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26.

In der Residenz wußte man sich seit langen Jahren keines Ereignisses zu erinnern, das alle Menschen so furchtbar aufgeregt und in peinlicher Spannung erhalten hätte wie die Explosion im Turme, der, außer dem Kommerzienrat, auch der Müller Franz zum Opfer gefallen war.

Zwei Tage waren seitdem verstrichen, und in diesen zweimal vierundzwanzig Stunden wandelte sich allmählich die bestürzte Klage, das Bejammern des verunglückten reichen Mannes in dumpfe, erschreckende Gerüchte, die vorzüglich die Geschäftsleute, den Handwerkerstand beunruhigten – da stand ja der Name des Millionärs noch mit vielen Tausenden rückständig in den Büchern. Der Kommerzienrat hatte alle die neuen Bauten und Verschönerungen auf seiner Besitzung Baumgarten in Akkord gegeben, und demzufolge war von seiner Seite bis zu dem Unglückstage nur ein Bruchteil der Forderungen berichtigt worden. Und nun ging der Ausspruch, den der Ingenieur schon beim ersten Anblick der entsetzlichen Zerstörung rückhaltlos getan, bestätigt und bekräftigt durch andere Sachverständige, von Mund zu Mund, und die bisher vollkommen zuversichtlichen und vertrauensseligen Lieferanten und Arbeiter mußten sich notwendig fragen, wie und wozu das Dynamit in den Weinkeller des Kommerzienrats von Römer gekommen sei, just unter die Räume, die alle seinen Besitzstand nachweisenden Papiere und Bücher umschlossen. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Vertrauliche Briefe aus Berlin sprachen von ungeheuren Verlusten, die der Kommerzienrat, um dessen entsetzlichen Tod dort noch niemand wußte, bei den neuesten, rasch aufeinander folgenden Zusammenbrüchen erlitten haben müsse. Zwar hatte er es, wie selten ein Spekulant, verstanden, vertraute Mitwisser von seinen Unternehmungen fernzuhalten; nicht einmal der frühere Buchhalter der Spinnerei, den er nach deren Verkauf als Sekretär beschäftigte, hatte einen Einblick in seine Börsengeschäfte gehabt. Der reiche Mann war ferner im Besitz jener glücklichen Begabung gewesen, die hinter einer stets aufgewirbelten undurchdringlichen Wolke funkelnden Goldstaubes die dunkle Kehrseite der Dinge und Verhältnisse unsichtbar zu machen weiß. Und so wäre es ihm doch vielleicht trotz der Nachricht von seinen Verlusten geglückt, auf immer als Opfer seiner Liebhaberei für das historisch merkwürdige Pulver im Turmkeller der Burgruine beklagt zu werden, wenn er sich nicht in der Dosis des modernen Sprengstoffes vergriffen hätte – das war die »in den Kulissen gebliebene Lücke, durch die man der Wirklichkeit auf den Leib gehen würde«, wie Flora gesagt hatte.

Während sich somit in der Stadt noch eine unausbleibliche Katastrophe lawinenartig vorbereitete, gingen auch im Trauerhause unheimliche Wandlungen vor sich. Am ersten Tage waren alle Befreundeten des Hauses herbeigeeilt und hatten bei aller Gedämpftheit der Stimmen und Schritte dennoch eine Art von Tumult hervorgerufen; am zweiten dagegen herrschte bereits eine tiefe, schwüle Stille in Erdgeschoß und erstem Stock, die um so drückender erschien, als die Läden vor den meisten der zertrümmerten Scheiben lagen und nur ein ungewisses, beklemmendes Halbdunkel zuließen. Noch ahnte die Frau Präsidentin nicht, daß nach dem furchtbaren Ereignis ein zweiter Sturz erfolgen werde; noch vereinigte sich all ihr Sinnen und Denken auf das, was nach dem unrettbar Zerstörten von dem großen Vermögen geblieben war und wem es zufallen würde. Mit der ganzen Selbstsucht des Alters gingen ihre Gedanken bereits völlig über den Toten hinweg. Nie war überhaupt das selbstsüchtige Element, das die Großmutter und ihre älteste Enkelin in gleichem Grade beseelte, so kraß und nackt hervorgetreten wie in diesen Tagen der Heimsuchung.

