienrat hatte recht gehabt: in dem niedrigen Holzgitter, das den Garten umfriedigte, fehlte kein Stab, und an dem Hause kein Ziegel, kein Brett, auch nicht die kleinste Latte des Weinspaliers … Und es war doch ein hübsches, altes Haus, die verlästerte Baracke! Es lag so geborgen hinter dem rauschenden Flusse, und der Laubwald im Hintergrunde, der sogenannte Stadtforst, der ziemlich nahe an das Holzgitter heranrückte, gab ihm den anmutig einsamen Charakter einer Försterei. Niedrig war es allerdings; es hatte nur eine Fensterreihe – direkt darüber erhob sich das Dach mit den vergoldeten Windfahnen und den massiven Schlöten, von denen der eine in der Tat rauchte – nie gesehene Erscheinung! In dem Hause hatte seit langen Zeiten kein Feuer in Herd und Ofen, kein Licht auf dem Tische gebrannt. Zu des Schloßmüllers Lebzeiten war jahraus, jahrein Getreide in den Stuben aufgeschüttet worden, die Läden hatten wie festgemauert vor den Fenstern gelegen, und nur alljährlich bei der Obsternte hatte die streng verschlossene Haustür tagsüber offen gestanden. Da war dann auch die kleine Käthe hineingeschlüpft in die sogenannte Obstkammer, die neben der Küche gelegene weißgetünchte Stube mit dem großen grünen Ofen, und hatte sich das Schürzchen mit Birnen und Äpfeln gefüllt … Heute nun waren die Läden zurückgeschlagen, und das junge Mädchen sah zum erstenmal Glasscheiben blinken in den großen, von Steinrahmen umfaßten Fenstern. Das war nun Doktor Brucks Haus.
Ohne zu wissen wie, hatte sie die Brücke überschritten und umging das Gebäude von drei Seiten. Das Herz klopfte ihr ein wenig. Sie hatte kein Recht mehr, sich hier bemerklich zu machen, aber ihre Fußtritte verhallten auf dem weichen Grasboden; dazu toste der angeschwollene Fluß stark herüber, und auf dem Dache lärmten die Spatzen. Einzelne Fensterflügel standen offen; sie sah Ampeln mit grünem Schlingpflanzenbehang an den stuckverzierten Zimmerdecken schweben und blankes Kupfergeschirr auf der Küchenwand glänzen; auch zartes Vogelgezwitscher klang heraus und mischte sich mit dem zänkischen Geschrei der Sperlinge, aber kein Geräusch menschlichen Lebens und Treibens war zu hören … Nun bog sie zuversichtlicher um die westliche Hausecke und wollte die Vorderseite entlanggehen, da schrak sie zusammen.
In der Flügeltür, welche die Fassade in zwei gleiche Hälften teilte und von der die Steintreppe fast vornehm breit auf den Rasenplatz herabstieg, stand eine Frau, eine feine, schlanke, fast mädchenhaft zierliche Erscheinung. Sie hatte einen Tisch neben sich stehen, auf welchem Bücher und Bilder aufgehäuft lagen, und war mit Abstäuben derselben beschäftigt. Befremdet sah sie auf die unsicher Näherkommende und ließ unwillkürlich das Bild sinken, das sie eben mit dem Staubtuche säuberte – es war Floras Photographie in Ovalrahmen.
Das konnte doch unmöglich die Tante Diakonus sein! Nach Floras eben gehörter, mit beißender Ironie getränkter Schilderung hatte sich Käthe ein kleines, gebücktes, wenn auch immer noch rasches Hausmütterchen mit küchengeschwärzten Händen gedacht, das, zwischen Pfannen und Töpfen und Einmachbüchsen grau geworden, nichts Lieberes tat, als Pfannkuchen backen – das Bild war unvereinbar mit dieser Dame, deren kleines, allerdings ältliches Gesicht so zartbleich und edel, mit so milden, sprechenden Augen aus dem weißen Spitzentuche sah, das sie über das noch sehr reiche, aschblonde Haar geknüpft hatte.
Käthe wurde immer befangener und stammelte, an den Fuß der Treppe tretend, eine herkömmliche Entschuldigung. »Ich habe als Kind hier gespielt, und bin vor einigen Tagen aus Dresden zurückgekehrt und – das ist meine Schwester,« setzte sie, auf das Bild zeigend, hastig hinzu, und dann brach sie in ein frisches, helles Lachen aus und schüttelte den Kopf über sich selbst und die naive, ungeschickte Art der Einführung, zu der sie in ihrer Verlegenheit gegriffen.
