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24. Goethe

Als Freud einmal mit seinem Biographen in seinem Studio vor der großen Goethe-Ausgabe stand, zeigte er auf die lange Reihe und sagte: »All das hat der Mann gebraucht, um sich selbst zu verstecken.«

Unter allem, was Freud über Goethe gesagt hat, ist dies das Dümmste. Soviel an diesem Werke gedeutet wurde, das eine haben alle angenommen: nach seinen eigenen Worten sei es eine große Konfession. Wer die Aufrichtigkeit nicht anerkennt, mit der sich Goethe sechzig Jahre lang selber dargestellt hat, ja daß er überhaupt nichts tat, als sich selber darzustellen, der kann nur von seinem eigenen Urtriebe gedrängt werden, ein solches Streben zu leugnen. Daß Freud Fausts Gegenteil ist, sieht man sogleich, er leugnet ja das Streben; daß er aber nicht groß genug zum Mephisto ist, tritt selten so klar hervor wie hier, denn Mephisto glaubt an Fausts Wahrheit. Freud aber ist nur ein Teil des Teils von jener Kraft.

Und doch ist all der Unsinn, den Freud über Goethe geschrieben hat, weniger gefährlich als bei Lionardo. Denn während dort das scheußliche Bild übrigbleibt, das er zeichnete und das uns wie ein Nachtmahr gelegentlich vor den Bildern des Meisters überfallen kann, sind seine drei oder vier Deutungen zu Goethes Leben nur wenigen verständlich, weil sie es im einzelnen nicht kennen. Ich gebe sie nur aus demselben Grunde wieder, aus dem ich die »Fehlleistungen« der Analyse historischer Gestalten ans Licht ziehe: um die unter Lebenden zu diskreditieren.

Goethe, als der älteste Sohn, hatte eine Schwester, die mit ihm heranwuchs, aber außerdem drei kleine Geschwister, die alle nach wenigen Monaten oder Jahren starben; ein Schicksal, das sich später in Goethes eigenem Hause wiederholte. An dieses Faktum knüpft Freud seine Analyse des Kindes Goethe, gestützt auf eine Anekdote, die sich im Anfang von Goethes Memoiren aus seiner Kindheit findet:

»Es war eben Topfmarkt gewesen, und man hatte nicht allein die Küche für die nächste Zeit mit solchen Waren versorgt, sondern auch uns Kindern dergleichen Geschirr zu spielender Beschäftigung eingekauft. An einem schönen Nachmittag, da alles ruhig im Hause war, trieb ich im Geräms mit meinen Schüsseln und Töpfen mein Wesen, und da weiter nichts dabei herauskommen wollte, warf ich ein Geschirr auf die Straße und freute mich, daß es so lustig zerbrach. Die von Ochsenstein (wohnten gegenüber), welche sahen, wie ich mich daran ergötzte, daß ich so gar fröhlich in die Händchen patschte, riefen: &›Noch mehr!‹ Ich säumte nicht, sogleich einen Topf und, auf immer fortwährendes Rufen: &›Noch mehr!‹ nach und nach sämtliche Schüsselchen, Tiegelchen, Kännchen gegen das Pflaster zu schleudern.

»Meine Nachbarn fuhren fort, ihren Beifall zu bezeigen, und ich war höchlich froh, ihnen Vergnügen zu machen. Mein Vorrat aber war aufgezehrt, und sie riefen immer: &›Noch mehr!‹ Ich eilte daher stracks in die Küche und holte die irdenen Teller, welche nun freilich im Zerbrechen noch ein lustigeres Schauspiel gaben; und so lief ich hin und wieder, brachte einen Teller nach dem anderen, wie ich sie auf dem Topfbrett der Reihe nach erreichen konnte, und weil sich jene gar nicht zufriedengaben, so stürzte ich alles, was ich von Geschirr erschleppen konnte, in gleiches Verderben. Nur später erschien jemand, zu hindern und zu wehren. Das Unglück war geschehen, und man hatte für so viele zerbrochene Töpferware wenigstens eine lustige Geschichte, an der sich besonders die schalkischen Urheber bis an ihr Lebensende ergötzten.«

Bisher war diese Stelle niemand aufgefallen, auch nicht dem Professor Freud. Die deutschen Leser hielten dies für eine jener gemütlichen Erinnerungen, in denen ein Dichter bei guter Laune auf seine Kindheit blickt. Da der ganze Bericht seiner Kindheit den Knaben Goethe gesund und unbefangen schildert und die Konflikte erst später beginnen, so paßte auch die Anekdote vom zerschlagenen Geschirr in die Sphäre eines munteren, neugierigen Kindes.