Flora hatte der Präsidentin sofort nach der Entscheidung in kurzen Worten angezeigt, daß sie ihr bräutliches Verhältnis zu Doktor Bruck gelöst habe, ohne die Gründe für diesen Entschluß auch nur zu berühren, und die alte Dame war nichts weniger als wißbegierig gewesen – sie hatte, für einen Augenblick aus ihrem fieberisch angestrengten Grübeln und Brüten aufgeschreckt, halb blöde emporgesehen und sich mit einem Achselzucken begnügt. Wie wenig bedeutend erschien diese Schicksalswendung im Leben der Enkelin neben der Tragödie, die eine hochgestellte verwöhnte Frau plötzlich aus wahrhaft fürstlichem Luxus in die beschränktesten Verhältnisse zurückzuschleudern drohte! Dann hatte sich Flora in ihre Zimmer zurückgezogen; unter dem Vorwande heftigen Unwohlseins war sie allen Beileidsbesuchen ausgewichen und hatte den ganzen ersten Tag mit Ordnen und Umpacken ihrer Sachen verbracht.

Im Untergeschoß aber, dem Aufenthalte der Hausangestellten und der Küchenbedienung, herrschte an dem Tage, der der lange erwartete und lange vorbereitete Hochzeitstag hatte sein sollen, eine Verwirrung, eine Auflösung alles Bestehenden, wie sie nur ein Haufen fluchtbereiter Menschen hervorbringen kann. Dort unten hatten die von der Stadt herdringenden Gerüchte bombenartig eingeschlagen, um so mehr, als schon am ersten Morgen nach dem Unglück einige Scharfsichtige unter den Leuten scheu und versteckt darauf angespielt hatten, daß möglicherweise »doch nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sei«. Nun erwartete man jeden Augenblick eine Gerichtskommission in das Haus treten zu sehen – ein jeder griff nach dem Seinigen, und dabei wurden in der offenstehenden Speisekammer die langen Tafeln voll Kuchen und Torten geplündert und die Bowlen ausgetrunken, die für den Polterabend bestimmt gewesen waren.

Und von hier aus kamen auch der Frau Präsidentin Urach die ersten bestürzenden Anzeichen, daß ihr Regiment in der Villa Baumgarten auch von anderen als beendet angesehen werde. Während sonst auf ihren ersten Klingelzug die Betreffenden herbeigestürzt waren, mußte sie wiederholt schellen, ja, sich zum Rufen bequemen; sie hörte, wie draußen ihr Löwenhündchen, dem die Dienerhände bisher als dem Abgott der Herrin schön getan und das sie gehätschelt hatten, unter einem Fußtritt aufschrie – und die Augen, die sie bis jetzt nur in scheuer Ehrfurcht niedergeschlagen gekannt hatte, sahen wie herausfordernd in ihr strenges Gesicht.

Von dieser Wandlung der äußeren Verhältnisse wurden die Bewohner des ersten Stocks nicht berührt. Henriette hatte sich stets gütig und nachsichtsvoll gezeigt – für die Dienerschaft war die kleine, gebrechliche Gestalt immer ein dem Tode geweihtes Kind gewesen; man war gewohnt, in ihrer Nähe lautlos auf den Zehenspitzen zu gehen und nur mit sanft gedämpfter Stimme zu ihr zu reden, und in diesen Rücksichten erschöpfte man sich heute doppelt, da ja »der Herr Hofrat« gesagt hatte, daß es bedenklich um die Kranke stehe.