Und die Dame lachte auch. Sie legte das Bild auf den Tisch, und die Stufen herabsteigend, streckte sie dem jungen Mädchen beide Hände entgegen. »Dann sind Sie Brucks jüngste Schwägerin.« Ein leiser Schatten flog über ihr Gesicht. »Ich habe nicht gewußt, daß Besuch in der Villa Baumgarten eingekehrt ist,« fügte sie mit einem kaum hörbaren Anflug von Bitterkeit hinzu.
In diesem Augenblicke zog auch ein Wolkenschatten über Käthens Seele hin – war sie denn so ein Garnichts, ein solch verschollenes, nicht mitgeltendes Glied der Familie Mangold, daß Doktor Bruck es nicht der Mühe wert gefunden hatte, seine Begegnung mit ihr zu erwähnen? … Sie biß sich auf die Lippen und folgte schweigend der einladenden Handbewegung der Dame, die ihr vorausging und eine Tür in dem weiten Hausflur öffnete. Die schlanke Frau war noch so graziös in jeder Bewegung.
»Das ist mein Stübchen, meine Heimat bis ans Ende,« sagte sie mit einer herzensfreudigen, gleichsam aufatmenden Betonung, als sei sie bis zu diesem Ruheporte mit müden Füßen in der Irre gewandert. »Ehe mein Mann als Diakonus in die Stadt versetzt wurde, lebten wir in einer kleinen Pfarre auf dem Lande. Es ging uns sehr knapp, und ich hatte mein ganzes haushälterisches Talent nötig, um die Standeswürde nach außen hin zu wahren, aber es war doch die schönste Zeit meines Lebens … Die staubige Luft und das Geräusch der Stadt haben meinem Nervenleben nicht gut getan; meine stille Sehnsucht nach grüner Einsamkeit wurde nahezu krankhaft. Ich habe das nie ausgesprochen, und doch hat der Doktor heimlich gesorgt und gespart, und vor einigen Tagen führte er mich hierher in das Haus, das er wenige Stunden zuvor für mich erstanden hatte.« Bei den letzten Worten klang ihre Stimme verschleiert und tiefbewegt. Sie war also doch die Tante, und ihren Neffen nannte sie stolz »den Doktor«. Und jetzt lächelte sie anmutig. »Ein wahres Schlößchen ist's, nicht wahr?« fragte sie zutraulich. »Sehen Sie doch die Flügeltüren und die prächtige Stuckarbeit an der Decke! Und die alte Ledertapete da mit den geschwärzten Goldleisten ist jedenfalls sehr kostbar gewesen. Draußen im Garten finden sich auch noch Spuren von Taxushecken und Sandsteinfiguren. Ursprünglich ist das Haus der Witwensitz einer Dame aus dem Hause Baumgarten gewesen – ich weiß es aus einer Chronik … Wir haben nun tüchtig gescheuert, gelüftet und einige Öfen geheizt, um die alten Wände zu durchwärmen; sonst ist nichts, nicht ein Nagel, verändert worden; dazu reichten die Mittel nicht – und es wäre auch sehr überflüssig gewesen.«
Käthe hatte längst mit stillem Behagen die ganze Einrichtung überflogen. Die dunkelgewordenen Mahagonimöbel paßten just zu der gelben Ledertapete. An der Mittelwand, nicht weit von dem weißglasierten, weitbauchigen, auf verschnörkelten Füßen ruhenden Ofen, stand das kattunbezogene Sofa, und darüber hing in der Tat das Porträt des seligen Diakonus, ein schlicht gemaltes Pastellbild, das den alten Herrn in seiner Amtstracht vorstellte. Ein köstlicher Schmuck aber waren die Pflanzengruppen an den zwei hohen und breiten Fenstern, die Azaleen- und Palmenarten, die prachtvollen Gummibäume, warm und kräftig vergoldet von dem die klaren Filetgardinen durchbrechenden Sonnenlicht. Die Goldfische in der Glasschale und der Singvogel im Messingkäfig, diese Pfleglinge einsamer Frauen, fehlten auch hier nicht; auf den Fenstersimsen blühten Frühlingsblumen, buntfarbige Hyazinthen und die träumerisch gesenkten Häupter der weißen Narzisse – das Nähtischchen aber stand in einer förmlichen Nische von Lorbeerlaub.
»Meine Zöglinge – ich hab' sie fast vom Samenkorn an erzogen,« sagte die Tante, dem bewundernden Blick des jungen Mädchens folgend. »Die schönsten und liebsten habe ich selbstverständlich dem Doktor ins Zimmer gestellt.« Sie schob die angelehnte Tür des Nebenzimmers zurück und führte Käthe hinüber.
