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36. Träume des Traumdeuters

Sucht man die ersten Erlebnisse, die diesen interessanten Charakter vorgebildet haben, so ist Freud ein Schulfall und zugleich eine Entschuldigung für seine Theorie. Da mit acht Jahren alles vorgebildet und fertig war, unveränderlich gegeben und von wenigen Eindrücken der Kindheit für immer bestimmt, da später nichts in sein Leben trat, was ihn auf dieser Bahn erschüttern konnte, ist auch sein Gesicht das gleiche geblieben; beide Erscheinungen erklären einander.

Aber nicht bloß Freuds Laufbahn, auch seine Lehre stammt aus dieser Quelle. Denn da er von Natur eigensinnig, einsam, Menschenfeind, geborener Herrscher, nur sich selbst vertrauend war und immer blieb, übertrug er seine Abhängigkeit von den Kindererlebnissen auf alle anderen Menschen. Weil Freud von seiner Kindheit nie loskam, dekretierte er, kein Mensch könne von seiner Kindheit loskommen.

Der Mangel innerer Entwickelung, den Leben, Arbeit und Antlitz gleicherweise darstellen, dieser großartige Fanatismus, der ihn nach Art befehlender Propheten bestimmte, gab ihm zuerst die Kraft, an seiner umstrittenen Lehre festzuhalten, und verurteilte ihn später, sie bis ins Unmögliche durch alle Felder der Kunst und des Geistes zu übertreiben. Daß aus einem bedeutenden Nervenarzt ein Diktator abstruser Ideen wurde, ist die Folge eines eigensüchtigen Charakters. In dem leidenschaftlichen Streben dieses antimusischen Menschen, die ihm erschlossene Welt rational zu erklären, gleicht Freud einem reichen alten Manne, der jahrelang eine wunderbare Frau umwirbt, die er mit all seinen Schätzen nicht erobern kann. Anstatt sich in der begrenzten Provinz zu betätigen, die er beherrschte, strebte Freud ins Unbegrenzte und blieb auf ewig ausgeschlossen.

Freuds Kindheit war vom Blick auf seinen Vater bestimmt, und aller Vaterhaß, den er später seinen lebenden und historischen Patienten andichtete, stammt aus dieser Quelle; daß er selbst zugleich die düsteren Träume hatte, mit denen er alle normalen Menschen ihre Mutter verfolgen läßt, muß man aus seinen Berichten schließen. Mit dem Vaterkomplex fängt Freuds Leben an, und daß er achtzig Jahre lang mit ihm kämpfte, ohne ihn zu überwinden, ist eine tragikomische Geschichte.

Freuds Vater war ein gebildeter Jude aus dem Mährischen, der zeitig nach Wien zog, wo die Familie dann verarmte. In der Enge schliefen ein oder zwei Kinder bei den Eltern. Freud erzählt zu wiederholten Malen von dieser Kindheit, und zwar schon mit dreißig und noch mit fünfundsiebzig Jahren, in seinen Büchern. Eine der beiden Hauptstellen bezieht sich auf sein siebentes bis achtes Jahr, sie lautet:

»Ich setzte mich abends vor dem Schlafengehen über das Verbot der Diskretion hinweg, Bedürfnisse nicht im Schlafzimmer der Eltern und in deren Anwesenheit zu verrichten, und der Vater ließ in seiner Strafrede darüber die Bemerkung fallen: &›Aus dem Buben wird nie etwas werden!‹ Es muß eine furchtbare Kränkung für meinen Ehrgeiz gewesen sein, denn Anspielungen auf diese Szenen kehren immer in meinen Träumen wieder und sind regelmäßig mit Aufzählung meiner Leistungen und Erfolge verknüpft, als wollte ich sagen: Siehst du, ich bin doch etwas geworden!« Daß ein solches verächtliches Wort einen Menschen noch Jahrzehnte später anspornen kann, wissen wir alle. In Freud aber blieb nicht bloß das Wort, sondern die Szene bis in sein Alter lebendig und von entscheidender Bedeutung:

»Ich soll«, schreibt er, »im Alter von zwei Jahren gelegentlich das Bett naß gemacht haben«, und er findet »die Urinierszene mit der Größensucht eng verbunden«, worauf er diesen einzigartigen Zusammenhang sofort auf seine Patienten überträgt. Freuds eigene Träume, die er zum Beweise seiner Traumtheorien aufschreibt, kehren in Varianten wiederholt zu dieser Szene zurück. Etwa dreißig Jahre nach jener Kinderszene träumt Freud von dem inzwischen fast erblindeten, schwer leidenden Vater, daß er urinieren müßte, »so daß jetzt die Rollen zur Rache vertauscht waren. Der alte Mann uriniert jetzt vor mir, wie ich damals vor ihm … Weil er blind ist, muß ich ihm das Glas vorhalten und schwelge in Anspielungen auf meine Erkenntnisse in der Lehre von der Hysterie, auf die ich stolz bin.«