Ja, sie lag droben im Wohnzimmer, fast nur noch kenntlich an den wunderschönen blauen Augen – wunschlos und willig den lebensmüden Leib der dunkeln Gewalt endlich überlassend, die ihr seit Jahren, Schritt für Schritt, auf den Fersen gefolgt war. Sie war sich vollkommen bewußt, daß sie sterben müsse; sie hatte alle schreienden Farben, mit denen sie sich stets einen Schein von Gesundheit und Jugendblüte zu erborgen gesucht hatte, nunmehr mit Abscheu von sich gewiesen. Wie in Schnee gebettet lag sie in den weißen Kissen und Decken, unter den weich herabfließenden Mullvorhängen. Es blieb ihr erspart, den flüchtigen Fuß von der heimischen Schwelle zu wenden und, Floras Vorschlag gemäß, in der Schloßmühle eine Zuflucht zu suchen. Sie ging, noch ehe das Gericht im Namen der geängstigten Gläubiger seine Hand auf die Reste eines in alle Lüfte zerstobenen märchenhaften Reichtums legte; sie ging, ohne noch hören zu müssen, daß das Brandmal eines schweren Verbrechens das Andenken ihres Schwagers belaste, dessen fürchterliches Ende auch zugleich die schwache Wurzel zerrissen hatte, mit der sich das zarte, so lange angefeindete Mädchendasein noch an die Erde festgeklammert hatte … Und was sie stets so heiß gewünscht, es erfüllte sich nun doch noch: sie wurde bis zum letzten Atemzuge von den Augen ihres Arztes behütet; er hatte ihr gesagt, daß er bei ihr bleiben und nicht eher nach L.....g gehen werde, als bis es »besser um sie stehe«. Nun war sie wieder so unaussprechlich glücklich, wie sie es im Fremdenzimmer der Tante Diakonus gewesen: Doktor Bruck pflegte sie, und ihm zur Seite stand Käthe – die beiden Menschen, die sie auf Erden am meisten geliebt hatte.

Käthe erholte sich rasch. Schon am Nachmittag des zweiten Tages war sie aufgestanden. Die schmale, um den Kopf gelegte Binde und die über den Rücken hinabhängenden Flechten, die ihrer Schwere wegen nicht über der Stirn liegen durften, erinnerten daran, daß sie eine Genesende sei, sonst aber hätte wohl niemand geahnt, daß der fürchterliche Stoß der Explosion diese schlanke Mädchengestalt weithin geschleudert und mit erstickenden Wassermassen überschüttet habe, daß sie verloren gewesen wäre, hätte nicht das Auge der Liebe sie gesucht. Ihre Haltung war kraftbewußt und fest wie vorher, und die ihr eigene Sammlung und Sicherheit war in ihr ganzes äußeres Wesen zurückgekehrt, wenn es auch stürmisch genug in ihrer Seele aussah. Neben dem tiefen Leid um die sterbende Schwester, um Römers trauriges Ende drängte sich ihr die furchtbare Gewißheit auf, daß ihr Schwager und Vormund bei dem grauenhaften Vorgang nicht ohne Schuld gewesen sei – auf eine derartige Andeutung, die sie angstvoll gegen Doktor Bruck gemacht hatte, vermochte dieser nicht »nein« zu sagen. Sonst war er still und schweigsam wie immer. Das erheischte schon Henriettens Zustand, aber es lag etwas eigentümlich Feierliches in dieser Verschlossenheit, von der auch die Tante Diakonus angesteckt zu sein schien.