Wie aber Freud beständig vom Kranken auf den Gesunden schließt, so erweckte ein neurotischer Patient mit einemmal in ihm den Einfall, dessen krankhafte Reaktionen auf das gesunde Kind zu übertragen, das später Goethe wurde. Ein junger Wiener erzählte nämlich Freud in der Sprechstunde, er sei mit vier Jahren durch die Geburt eines Bruders geärgert worden, den er als Säugling am liebsten umgebracht hätte; aus Wut habe er alles erreichbare Geschirr aus dem Fenster geworfen. Diese Geschichte faszinierte Freud, und er schrieb:

»Das Kind (Goethe) muß, als es das Geschirr hinauswarf, drei Jahre gewesen sein, damals, als er einen Bruder bekam.« Das steht zwar nicht im Buch, denn da das Kind mit Drei, und dann mit Fünf, Geschwister bekam, kann die Szene ebensogut nahe als fern von der Geburt der Kinder spielen.

Indessen, Freud dekretiert: er war drei Jahre, und ähnlich wie der Wiener, wollte Goethe symbolisch seinen Wunsch zur Beseitigung des Störenfriedes in der Kinderstube bekräftigen. Goethe schreibt zwar noch nach sechzig Jahren, daß ihn die zuschauenden Nachbarn zu immer neuem Zerbrechen verlockt hätten, nennt sie ausdrücklich die Urheber, ja die ganze Szene nimmt ihren Charme aus der drolligen Aufforderung ernster Männer an ein Kind, die halbe Küche der Eltern zu opfern.

Doch Freud weiß es besser als Goethe, er polemisiert gegen ihn und schreibt: » Wir glauben nicht, daß es die Lust am Klirren und Brechen war, welche solchem Kinderstreich einen dauernden Platz in der Erinnerung des Erwachsenen sichern konnte.« Er tat es vielmehr, weil er etwas Schlechtes tun wollte, um die Erwachsenen zu ärgern, er hatte » wahrscheinlich einen Groll gegen die Eltern zu befriedigen«. Sagt er nicht selbst, daß er das Geschirr nicht bloß auf den Boden warf? Sollen wir etwa glauben, daß es für ein Kind lustiger ist, es zum Fenster hinauszuwerfen, statt bloß vor sich hin? Oder daß die Zuschauer drüben das Schauspiel nur genießen konnten, wenn das Geschirr auf die Straße flog? Hinaus! » Hinaus bedeutet, das neue Kind soll fortgeschafft werden, durchs Fenster, möglicherweise darum, weil es durchs Fenster gekommen ist.«

Aber Freud schrieb dies damals noch nicht; er wartete, bis ein anderer Patient kam, der von sich als Dreijährigem dieselbe Geschichte erzählte, mit dem Zusatz, er habe das Geschirr »einige Zeit nach der Geburt des Bruders« hinausgeworfen. Freud benutzt diese Mitteilung, » als ob der Patient gesagt hätte: weil ich erfahren, daß ich einen Bruder bekommen habe, habe ich einige Zeit nachher das Geschirr auf die Straße geworfen … Das Hinausbefördern, die Exekution war das Wesentliche … Vor dieser Aussage ließ ich jeden Zweifel fallen.«

Die Statistik scheint unter Analytikern kurz und einfach zu sein: ein Fall genügt nicht, aber zwei machen ein Gesetz. Wenn zwei Neurotiker aus ihrer Kindheit dasselbe erzählen, was Goethe aus der seinen erzählt, so ist eben Goethe ein Neurotiker gewesen. » So stellte sich ein tadelloser Zusammenhang dar, den wir sonst nicht entdeckt hätten.« Hierauf erfindet der Dramatiker Freud folgenden Monolog Goethes:

