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18. Praktische Anwendungen

Seit dreißig Jahren und länger sind viele tüchtige Männer, und namentlich Frauen, überall, besonders in Amerika, im sozialen Leben helfend und ratend tätig. Diese Menschen sind nur selten Ärzte, sie brauchen es nicht zu sein, denn ihre Schule ist zunächst das Studium der Klasse, der Berufe, der Wohnungen. Darüber hinaus müssen sie aber nicht mehr und weniger sein als Menschenkenner; sie müssen den Organismus einer Ehe, einer Familie, das Wesen von Eifersucht, Ehrgeiz und Neid verstehen, da solche Leidenschaften das soziale Leben beständig erschüttern. Für ihre Arbeit reichen Statistiken nicht aus, es braucht dazu Verständnis, Geduld, Toleranz, Überredung, Humor.

Seit das Wort »Psychoanalyse« in Amerika eine ungeahnte Verbreitung gefunden hat, also seit etwa fünfzehn Jahren, haben Ärzte, Erzieher, Soziologen, Richter und mit ihnen auch die sozialen Arbeiter das Wort in ihre Systeme eingeführt und können ohne dieses nicht mehr leben.

Ein Beispiel in dem neuen Sammelwerke von Lorand, »Psychoanalysis To-day« (1944), für das erwähnte Problem, hat deshalb repräsentativen Wert. Zwölf Seiten sind einem einzigen Fall gewidmet. Die Behauptung steht voran, erst die Analyse habe die Motive des jugendlichen Verbrechers entdeckt und statt von einem zerstörten Leben zu sprechen, begonnen, den Effekt zu studieren, den dieses Leben auf das Kind gemacht hat. Es ist, wie wenn ein Seefahrer der Welt mit vierhundertjähriger Verspätung mitteilte, er habe die Antillen entdeckt.

Es wird ein genauer Bericht gegeben, der einen fünfzehnjährigen Mörder betrifft. Er gründet sich auf wöchentliche Untersuchungen, die ein Psychiater drei Jahre lang an dem Jungen machte. Dieser erklärte zuerst, er habe einen alten Mann nur des Geldes berauben wollen, wobei aus Versehen der Revolver losging. Durch den Anblick von Gangsterfilmen sei er verführt worden.

»Damit werden wir uns aber nicht begnügen«, sagte Freud bei anderem Anlaß. Im Laufe von drei Jahren wurde dem Jungen das ihm unbewußte Motiv eingegeben. Natürlich ging er auf die ihm nahegelegte Entschuldigung ein und erinnerte sich allmählich, daß ihn schon der Verlust des Vaters mit vier Jahren auf falsche Bahnen getrieben habe. Jetzt, da man in ihn dringt, gesteht er auch sein Geheimnis: Zwischen sieben und elf Jahren habe er mit seiner älteren Schwester »Inzest« begangen, das heißt, er hat mit ihr sexuell gespielt. Jetzt erklärt er auch, daß man ihn eigentlich töten müßte, weil nur ein degenerierter Mensch Inzest beginge.

Inzwischen hat das ganze Orchester eingesetzt: Ego, Super-Ego, Verdrängung, Hemmung, unbewußte Wünsche, Pantomimen, Symptome und tiefere Bedeutung. Da der Junge von seiner Mutter vergöttert, dabei aber herrisch angefaßt und kurzgehalten wurde, liebte und fürchtete er sie; ja es geschah etwas Schreckliches: er schlief, bis er Vierzehn war, im Zimmer der Mutter. In all den drei Jahren, in denen der Junge jedes ihm nahegelegte Motiv benützte, sagte er nie, er habe seine Mutter begehrt.

Mit schlechten Instinkten, unbewacht und eitel, fing er mit acht Jahren zu stehlen an, hatte dann Gewissensbisse, näherte sich dem Rand eines Daches oder einem herankommenden Auto mit dem Gedanken: Wenn Gott mich für schuldig hält, wird er mich töten, – blieb aber immer gerade so weit weg, daß Gott keine Gelegenheit dazu hatte.