Die alte Frau war in den Nachmittagstunden des ersten Tages, nach einer leise geführten Unterredung mit dem Doktor, verweint und doch unverkennbar freudig bestürzt aus dem Vorraum gekommen, der an Henriettens Schlafzimmer stieß, und hatte sich dann verabschiedet, um Betten und Möbel aus dem Hause am Fluß in die Stadtwohnung des Doktors schaffen zu lassen, wohin sie einstweilen mit ihrer Freundin übersiedeln sollte, bis die Ausbesserungen an dem verwüsteten Doktorhause vollendet seien. Sie hatte mit keinem Laut verraten, was in ihr vorgehe, aber sie hatte die Villa verlassen, um nur dann und wann, Henriettens wegen, für einige flüchtige Augenblicke vorzusprechen, wobei sie augenscheinlich bestrebt war, einer Begegnung mit Flora auszuweichen.

Die schöne Braut war auch nur ein einziges Mal oben erschienen, um nach der Schwerkranken zu sehen, genau zu der Zeit, wo sich Doktor Bruck infolge einer dringenden Aufforderung zum Fürsten begeben hatte. Es war zu sonderbar und verletzend, daß sie, Henriettens Wohnzimmer durchschreitend, an Käthes Lager vorüberschritt, als sei dort, wo sich die verwundete Schwester zu ihrer Begrüßung aufrichtete, die leere Wand. Sie hatte keinen Blick, kein Wort für »die Jüngste« und vermied es, auf demselben Wege zurückzukehren, indem sie sich von der Kammerjungfer die unmittelbar in den Gang führende Tür des Schlafzimmers aufschließen ließ. Zu alledem berichtete Nanni mit zweideutiger Miene, daß das gnädige Fräulein drunten sich zu schleuniger Abreise rüste.

Es war Käthe so schwer beängstigend zumute, als starrten sie aus allen Zimmerecken dunkle Rätsel an; sie wähnte die Decke, selbst den Himmel über ihrem Haupte nicht mehr sicher, weil alles Bestehende der stattgefundenen entsetzlichen Erschütterung nachstürzen müsse.

Einigemal im Lauf des Tages kam auch die Präsidentin herauf, eine schwarze Krepphaube über dem verstörten Gesicht und treulos verlassen von der kühlen, stolzen Ruhe eines wohlgeschulten Geistes, der sich, wie sie stets behauptet hatte, gerade in schlimmen Lebenslagen am glänzendsten bewähren müsse. Sie hatte nur Tränen und ein krampfhaftes Händeringen für die »fürchterliche Situation«, in die mit einem Schlage alle Bewohner der Villa geschleudert waren. Die erschöpfte Kranke atmete stets auf, wenn der letzte Zipfel des schwarzen Wollkleides der Großmama hinter der Tür verschwand.

Es war am Morgen des dritten Tages nach dem Ereignisse, als die alte Dame plötzlich die Tür des roten Studierzimmers aufriß und, ein Zeitungsblatt in der Hand, über die Schwelle wankte. Flora war eben beschäftigt, Zettel für ihr Gepäck zu schreiben; sie erhob sich und trat ahnungsvoll auf die Großmama zu, die in einen Armstuhl sank.

»Meine viertausend Taler!« stöhnte sie. »Kind, Kind, ich bin von Schurken betrogen um mein bißchen Hab und Gut, um das kärgliche Erbe, das mir der Großpapa hinterlassen hat … Meine viertausend Taler, die ich behütet habe wie meinen Augapfel –«

»Nein, Großmama, bleib bei der Wahrheit, sage lieber, deine viertausend Taler, mit denen du allzu leichtgläubig spekuliert hast!« fiel Flora in unerbittlichem, hart strafendem Tone ein. »Wie habe ich dich gewarnt! Aber da wurde ich ausgelacht und verhöhnt, weil ich meine wohlgesicherten Staatspapiere nicht auch ›mitarbeiten‹ ließ. Das Unternehmen, bei dem du beteiligt warst, ist zusammengebrochen?«