»Selbstverständlich!« wie das klang! So weiblich demütig, so mütterlich liebend und – verziehend … Sie hatte ihm »selbstverständlich« auch das schönste Zimmer im Hause ausgesucht, das Eckzimmer, an dessen östlich gelegenen Fenstern der Fluß vorbeirauschte. Über den breiten Wasserstreifen hinaus tat sich eine der hübschesten Parkpartien auf, und fern, hinter Lindenwipfeln, glänzte bläulich das Schieferdach der Villa … Zwischen diesen Fenstern, an der sehr schmalen Spiegelwand, stand der Schreibtisch; wenn der Doktor die Augen vom Papier hob, dann sah er dort die Fahnenstangen in den Himmel hineinragen – in den Himmel! Käthe fühlte plötzlich ihre Wangen in heißer Scham brennen; hier bot zärtliche Fürsorge alles auf, dem Mann verstohlen das Süßeste, das Geliebteste nahe zu rücken, und dort drüben sann ihre treulose Schwester Tag und Nacht darauf, ihn aus seinem Himmel zu stoßen. Mit dem frivolen »Beglücke du ihn doch!« hatte sie vorhin ihre Anrechte verächtlich ausgeboten.
Ob die warmherzige, zartempfindende Frau, die da neben ihr stand, es wohl ahnte oder vielleicht auch nur instinktmäßig fühlte, daß über kurz oder lang ein unabwendbares Leid, wie es ihn schwerer nicht treffen konnte, über ihren Liebling hereinbrechen werde? Sie hatte Käthe nicht aufgenommen wie eine kaum in die Heimat Zurückgekehrte, den Familienverhältnissen Entfremdete, sondern als Brucks jüngste Schwägerin, die notwendig mit allen Beziehungen so vertraut sein müsse, daß sie sich gar nicht erst als Tante vorzustellen brauche – demnach mußte ihr Verkehr in der Villa Baumgarten kein vertrauter sein, und es war in diesem Augenblick, als wolle sie die Annahme bestätigen, denn sie zeigte nach der leeren Spiegelwand über dem Schreibtisch und sagte unbefangen: »Ich bin noch nicht fertig mit der Einrichtung – da fehlt noch die Photographie der Braut und das Ölbild seiner Mutter, meiner lieben, verstorbenen Schwester.«
Sonst fehlte nichts mehr in dem unbeschreiblich anheimelnden Zimmer. Der Doktor, der heute mit dem Abendzuge zurückkehren sollte, hatte keine Ahnung, daß er die Tante nicht mehr in der Stadt finden werde. Sie hatte ihm den Umzugstrubel ersparen wollen, und der Kommerzienrat war, wie sie dankbar sagte, so sehr zuvorkommend gewesen, ihr zu diesem Zweck das Haus sofort zu übergeben.
Während dieser Mitteilungen glitt die Frau Diakonus immer noch ordnend, aber so geräuschlosen, behutsamen Trittes umher, als säße der Doktor bereits dort am Schreibtisch über seinem neuen Werke, zu dessen ungestörter Vollendung er sich eben »das Zimmer im Grünen« vorbehalten hatte. Und dann schloß sie ein Wandschränkchen neben dem Büchergestell auf und nahm einen Teller mit Prophetenkuchen heraus. Mit einer anmutigen Gebärde hielt sie dem jungen Mädchen das einfache Gebäck hin. »Es ist ganz frisch – ich hab' es heute, trotz aller Umzugsarbeit, gebacken. Der Doktor braucht immer dergleichen für kleine widerhaarige Patienten … Wein aber kann ich Ihnen nicht anbieten; die wenigen Flaschen, auf die wir halten, habe ich in der Stadt gelassen; sie gehören den Schwerkranken.«
Käthe dachte an die vielen Papiere in ihrem Geldschrank, die »bienenfleißig arbeiten«, um immer neue Geldströme aus der Welt herbeizuziehen, an den reichausgestatteten Weinkeller im Turm, an ihre übermütige, zigarrenrauchende Schwester zwischen den purpurfarbenen Polstern des Ruhebettes – welch ein ungeheurer Kontrast zu diesem einfachen Genügen und Entsagen! Das Herz ging ihr auf; sie erzählte von ihrer Pflegemutter und der weisen, festen und doch so wohltuenden Art, wie sie wirke und andere beeinflusse, wie sie die fleißigen Hände rege und von der Pflegetochter dasselbe verlange.
»Was aber sagt die Frau Präsidentin zu diesem Erziehungssystem?« fragte die Tante fein lächelnd, während ihr Blick in geheimem Wohlgefallen an der blühenden Jugendgestalt hing.
