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Zu den komischen, nicht kränkenden Analysen dichterischer Gestalten gehört eine, in der Doktor Reik – immer in Freuds Zeitschrift – uns erklärt, warum Goethe Friederike verließ, jene Pastorstochter, die er als einundzwanzigjähriger Student in Sesenheim liebte. Auch diesmal hat eine Wiener Patientin die Aufklärung über die verstorbene Friederike gegeben. Der Autor füllt sechzig Seiten damit.
Es handelt sich um zehn berühmte Zeilen von Goethe. Er erzählt, daß er seiner Geliebten beim Abschiede die Hand vom Pferde gereicht habe und in tiefer Depression fortgeritten sei: »Da überfiel mich eine der sonderbarsten Ahnungen. Ich sah nämlich, nicht mit den Augen des Leibes, sondern des Geistes, mich mir selbst denselben Weg zu Pferde wieder entgegenkommen, und zwar in einem Kleide, wie ich es nie getragen: es war hechtgrau mit etwas Gold. Sobald ich mich aus meinem Traume geschüttelt, war die Gestalt ganz hinweg. Sonderbar ist es jedoch, daß ich nach acht Jahren in dem Kleide, das mir geträumt hatte und das ich nicht aus Wahl, sondern aus Zufall grade trug, mich auf demselben Weg fand, um Friederike noch einmal zu besuchen.«
Da solche zarten Gefühle in der Welt des Analytikers nicht leben, sucht er wie üblich den Sexus und hat ihn schnell gefunden. Er erklärt, Goethe sei besonders deshalb wiedergekommen, um sich »in glänzendem Kleide zu zeigen, da er jetzt ein Hofmann geworden«, denn das Kleid vertrete unbewußt den eigenen Körper. Goethe fürchtete sich nämlich vor der Kastration und sagte sich jetzt: »Ich bin noch in vollem Besitze meiner Männlichkeit!«
Wir hörten es. Der Dichter erzählt eine noch nach vierzig Jahren frische Erinnerung, berichtet von einer Vision und ihrer seltsamen Erfüllung nach Jahren. Er sagt, daß er das Kleid durch Zufall anzog und erst später die Identität bemerkte. Wer hätte nicht einmal jenes sonderbare Erschauern gespürt, da man sich plötzlich die Frage stellt, habe ich das nicht schon einmal erlebt? In der kurzen Geschichte ist weder von Männlichkeit noch von Altern, noch von Glanz, noch von Hof, noch von Sexus die Rede. Kein Brief oder Gedicht, keine Beobachtung eines Zeugen deutet darauf hin, daß sich der kaum dreißigjährige, gesunde Dichter im Zweifel über seine Männlichkeit befand; da er keinen Nervenarzt hatte, brauchte er sie sich nicht alle Tage zu beweisen.
Noch mehr. Der Dichter hat eingestanden, seine verlassene Geliebte falle ihm manchmal ein, wenn er auf einem Hügel stände. Ein wunderbarer, ach so leicht erklärlicher Zusammenhang! Goethe, dessen Erinnerungen ganz mit der Landschaft von Straßburg zusammenflossen, wie die Gedichte aus jener Zeit und die Memoiren später bestätigen, kehrt in Gedanken zu jenen Hügeln zurück, wenn er jetzt im Weimarischen wandert, und so fällt ihm auf einem Hügel die Landschaft um Straßburg ein und die reizende Friederike. Was schließt der Analytiker? Dies ist nichts anderes als » unbewußte sexuelle Schaulust, die sich in der Kindheit auf den nackten Körper der Frau bezog, später aber umgewandelt wurde«.
In Goethes »Wahlverwandtschaften« geschieht der jungen Heldin, die das Kind ihrer Freundin zu hüten hat, ein Unglück: Sie nimmt es auf eine Bootfahrt mit, gerät aber in Aufregung, weil sie plötzlich ihren Geliebten wiedergesehen, sie rudert schlecht, das Kind fällt ins Wasser. Obwohl es eigentlich von niemand recht betrauert wird, fühlt sich Ottilie schuldig und schwört zur Sühne, nicht ihren Liebhaber und nie einen andern Mann mehr anzusehen.
Mit diesem Roman wurde in einem um 1800 ganz neuen analytischen Stil eine Kunstform geschaffen, die man den Vorgänger der großen französischen Novellisten nennen könnte. Was dort an »Übertragung« vorgeht, wie sich aus rein geistigen Beziehungen Folgen besonderer Art entwickeln, wie ein Mann und eine Frau sich vereinigen, während beide an eine andere Frau und einen andern Mann denken und so ihr Kind die Züge jenes anderen annimmt: lauter analytische Kostbarkeiten, in denen sich heute die Freudianer als rückwärts gewandte Propheten ergehen könnten.
Die äußerst zarte Bedeutung jenes Unfalls auf dem See genügt aber den Herren nicht: wir müssen einen besonderen Trick herausfinden, wir müssen Goethe überbieten! Ottiliens Unfall wird also zugleich als eine symbolische Handlung gedeutet, »eine Wunschregung, die den Wunsch nach Beseitigung des Kindes ergänzt«. Wie macht man das?
Ins Wasser werfen ist der Gegensatz von aus dem Wasser holen oder retten, so daß »Ottiliens Handlung in symbolischer Weise eine umgekehrte Rettungsphantasie darstellen könnte«. Nun hat Freud dekretiert: »Wenn eine Frau im Traum ein Kind aus dem Wasser rettet, bekennt sie sich damit als seine Mutter. Die umgekehrte Darstellung dieses Wunsches … ist aber in Träumen nicht weniger häufig. Somit könnten wir meinen, daß die Handlung Ottiliens zugleich ihren Wunsch zum Ausdruck bringt, sich selbst ein Kind vom geliebten Manne zu verschaffen. Das Kind wäre demnach in ihrem Unbewußten ihr eigenes, das sie aus dem Wasser rettet, das heißt zur Welt bringt.«
Wir finden das nicht »klar und durchsichtig«? Wir wenden ein, es wäre gar keine Handlung da, sondern das Gegenteil, eine unglückliche Fügung? Das Mädchen hätte in seiner Reinheit gar keine Kinderphantasien im Herzen, sondern nur Liebe? Ertrinken bedeutet im allgemeinen weniger die Rettung als den Tod? Ja, der Wille, ein Kind zur Welt zu bringen, drücke sich sonst nicht darin aus, daß man eines zu Tode bringt?
Das ist eben das altmodische, hölzerne Denken und Fühlen, in dem wir noch befangen sind, während die Modernen längst in Eisenbeton träumen.