»Ganz und gar! Schurkisch! Da lies! Ich glaube, nicht fünfzig Taler bleiben mir,« rief die Präsidentin mit brechender Stimme und schlug die Hände vor das Gesicht. »Nur eines fasse ich nicht,« fuhr sie, wieder emporschreckend, fort, während Flora die bezügliche Nachricht überflog, »das Blatt bezieht sich auf frühere Mitteilungen; der Sturz muß demnach schon vor etwa vier bis fünf Tagen erfolgt sein – und Moritz hat nichts davon gewußt – unbegreiflich.«

»Sollte das nicht mit der ausgebliebenen Börsenzeitung zusammenhängen?«

»Ah – du meinst, unser armer Moritz hat mir während der Hochzeitsfeier den Schreck ersparen wollen und das Blatt zurückgehalten? Ach, ja – jedenfalls! Und er hätte mir auch den Schaden ersetzt, ich weiß es – war er es doch selbst, der mir die Sache eingeredet hat … O mein Gott, das ist ein Gedanke von oben. Nötigenfalls kann ich's beschwören, daß Moritz mich zu dem Unternehmen verleitet hat. Wie – sollte ich nicht daraufhin doch vielleicht Anspruch auf Ersatz aus der Erbschaftsmasse haben?«

Flora warf die Zeitung auf den Tisch; sie, die in allen Fällen rücksichtslos Vorgehende, war doch einen Augenblick in Verlegenheit, wie sie diesen unzerstörbaren Einbildungen gegenüber ihre Worte zu wählen habe. Sie hatte bis zur Stunde geschwiegen, voraussetzend, daß sehr bald einer der guten Freunde die Aufklärung übernehmen werde, aber die guten Freunde waren ja schon gestern ausgeblieben, es ließ sich keiner mehr blicken – und nun mußte sie es selbst tun; sie durfte doch nicht zugeben, daß sich ihre Großmama mit dieser beispiellosen Zuversicht und Harmlosigkeit vor aller Welt bloßstelle.

»Großmama,« sagte sie mit gedämpfter Stimme und legte die Hand auf den Arm der alten Dame, »es fragt sich vor allen Dingen, wie hoch sich diese Erbschaftsmasse beziffern wird.«

»O Kind, sieh dich um, sieh nur zum Fenster hinaus, und du wirst wissen, daß man den Abzug meiner viertausend Taler an dem Nachlasse kaum merken wird. Mag auch das ungeheure Kapitalvermögen, mit dem Moritz arbeitete, unwiederbringlich verloren sein, weil alle darauf bezüglichen Bücher und Urkunden vernichtet sind, die Liegenschaften und anderen Wertgegenstände, die er hinterlassen hat, bedeuten immer noch einen Besitz, den man reich, ja glänzend nennen darf.« – Ein tiefer, schmerzlicher Seufzer hob ihre Brust. »Ich wollte Gott danken, wenn ich den unbestrittenen Anspruch an diese Erbschaft hätte.«

Flora zuckte die Achseln. »Wer weiß, ob du sie antreten würdest –«

Die Präsidentin fuhr empor. »Bist du toll, Flora? So schwach ich auf meinen Füßen bin, ich wollte stundenweit laufen, ich wollte wochenlang hungern und dürsten und kein Auge schließen, wenn ich mir dadurch die Ansprüche der Alleinerbin erringen könnte. – Sollte man es glauben, daß das Geschick so teuflisch, so grausam sein könnte? Ich, ich in meiner Stellung, muß mich hinausstoßen lassen aus dem Hause, das seinen Glanz, seinen vornehmen Anstrich einzig und allein mir verdankt, und sie, eine ganz unbekannte alte Person, die jetzt noch ahnungslos altes Leinen für Fremde flickt, die es ihr Leben lang nicht besser gewußt und gehabt hat, sie wird sich hier breit machen.«

»Darüber brauchst du dich nicht aufzuregen, Großmama – die alte Tante am Rhein erbt so wenig wie du –«

»Ah, so treten doch noch andere Erben auf?«

»Ja – die Gläubiger.«

Die Präsidentin taumelte unter einem scharfen Aufkreischen in den Armstuhl zurück.