»Ich weiß es nicht,« versetzte Käthe achselzuckend, mit mutwillig aufblitzenden Augen, »aber ich glaube, meine Bewegungen sind ihr zu rasch, meine Stimme klingt ihr zu laut, ich bin ihr zu robust und nicht blaß genug. Gott mag wissen, wie viel Not man mit mir hat! – Ist dies das Porträt Ihrer Frau Schwester?« fragte sie plötzlich ablenkend und zeigte nach dem Ölbild einer hübschen Frau, das an der Wand lehnte.
Die alte Dame bejahte die Frage. »Es macht mir angst, bis ich es wieder an seinem sicheren Platz sehe; der Rahmen ist ein wenig hinfällig,« sagte sie. »Aber ich leide an Schwindel und darf mich nicht auf die Leiter wagen … Vor einigen Wochen habe ich das Dienstmädchen abgeschafft,« – eine zarte Röte stieg ihr ins Gesicht – »und nun muß ich warten, bis die Aufwärterin kommt und mir die letzten Bilder und meinen Bettvorhang aufsteckt.«
Schon bei den ersten Worten dieser Auseinandersetzung war Käthe an den Schreibtisch getreten; sie legte den Sonnenschirm auf die Platte desselben und steckte unbedenklich den kleinen Strauß von Weidenkätzchen und Leberblümchen in ein zierliches, milchweißes Trinkglas, das neben dem Schreibzeuge stand. Dann zog sie mit einem kräftigen Ruck den Arbeitstisch tiefer in das Zimmer und stellte einen Rohrstuhl an die Wand. »Darf ich?« fragte sie zutraulich und griff nach Hammer und Nägeln, die auf dem Fenstersimse bereit lagen.
Dankbar lächelnd brachte die Tante das Bild herbei, und nach wenigen Augenblicken hing es an der Wand. Käthe bebte unwillkürlich zurück, als ihr die Dame nun auch Floras Photographie hinhielt. Sie sollte mit eigener Hand dem verratenen Manne das Bild vor die Augen führen, das schon nicht mehr sein Eigentum war – binnen kurzem wurde es zurückgefordert, so gut wie der Ring, den er noch am Finger trug. Welche peinvolle Lage! Und jetzt ließ die Tante auch noch liebkosend die Hand über das Porträt hingleiten. »Sie ist so wunderschön,« sagte sie zärtlich. »Ich kenne sie im Grunde wenig; sie besucht mich sehr selten; wie könnte ich alte Frau denn auch verlangen, daß sie sich bei mir langweilen soll, aber ich habe sie doch von Herzen lieb; sie liebt ihn ja und wird ihn glücklich machen.«
Diese unbegreifliche Ahnungslosigkeit! Dem jungen Mädchen war es, als brenne der Stuhl unter ihren Füßen – sie hatte zu kopflos gehandelt. Nach allem, was sie eben noch drüben im Turme mitangehört, durfte sie hier nicht eintreten. Sie kam sich falsch und heuchlerisch vor, weil sie nicht der Frau sofort das Bild aus der Hand stieß und ihr die Schlange enthüllte, die nach ihrem Herzen zischte. Und doch durfte ihr kein Wort entschlüpfen. Sie schlug so heftig auf den Nagel, daß die Wand dröhnte, dann hing sie mit spitzen Fingern die Photographie hin und sprang vom Stuhle. Wie ein schöner, böser, triumphierender Dämon lächelte das verführerische Gesicht der Schwester auf den Schreibtisch nieder.
Käthe griff nach ihrem Sonnenschirm, um schleunigst das Zimmer zu verlassen. Über die Schwelle schreitend, sah sie durch die nächste, weitoffene Tür direkt auf das Bett der alten Dame – die Treppenleiter stand daneben. »Das hätte ich fast vergessen,« rief sie entschuldigend; sie huschte hinüber, und den buntgeblümten Vorhang vom Bette nehmend, stieg sie die Leiter hinauf. Seitwärts in der dunkeln Fensterecke stand sie so hoch oben, daß sie die herabhängenden Füßchen der Engelsgestalten in der Deckenverzierung berühren konnte. Mit fliegender Hast reihte sie die Ringe des Vorhangs auf das Eisengestell, während die Tante an dem mitten in ihrem Zimmer befindlichen Tische stand und ein Glas Wasser mit Himbeersaft »für ihre gütige Gehilfin« mischte.