Freud fügt hinzu, daß er »das urinierende Glied des Vaters plastisch im Traume sah, und schließt: »Die detaillierte Analyse der übrigen Traumstücke muß ich zurückhalten … Man wird mit Recht vermuten, daß es sexuelles Material ist, welches mich zu dieser Unterdrückung nötigt.«

Auch in einem zweiten von den eigenen Träumen, die Freud uns mitteilt, wird das Urinieren mit dem Ehrgeiz verbunden, und da er sich dabei mit Herakles und Gulliver vergleicht, denkt er im Traume: »Merkwürdig, wieder ein Beweis, daß ich der Übermensch bin!« Dies alles, mit dem Vergleich seiner Erfolge, die in seinen Träumen immer wiederkehren, führt ihn zu dem merkwürdigen Schluß: »Und so habe ich auf diesem Wege nicht nur den Vater überwunden und mich an ihm gerächt, sondern ich habe dadurch zugleich auch den Vater gerächt.«

Es tritt nämlich ein zweites Motiv zum ersten: eine Erniedrigung des Vaters, von der Freud als Kind erfuhr und von der ein zweiter Antrieb für seinen Ehrgeiz ausging. In seinem zehnten bis zwölften Jahre erzählte ihm nämlich der Vater, er sei in ihrer Kleinstadt »an einem Sonnabend, schön gekleidet, eine neue Pelzmütze auf dem Kopfe, spazieren gegangen.« Da sei ihm ein Mann begegnet, habe ihm die Mütze vom Kopf geschlagen, daß sie drüben in den Kot fiel, und ihn – »Du Jud!« – vom Bürgersteig gejagt. Der Knabe fragte ängstlich, was er nun getan hätte.

»Ich bin auf den Fahrweg gegangen und habe die Mütze aufgehoben.«

»Das schien mir nicht heldenhaft«, fährt Freud fort, »von dem großen, starken Mann, der mich Kleinen an der Hand führte. Ich stellte dieser Lage, die mich nicht befriedigte, einen anderen Mann gegenüber, der mir besser entsprach: die Szene, in welcher Hannibals Vater Hamilkar Barkas ihn vor seinem Hausaltare schwören läßt, an den Römern Rache zu nehmen. Seitdem hatte Hannibal einen Platz in meiner Phantasie.«

Später, als Freud mit anderen jüdischen Kindern in der Schule verhöhnt wurde, »hob sich die Gestalt des semitischen Feldherrn Hannibal noch höher vor meinen Augen«. Diesen Erlebnissen schreibt er eine Wirkung zu, »die noch heute (mit Mitte Vierzig) in allen diesen Empfindungen und Träumen ihre Macht äußert«; er führt zugleich auf seinen Vergleich mit Hannibal seine Scheu zurück, nach Rom zu gehen, obwohl er zweimal dicht davor stand. Mit der Ausdauer des Puniers, schreibt er, habe er sein wissenschaftliches Ziel zu erreichen gesucht.

Von diesen Kinderszenen ging Freuds fixe Idee vom Vaterkomplex aus. Wenn der alte Freud nicht jene beiden Sätze zu dem Kinde gesprochen hätte, so hätte weder Moses noch Odysseus, noch der alte Bonaparte, noch der Vater Lionardos die seelischen Erschütterungen erlebt oder hervorgerufen, die Freud ihnen später suggerierte. Er selbst betont, daß sowohl Haß wie Verehrung gegen den eigenen Vater aus jenen Szenen in seine Seele traten. Sogar Moses, der die Vaterstelle einnimmt, erschreckte ihn in der Statue des Michelangelo so sehr, daß er sich »manchmal behutsam aus dem Halbdunkel des Raumes schlich (in der römischen Kirche), als gehörte ich selbst zu dem Gesindel, auf das sein Auge gerichtet ist«.

Noch im hohen Alter stellt Freud in einem Artikel »Verwirrung auf der Akropolis« dar, wie er den Vorzug, so weit reisen zu können, mit der Armut seiner Jugend verglich, und schließt: »Dies hat mit der Kritik des Vaters zu tun, mit der Unterschätzung, die an die Stelle der Überschätzung der früheren Jahre trat.« Auch Freuds Biograph betont, das Vaterwort »Aus dem Buben wird nie etwas werden« erfüllte ihn sein ganzes Leben lang mit dem Trotz, Autoritäten abzulehnen und im Kampfe mit den legitimen Professoren hart und stolz zu bleiben.