»Ich bin ein Glückskind gewesen, das Schicksal hat mich am Leben erhalten, obwohl ich für tot auf die Welt gekommen bin. Meinen Bruder aber hat es beseitigt, so daß ich die Liebe der Mutter mit ihm nicht zu teilen brauchte.« Daher behielt Goethe – so schreibt Freud – für sein Leben »das Eroberergefühl, die Zuversicht des Erfolges. Und eine Bemerkung solcher Art: Meine Stärke wurzelt in meinem Verhältnis zur Mutter hätte Goethe seiner Lebensgeschichte voranstellen dürfen.«

Wir sind angelangt. Der Weg ging von einem Streich des dreijährigen Kindes über den ihm nach zwei Jahrhunderten von einem deutschen Seelenforscher oktroyierten Haß gegen den Bruder bis zur Mitteilung, daß er glücklich war, die Mutter nicht teilen zu müssen und bis zu dem moralischen Tadel, warum er es nicht vor der Nachwelt aussprach, daß seine Stärke im Verhältnis zur Mutter wurzelte. Ewig schade, daß Goethe diese Freudsche Formel verabsäumt hat: wie glücklich wären die Deutschen gewesen, die sich immer noch über Goethes Verhältnis zur Mutter ärgern! Hier hat Freud einen Freudschen Fall verabsäumt.

Goethes Kraft ruhte niemals in der Liebe zur Mutter. Er ließ vielmehr zwanzig Jahre vergehen, ohne seine Mutter, die nur etwa hundert Meilen entfernt wohnte, ein einziges Mal zu besuchen, und hat sie nie in seinem Hause aufgenommen: ein langes, kompliziertes Kapitel, dessen Verständnis nur uns Laien sich eröffnet. Erfunden und schief wie der Anfang ist also das Ende der Analyse, die Freud mit Goethe anstellt.

Ebenso haben es seine Schüler getrieben. Doktor Rank, eine andere Größe, erklärte »die Schau- und Entblößungslust als eine dominierende Komponente im Triebleben des Dichters«, wofür nichts fehlt als der Beweis. Wir Laien haben in Goethe eine übertriebene Zurückhaltung in dieser Richtung gefunden, und selbst in tollen Jugendtagen gibt es nicht eine einzige Szene, nicht einen einzigen Vers oder Satz, der von fern auf solche Triebe hinwiese.

Ein anderer Schüler Freuds, Herr Winterstein, erklärte, Goethes große Freundin, Frau von Stein, für eine »Wiederholung von Mutter und Schwester«, obwohl es in dem berühmten Verse heißt: »Denn du warst in abgelebten Zeiten meine Schwester oder meine Frau.« Als er nun vor ihr nach Italien floh, war dies »zugleich eine Flucht in die Kindheit. Es ist dies eine Übertragung des Zeitlichen ins Räumliche, wie sie von Freud auch in Träumen nachgewiesen wurde.«

Auf jener Reise, besonders in Sizilien, war Goethe, wie überall und immer, mit Dichtung und Forschung gleichzeitig beschäftigt. Er entwarf ein Drama »Nausikaa«, verfolgte aber zugleich seine botanischen Arbeiten, die ihn schon lange Jahre zuvor zu Hause fesselten. Über diese Alternative zwischen Dichten und Forschen findet sich eine Stelle in seinem Tagebuch, die sich von selbst erklärt: Als er eines Morgens in Palermo mit dem festen Vorsatze, seine Dichtung fortzusetzen, in den Park trat, »erhaschte mich, ehe ich's mir versah, ein anderes Gespenst, das mir schon diese Tage nachgeschlichen, die Urpflanze. Gestört war mein guter poetischer Vorsatz, der Garten des Alkinous war verschwunden, ein Weltgarten hatte sich aufgetan.«