Da sah Käthe draußen am Fenster einen Mann rasch vorübergehen, einen Mann von strenger Haltung und auffallend stattlicher Gestalt. Sie erkannte ihn sofort und erschrak; ehe sie sich aber klar wurde, ob sie bleiben oder schleunigst herabsteigen sollte, hatte er schon den Flur durchschritten und öffnete die Tür im Zimmer der Tante. Die alte Dame drehte sich um, und mit dem Ausrufe: »Ach, Leo, da bist du ja schon!« eilte sie auf ihn zu und schlang ihre Arme um seinen Hals. Vergessen war die Himbeerlimonade, vergessen »die gütige Gehilfin«, die sie trinken sollte und sich nun in namenloser Verlegenheit halb und halb hinter dem Kattunvorhange zu verbergen suchte – jetzt mußte sie sich still verhalten, wenn sie nicht plump störend zwischen die Wiedersehensszene treten wollte.
Sie sah, wie sich das schöne bärtige Gesicht des Doktors liebevoll über die treue mütterliche Pflegerin neigte; wie er sie fest an sich zog und ihre Hand von seiner Schulter nahm, um sie ehrerbietig zu küssen. Und nun überblickten seine Augen das Zimmer.
»Nun, Leo, was sagst du dazu, daß ich ohne dein Vorwissen ausgeflogen bin?« fragte die alte Dame, den Blick auffangend.
»Ich sollte das eigentlich nicht billigen. Du hast dir in den wenigen Tagen zu viel zugemutet, und wir wissen, daß dir häusliche Unruhe und Überstürzung stets feindlich sind; übrigens siehst du wohl und frisch aus.«
»Du aber nicht, Leo,« unterbrach ihn die Tante bekümmert. »Du hast nicht die kräftige Farbe wie sonst, und hier« – sie strich leicht mit der Hand über seine Stirn – »liegt etwas Fremdes, etwas wie ein finsterer, quälender Gedanke. Hast du Verdruß gehabt auf deiner Berufsreise?«
»Nein, Tante!« Das klang aufrichtig und beruhigend, aber auch kurz abbrechend – der Kommerzienrat hatte es ja gesagt, Bruck sprach nie über seinen Beruf und dessen Vorkommnisse. »Wie mich dieses Zimmer anheimelt, trotz seiner verdunkelten Wände!« sagte er, und die Hände auf dem Rücken gekreuzt, wandelte er mit musterndem Blicke langsam um den Tisch. »Der Friede der selbstlosen Frauenseele weht einen an – das ist's auch, weshalb ich so gern heimgehe in unser Stilleben mit den einfachen Möbeln und deinem geräuschlosen Walten, Tante. Ich werde viel hier sein –«
Die alte Frau lachte. »Ja, ja, bis zu einem gewissen Junitage,« versetzte sie schelmisch. »Zu Pfingsten wird deine Hochzeit sein.«
»Am zweiten Pfingsttage.« Wie seltsam er das aussprach, so kalt und fest, so unerbittlich – der ließ sich nicht eine Sekunde von der festgesetzten Stunde abdingen. Käthe fühlte etwas wie einen Angstschauer. Sie hielt den Atem zurück; nun durfte sie sich gar nicht sehen lassen. Von Minute zu Minute hoffte sie, daß der Doktor in sein Zimmer gehen werde; dann konnte sie leicht ihren hohen Standpunkt verlassen und hinausschlüpfen, ohne ihm begegnen zu müssen. Ihre ganze Natur empörte sich gegen dieses unfreiwillige Lauschen. Aber statt zu gehen, blieb er plötzlich am Tische stehen und nahm einen Brief zur Hand, der zwischen verschiedenen noch nicht geordneten Bücherstößen lag.