Wenn Freud im Berichte seiner Träume nicht vom Ödipus spricht, so sagt er deutlich, warum. Freud nämlich machte in seinen weder von Ehrfurcht noch von Geschmack gehemmten Analysen großer Männer nirgends halt: nur vor sich selber. Da er keine anderen Träume von Gesunden kannte als die eigenen, gab er von diesen Teile preis, machte aber in seinen eigenen Konfessionen dort halt, wo es ihm gefiel, und ließ den Vorhang dort fallen, wo er ihn vor Lionardo und vor seinen sämtlichen Patienten wegzieht. Bei sich selber entdeckt Freud plötzlich »die Peinlichkeit, in die Intimitäten seines psychischen Lebens fremden Einblicken mehr zu eröffnen, als ihm lieb sein konnte« und »als sonst ein Autor, der nicht Prophet, sondern Naturforscher ist, sich zur Aufgabe stellt«.

Deshalb hat Freud bis zum Tode seines Vaters gewartet, bis er jene Szenen preisgab, und von seiner Mutter nie gesprochen, da sie erst starb, als Freud schon über Siebzig war. Wenn er aber die Erzählung seines Kindertraumes plötzlich abbricht, so setzt er doch hinzu, »daß es sexuelles Material ist, welches mich zu dieser Unterdrückung nötigt«, und daß »die persönlichen Opfer zu groß sind, um das fehlende Stück des Traumes voll aufzuklären«. Hier kann nur der Ödipus-Komplex gemeint sein, und Freud weist noch an anderer Stelle mit den Worten darauf hin: » Wie Ödipus leben wir in Unwissenheit der die Moral beleidigenden Wünsche, welche die Natur uns abgenötigt hat, und nach deren Enthüllung möchten wir wohl alle den Blick abwenden von den Szenen unserer Kindheit.«

Wer die souveräne Verallgemeinerung verfolgt hat, zu der Freud überall seine persönlichen Erlebnisse erhob, sieht den Ursprung auch des Ödipus-Komplexes in seinen eigenen infantilen Erinnerungen.

In einem anderen seiner Träume, den Freud selber analysiert, vereinigen sich die beiden Elemente der vorigen Träume: »Eine Anhöhe, auf dieser eine sehr lange Bank, an deren Ende ein großes Abortloch. Die ganze hintere Kante dicht besetzt mit Häufchen Kot von allen Stufen der Größe und Frische. Hinter der Bank ein Gebüsch. Ich uriniere auf die Bank, ein langer Harnstrahl spült alles rein, die Kotpatzen lösen sich leicht ab und fallen in die Öffnung.« Freud erklärt das Ausbleiben von Ekel sich und uns dadurch, daß er sich »als Herkules gefühlt hat, der den Augiasstall gereinigt hat. Ich habe die Kindheits-Ätiologie der Neurosen aufgedeckt und dadurch meine eigenen Kinder vor Erkrankung bewahrt«: Dies nennt er eine »herzerfreuende Deutung«.

Sieht man von allem Grotesken ab, so bliebe mindestens der Unterschied, daß Herkules der Erste den Stall mit anderen Gliedern reinigte. Solche Träume und daß er sie selbst mitteilt, lassen tiefe Schlüsse zu auf die Phantasiewelt eines Menschen. Hat man diesen Traum gelesen, so wundert man sich nicht mehr, daß derselbe Mann die Vision von der Löschung des Urfeuers durch den Harnstrahl des Urmenschen erfand.

Die Sonderbarkeit der Freudschen Dogmen und Visionen stammt also aus seinen persönlichen Erlebnissen, ähnlich wie man Grecos überlange Körper und Gesichter aus einem Augenfehler erklärt hat, der ihm alle Menschen so erscheinen ließ. Wir kennen manche Beispiele ähnlicher Art, und Lionardo erkannte sie als Gefahr, denn er schrieb: »Hast du häßliche Hände, so lerne von Jugend auf Hände malen, denn du bist in Gefahr, allen Menschen häßliche Hände zu malen.« Bei den Malern bleibt eine solche Gefahr auf ihr Werk beschränkt; ein Seelenarzt mit solchen Träumen dagegen gefährdet die Kranken, denn was beim Künstler Autosuggestion war, wird beim Arzte Suggestion. Tausende von Nervenleidenden werden als sexoman erklärt, weil der Begründer jener Theorie sexoman war. Alle gesunden Menschen werden als sexoman erklärt, weil ein einzelner Mann in seiner Kindheit von düsteren Trieben verfolgt wurde. Die Welt wird sexualisiert, alle Motive werden auf den Kopf gestellt, weil eine hartnäckige und herrische Natur ihre krankhaften Visionen den Menschen als normale zuführte und schwache und defekte Nervensysteme bereit fand, nach jenen Phantasien zu greifen.

Jeder Prophet schafft sich eine Welt nach seinem Ebenbilde. Ist sie groß wie bei Platon und Jesus, so lohnt es die Nachfolge; ist sie krankhaft, so soll man davor warnen.


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