Kann ein Analytiker dergleichen annehmen, wie es ihm vom gesunden Sinne dargereicht wird? Da muß die alte Mutter wieder herauf, ohne die es keine Forschung und keine Dichtung geben kann! Hier ist der analytische Schlüssel: »Seinem Widerstande gelang es schließlich, den Affekt auf ein persönliches Opfer zu verschieben … Daß die Urpflanze ein alles Anstößigen entkleidetes Mutterderivat darstellt, braucht wohl nicht besonders betont zu werden.«

»Alles Anstößigen entkleidetes Mutterderivat«: was für brünstige Visionen haben diese auf den Kopf gestellten Wortbildungen erzeugt! Das Entkleiden bedeutet sonst grade das »Anstößige«, und bei einem »Derivat von der Mutter« wird dem Leser leicht übel. Aber das Ziel ist erreicht: ein so interessanter Patient konnte nicht ohne Libido zur Mutter entlassen werden.

Doch wie! Muß man nicht Faust, dem Doppelgänger Goethes, ähnliche Ehren erweisen? Kann man ihn ohne ödipalen Lendenschurz, sozusagen nackt herumlaufen lassen? Da hat ein dritter Schüler Freuds vorgesorgt. Zwar hat man Faust alles Mögliche andichten, ihn nach rückwärts historisch und nach vorwärts mit dem Dichter vergleichen können, doch niemand hatte etwas anderes gefunden als seinen Vater, von dem er einmal spricht. Daß Faust eine Mutter gehabt hat, ist anzunehmen, aber in diesem ganzen langen Werke, in dem sich der Dichter sechzig Jahre lang gespiegelt, fehlt eigentlich nur dieses eine Urelement, die Mutter. Denn seine Fahrt »zu den Müttern« scheint von den Analytikern verschont geblieben.

Nun aber hat es Doktor Wittels aufgedeckt und kundgetan: der sogenannte faustische Mensch ist von Goethe als ewiger Wunsch nach seiner Mutter geschaffen worden. Da glaubten wir nun hundert Jahre – und Goethe selbst hat es ein Dutzend Male ausgesprochen –, Faust strebe nach Weisheit, Tatkraft, Liebe, er strebe, ein Ebenbild der Gottheit zu werden – und jetzt, ach, so spät, erfahren wir, er wollte sich nur die geistige Welt unterwerfen, weil er sich seine Mutter nicht unterwerfen konnte: ganz ähnlich wie Bruder Napoleon.

Ein reiner Gedanke, ein unbefangenes Forschen, ein Streben um der Weisheit oder um des Werkes willen darf es bei Freud nicht geben. Daß Goethe bis in hohe Jahre hinein malte und zeichnete, hat bedeutende psychische Gründe, die Analytikern nicht zugänglich sind. Da sie nun aber nicht ohne Komplexe und Übertragung leben können, haben sie auch Goethes Maltrieb in ihre Netze eingefangen. Sie erklären, daß Dichtung und Malerei Schwestern sind. Wer das nicht glaubt, nehme es für einen Augenblick an, sonst geht's nicht:

Nach dem Ende seiner ersten unglücklichen Liebe, etwa sechzehnjährig, » übertrug Goethe diese auf seine Schwester«. Deshalb übertrug er auch jetzt sein Dichtertalent auf die Schwesterkunst. Hier zeigen sich Unsinn und Unwissenheit als echte Schwestern. Goethes Neigung zu seiner Schwester war in jenen Jugendjahren ebenso konstant wie seine Neigung zur Malerei, beide begleiteten ihn noch durch sein drittes Jahrzehnt; er schwankte, ob er nicht Maler werden wollte.

Aber der Professor hat einen Zusatz, der einen leisen Tadel enthält, warum sich der junge Goethe nicht schon damals auf den alten Goethe vorbereitete, denn nur die Liebe zur Schwester kann ihn zur Schwesterkunst abgelenkt haben. Deshalb fügt der Analytiker hinzu: » Obwohl Goethe vollauf fähig war, sich poetisch auszudrücken. «

Mit diesem monumentalen Attest über das Talent des Dichters Goethe schließt die Debatte.


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