Die Tante machte ein unwillkürliche Bewegung, als wolle sie ihn verhindern, zu lesen; ihr zartes Gesicht war sehr rot geworden. »Ach Gott, wie vergeßlich wird doch so ein alter Kopf!« klagte sie. »Der Brief wurde vor einigen Stunden aus der Stadt mitgebracht. Er ist vom Kaufmann Lenz; heute sollte er gar nicht in deine Hände kommen, und nun habe ich ihn doch liegen lassen. Ich glaube, er enthält das Honorar – zu so ungewöhnlicher Zeit, Leo – ich fürchte –«
Der Doktor hatte das Kuvert bereits erbrochen und überflog die Zeilen. »Ja, auch er lohnt mich ab,« sagte er ruhig und warf den Brief und etwas Papiergeld auf den Tisch. »Grämst du dich darüber, Tante?«
»Ich? Nicht einen Augenblick, Leo, wenn ich weiß, daß du dir die Undankbarkeit dieser urteilslosen Menschen nicht zu Herzen nimmst … Ich glaube unerschütterlich an dich und deine Kunst und – an deinen Stern,« sagte die sanfte Frauenstimme warm und überzeugungsfroh. »Die Steine, die Mißgeschick und Übelwollen dir zeitweilig unter die Füße werfen, beirren mich nicht – – du machst deinen Weg.« Sie zeigte in die offene Tür des Eckzimmers. »Sieh dir dein Stübchen an! Wie ungestört und unbehelligt wirst du hier denken und arbeiten können! Ach, und wie freue ich mich auf die Zeit, die wir noch traulich zusammenleben werden, wo ich noch für dich sorgen darf –«
»Ja, Tante – aber die Einschränkungen, die du infolge des mißlichen Umschwungs meiner Verhältnisse während der letzten Monate allmählich eingeführt hast, müssen aufhören. Ich leide nicht mehr, daß du stundenlang auf dem kalten Steinfußboden der Küche stehst. Wenn möglich, rufst du noch heute unsere alte Köchin zurück. Du kannst das unbesorgt.« Er griff in die Brusttasche, nahm eine schwere Börse heraus – sie strotzte von Goldstücken – und schüttete ihren Inhalt auf den Tisch.
Die alte Frau schlug stumm und in freudiger Überraschung die Hände zusammen über das rollende Gold auf ihrer einfachen Tischdecke.
»Es ist ein einziges Honorar, Tante,« sagte er mit hörbarer Genugtuung. »Die schwere Zeit ist vorüber.« Bei diesen Worten wandte er sich ab und trat auf die Schwelle des Eckzimmers.
Man sah, die Tante hatte manches auf dem Herzen, aber sie fragte mit keiner Silbe, welcher Kur und welchem Patienten er diese große Geldsumme verdanke.
Käthe benutzte den günstigen Moment, um die Leiter hinabzugleiten. Wie schlug ihr das Herz, wie brannten ihre Wangen vor Beschämung darüber, daß sie diese intimen Erörterungen mit angehört hatte! Dort die Tür führte direkt in den Flur. Da hinaus konnte sie unbemerkt entkommen; selbst die Tante Diakonus sollte glauben, sie habe längst das Schlafzimmer verlassen und kein Wort von allem gehört, was gesprochen worden. Verstohlen flog ihr Blick hinüber in das Eckzimmer, wo die beiden eben an den Schreibtisch traten. In diesem Augenblick hörte sie den Doktor sagen: »Sieh da, die ersten Frühlingsblumen! Hast du gewußt, daß ich die hübschen blauen Blümchen so gern habe?«
Ein Ausruf des Staunens unterbrach ihn. »Ich nicht, Leo – Käthchen, deine junge Schwägerin, hat die Blumen in das Glas gestellt … Nein, bin ich zerstreut und vergeßlich!« Die alte Dame eilte herüber, aber schon drückte Käthe draußen die Tür hinter sich zu und schlüpfte durch den Flur ins Freie.
Nun ging sie langsam und beruhigt unter den Fenstern hin. Durch die nächsten schimmerten schwach die bunten Sträuße der schief und unvollendet herabhängenden Bettgardine; dann kam sie zu den zwei Fenstern mit den hübschen Filetvorhängen im Zimmer der Tante. Ein Fensterflügel stand offen, und der Hyazinthen- und Narzissenduft wehte heraus. Plötzlich schob eine schöne, kräftige Männerhand ein weißes Glas mit blauen Blumen auf den Sims zwischen die Töpfe; es war ihr kleiner Frühlingsstrauß, den der Doktor von seinem Schreibtisch entfernte und hierher brachte.
Sie fuhr heftig zusammen. Flüchtig und unbedacht, wie sie war, hatte sie sich in ein sonderbares Licht gestellt. Daß sie die Blumen auf seinen Tisch gesetzt, mußte er offenbar für die Taktlosigkeit, die Zudringlichkeit eines unbesonnenen jungen Mädchens halten. Sofort blieb sie stehen, und den feuchten Glanz unterdrückter Zornestränen in den Augen, streckte sie die Hand zum Fenster empor – diese Bewegung machte den Doktor aufsehen.
»Wollen Sie die Freundlichkeit haben, mir die Blumen herauszugeben, Herr Doktor? Sie gehören mir; ich hatte sie für einen Moment aus der Hand gelegt und dann vergessen,« sagte sie, mühsam ihre Aufregung unter angenommener Ruhe verbergend.