»Still! Ich bitte dich, errege kein Aufsehen!« murmelte Flora. »Drunten im Untergeschoß gibt es Leute, die das noch viel besser wissen als ich; sie sind im Begriff, das Haus zu verlassen, wie die Ratten das sinkende Schiff. Ich kann und darf es dir nicht länger verschweigen, wie die Sachen stehen. Jetzt heißt es sich der Lage gewachsen zeigen, wenn wir uns, als die Geprellten, nicht unsterblich lächerlich machen wollen.« – Sie zog die schwarze Kreppwolke um Kinn und Hals der alten Dame in die gehörige Faltenordnung und steckte die mit einer einzigen wilden Handbewegung völlig zerstörten weißen Lockenpuffen wieder auf. »So darf dich niemand sehen, Großmama,« sagte sie streng. »Wir müssen uns so rasch wie möglich mit Haltung und Ruhe aus der Angelegenheit ziehen – sie ist zu gemein und entehrend; darüber waltet kein Zweifel mehr, daß die Explosion eine Verzweiflungstat – auf deutsch gesagt: ein Schurkenstreich – von seiten Römers gewesen ist.«

»Der Elende! Der gemeine Betrüger!« schrie die Präsidentin aufspringend – die wahnsinnige Aufregung ließ sie plötzlich im Zimmer hin- und herlaufen, als sei ihr ein Räderwerk in die schwachen Füße gekommen.

Flora deutete nach dem einen Fenster, vor dessen zerschlagenen Scheiben kein schützender Laden lag. »Bedenke, daß man dich draußen hört!« warnte sie. »Seit dem Morgengrauen schleichen Geschäftsleute um das Haus. Die Aufregung in der Stadt soll grenzenlos sein; es sind Leute, die die Angst um ihr Geld aus den Federn getrieben hat. Was wir während des letzten halben Jahres in unserer großen Wirtschaft gebraucht haben, steht noch in den Büchern der Lieferanten. Der Fleischer hat sich sogar in das Haus hereingewagt und in dreister Weise gefordert, daß man dich wecken möchte, er habe mit dir zu reden. Jedenfalls will er versuchen, von dir, weil du dem Haushalte vorgestanden hast, die ihm schuldigen sechshundert Taler zu erpressen, ehe die Gerichte einschreiten. Er ist frech genug gewesen, meiner Jungfer zu sagen, die Damen des Kommerzienrates hätten ja auch mitgegessen.«

»Pfui, in welchen Sumpf hat uns jener erbärmliche Wicht gelockt, um sich dann feig aus dem Staube zu machen!« rief die Präsidentin, halb erstickt vor Grimm und Erbitterung, und zog sich unwillkürlich von dem offenen Fenster zurück. Sie rang die Hände. »Gott im Himmel, welch entsetzliche Lage! Was nun tun?«

»Vor allen Dingen einpacken, was uns mit Fug und Recht gehört, und das Haus räumen, wenn wir nicht wollen, daß unser Eigentum mit versiegelt werde; da könnten wir wohl lange warten, bis es uns zurückgegeben würde. Ich bin eben im Begriff, hinaufzugehen und meinen« – sie unterbrach sich mit einem schneidenden Lachen – »meinen Brautschatz in Kisten und Koffer zu bringen. Dann will ich mit den Leuten die Hausbestände aufnehmen, und wenn du nicht selbst die Übergabe vollziehen willst –«

»Nun und nimmermehr –«

»Dann mag es die Wirtschafterin tun; wir haben Grund genug, krank zu sein.« Sie nahm den Schlüssel zu dem Zimmer, in dem der Brautschatz aufgestellt war, aus ihrem Schreibtisch, während die Präsidentin mit verzweifelt gen Himmel gehobenen Armen davonstürzte, um das Ihrige vor den Gerichtssiegeln in Sicherheit zu bringen.


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