Im ersten Moment schien es, als erschrecke er leicht beim Klange der Stimme, die ihn so unerwartet ansprach; es war ihm doch wohl unlieb, daß Käthe ihn beobachtet hatte, aber er unterdrückte augenblicklich die unangenehme Empfindung und sagte freundlich: »Ich werde Ihnen die Blumen bringen.« Diese tiefe, gelassene Stimme entwaffnete sie sofort – er hatte ihr nicht wehe tun wollen.
Gleich darauf kam er die Stufen herab. Mit dem prächtig niederwallenden Bart, der breiten Brust und den gemessen edlen Bewegungen war und blieb er eine Gestalt, die man sich eigentlich nur in Uniform denken mochte, und wenn auch nur im grünen Weidmannsrock. Er reichte dem jungen Mädchen das Glas mit einer höflichen Verbeugung.
Sie nahm die Blumen heraus. »Es sind die ersten; kleine vorwitzige Dinger, die nicht schnell genug in die scharfe Aprilluft herauskommen können,« sagte sie lächelnd. »Man muß sich vielmal bücken und sie mühsam zusammensuchen, freut sich dann aber auch mehr daran als an einem ganzen Treibhaus voll Blumen.« – Nun erst war sie beruhigt; nun glaubte er ganz gewiß nicht mehr, daß sie auf die neue Verwandtschaft hin seinen Schreibtisch plump vertraulich attackiert habe.
Jetzt erschien auch die Tante am offenen Fenster. Sie entschuldigte sich und bat das junge Mädchen in warmen Worten, recht oft zu kommen.
»Fräulein Käthe geht ja schon in wenigen Wochen nach Dresden zurück,« antwortete der Doktor fast hastig an Käthes Stelle.
Sie stutzte. Hatte er Furcht, sie werde bei ihren Besuchen mit der ahnungslosen alten Frau über sein seltsames Verlobungsverhältnis sprechen? Diese Annahme verdroß sie, aber er tat ihr so leid um seiner inneren Leiden willen, die er so streng in seiner Brust verschloß. Und sie konnte ihn nicht einmal beruhigen.
»Ich werde länger bleiben, Herr Doktor,« versetzte sie ernst. »Ja, es ist leicht möglich, daß sich mein Aufenthalt in Moritzens Hause über viele Monate ausdehnt. Als Henriettens Arzt werden Sie ja am besten beurteilen können, wann ich meine kranke Schwester ohne Sorge verlassen und zu meinen Pflegeeltern zurückkehren kann.«
»Sie wollen Henriette pflegen?«
»Wie es sich von selbst versteht,« ergänzte sie. »Schlimm genug, daß ihre Pflege bis heute ausschließlich in fremden Händen gewesen ist. Die Arme verbringt ihre Nächte lieber hilflos, als daß sie sich entschließt, Beistand herbeizurufen, weil die sauren, mürrischen Mienen der verschlafenen Gesichter sie beleidigen, weil sie zu stolz und vielleicht auch zu krankhaft reizbar ist, um sich ihre Abhängigkeit von Untergebenen so fühlbar machen zu lassen. Das darf nicht mehr vorkommen – ich bleibe bei ihr.«
»Sie denken sich die Aufgabe jedenfalls viel zu leicht – Henriette ist sehr krank;« er strich sich mit der Hand so langsam über die Stirn, daß die Augen für einen Moment nicht sichtbar waren; »es werden schwere, bange Stunden zu überwinden sein.«
»Ich weiß es,« sagte sie leise, und tiefe Blässe deckte sekundenlang ihr Gesicht. »Aber ich habe Mut –«
»Daran zweifle ich nicht,« unterbrach er sie, »ich glaube ebenso an Ihre Geduld wie an Ihre ausdauernde Barmherzigkeit, aber es läßt sich nicht ermessen, zu welchem Zeitpunkt die Kranke – keine Pflege mehr brauchen wird. Deshalb darf ich nicht zugeben, daß Sie die Sache so energisch in die Hand nehmen. Sie können es physisch nicht durchsetzen.«
»Ich?« Sie hob und streckte unwillkürlich ihre Arme und sah stolz lächelnd auf sie nieder. »Kommt Ihnen Ihre Befürchtung nicht selbst grundlos vor, wenn Sie mich ansehen, Herr Doktor?« fragte sie mit einem heiteren Aufblick. »Ich bin von derbem Schrot und Korn; ich bin nach meiner Großmutter Sommer geartet; die war ein Bauernkind oder vielmehr ein Holzhackerstöchterlein, ist barfuß gelaufen und hat die Axt im Walde besser geschwungen als ihre Brüder – ich weiß es von Suse.«
Er sah von ihr fort zum offenen Fenster hinüber; da stand die alte Frau Diakonus selbstvergessen hinter ihren Hyazinthen und Narzissen, und ihr Blick hing wie verzaubert an dem Mädchen. – Sein Gesicht verfinsterte sich auffallend.
»Es handelt sich weniger um die Stahlkraft der Muskeln,« sagte er ausweichend. »Ein solches Pflegeramt mit seinen Aufregungen und Ängsten richtet sich feindlich gegen das Nervenleben. – Übrigens,« unterbrach er sich, »steht es mir ja gar nicht zu, bestimmend auf Ihre Entschlüsse einzuwirken. Das ist Sache Ihres Vormundes. Moritz soll entscheiden; er wird voraussichtlich darauf bestehen, daß Sie zur festgesetzten Zeit in das Haus Ihrer Pflegeeltern zurückkehren.« Der Doktor sprach die letzten Worte, ganz gegen seine gewohnte Milde und Gelassenheit, ziemlich schroff.
Die Tante zog sich unwillkürlich in das Zimmer zurück; Käthe dagegen blieb ruhig stehen. »Aber warum denn so unbeugsam, Herr Doktor? Warum wünschen Sie denn, daß Moritz gar so hart mit mir verfährt?« fragte sie mädchenhaft sanft. »Will ich denn Böses? Und sollte Moritz wirklich die Befugnis zustehen, mich von der Erfüllung meiner schwesterlichen Pflicht abzuhalten? Ich glaube es nicht … Nun weiß ich aber einen Ausweg: Veranlassen Sie Henriette, mich nach Dresden zu begleiten! Dort teile ich mit meiner Doktorin die Pflege der Patientin; das wird doch meinen Nerven nicht schaden?« Sie lächelte ganz leise.
»Gut, ich werde einen Versuch machen,« sagte er sehr bestimmt.
»Dann gebe ich Ihnen mein Wort, daß ich sobald wie möglich auf und davon fliegen werde,« versetzte sie ebenso fest mit einem sprechenden Blick, vor dem er, wie auf einem Unrecht ertappt, die Augen niederschlug.
Die Tante beugte sich plötzlich aus dem Fenster und sah dem Doktor erstaunt und beweglich in das Gesicht – er war ja merkwürdig schweigsam. Da stand er nun und löste einige verdorrte Weinranken vom Spalier, die der Zugwind hin und her schaukelte, und sagte keine Silbe mehr.
»Gehen Sie denn so gern?« fragte die alte Frau sichtlich verlegen mit liebreichem Vorwurfe.
Käthe zog eben den in den Nacken gesunkenen Schleier wieder über den Kopf und knüpfte ihn unter dem Kinn fest. Wie eine Pfirsichblüte leuchtete ihr Gesicht aus dem dunkeln Gewebe. »Soll ich aus Höflichkeit ›nein‹ sagen, Frau Diakonus?« fragte sie lächelnd zurück. Sie schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich bin leidlich vernünftig für die Welt und die Dinge, wie sie nun einmal sind, erzogen, aber all und jede Laune der Individualität fegt auch die strengste Zucht nicht aus den Seelenwinkeln. Ich stehe zum Beispiel der Großmama meiner Schwestern heute genau so verwunderlich fremd gegenüber, wie damals, als ich ihr auf Befehl meines Vaters die Hand küssen mußte; ich stoße mich insgeheim konsequent an Ecken und Eckchen, die für andere nicht da sind und mich doch schon als Kind gequält und beunruhigt haben. Und wie durchkältet ist mein Vaterhaus!« – sie schauerte – »man steht mit seinen warmen Füßen auf zu viel Marmor. Dazu ist Moritz ein so entsetzlich vornehmer Mann geworden« – zwei schelmische Grübchen zeigten sich auf ihren Wangen – »man erschrickt und schämt sich ja förmlich, wenn einem die eigene kahle Visitenkarte vor die Augen kommt … ja, meine liebe Frau Diakonus, ich kehre herzlich gern nach Dresden zurück, vorausgesetzt, daß Henriette mich begleitet; außerdem« – sie wandte sich, aus dem scherzenden Tone in einen sehr entschiedenen übergehend, wieder an den Doktor – »außerdem werde ich mein Möglichstes tun, mich in die gegebenen Verhältnisse zu schicken und zu bleiben, selbst auf die Gefahr hin, daß Moritz mich zwangsweise nach Dresden zu befördern versucht.«
Sie grüßte herzlich zu der alten Dame hinüber, verbeugte sich leicht gegen den Doktor und verließ den Garten, um doch noch in die Schloßmühle zu gehen, obgleich bereits der Abend hereinbrach.