Da der Psychiater – nicht etwa der Junge – die Mutter als einen aufreizenden Typus bezeichnet, läßt er den Jungen ohne dessen Aussage in innere Wut und Protest gegen sie geraten, aber da er ihre Liebe brauchte, ihre Wut an andern auszulassen. Da er in ihrem Zimmer schlief, wurde seine unbewußte Sexuallust auf sie gerichtet. Der Ödipus konnte aber nicht »zu normaler Erlösung« kommen, denn ein anderes Mädchen verführte ihn, und dann trat gleich die ältere Schwester an Mutters Stelle, und die unbewußten Triebe zur Mutter wurden jetzt an der Schwester ausgelassen. Seine Furcht- und Reuezustände kamen daher, daß er »unbewußt seine Mutter begatten wollte und deshalb auch in der sozialen Welt abirrte«. Da er im selben Zimmer schlief, fühlte er sich kastriert, konnte sich aber mit der Mutter nicht identifizieren und betonte nun seine Männlichkeit. Dadurch entstanden seine Mörderinstinkte. Da er die Mutter nicht ermorden konnte, so ging seine Wut gegen andere oder gegen sich selbst.

Als er nun mit Fünfzehn ein Mädchen verführt, zugleich aber eine andere anbetet und von dieser wegen seiner Gewalttaten verachtet wird, beschließt er, seine Schlechtigkeit nun erst recht zu beweisen, besonders, da er Geld braucht, lauert einem alten Mann in einem Laden auf, nimmt ihm das Geld weg und schießt aus Versehen oder Aufregung den Mann tot. Motiv: »Das Ödipus-Problem mit seiner Verzweigung erhellt das ganze Bild. Er konnte seine Wut nicht gegen die Mutter richten, die ihn nicht liebte, die ihn beiseiteschob. Die Wut muß gegen sich oder andere gerichtet werden. Durch Sichbetrinken führte er symbolisch Selbstmord aus. Aber er war trotzdem nüchtern und bewußt und vom Super-Ego bestimmt. Unbewußt sucht er größere Strafen … Indem er Geld stahl, machte er sich einen Penis, um ihn zu brauchen. Der alte Mann stellte mit seiner Weigerung die Mutter dar, das Super-Ego … Der Todeswunsch und die Drohung mit Tod schwebten durch sein Leben. Jetzt sind die Motive klar: Wir stellen fest, daß der Mord ein Ersatz für Selbstmord war.«

Endlich sind wir so weit! Nach dreijähriger Untersuchung ist es gelungen, einen bösen Jungen zum unschuldigen Opfer zu machen, denn schuldig sind a) die Mutter, die ihn im selben Zimmer schlafen ließ, b) der Ödipus, c) der Super-Ego, d) der Penis, e) sein Wunsch zu sterben. Nach drei Jahren ist es gelungen, einen jungen Mörder vor sich selbst zu entschuldigen, die Mutter dagegen zu belasten, die sich redlich durch ein schweres Leben schlug. Nachdem in drei Jahren nichts, nicht einmal ein echter oder erlogener Traum auf den Trieb des Jungen zur Mutter gewiesen hat, hat die Analyse festgestellt: »Das Ödipus-Problem mit seiner Verzweigung erhellt das ganze Bild.«

Der Schaden, der durch die psychoanalytische Erklärung, das heißt Entschuldigung solcher Verbrechen, in Amerika angerichtet wird, wo das Mitgefühl oft stärker ist als das Gefühl für Gerechtigkeit, zeigte sich kürzlich. In Los Angeles war ein zweijähriges Kind von einer zur Familie gehörigen Bulldogge totgebissen, darauf die Absicht kundgegeben worden, den Hund nach Untersuchung zu töten. Am nächsten Tage wurde das Gericht mit Protesten überschwemmt; darunter dieser: der Hund habe offenbar in Abwehr gehandelt, da er sich durch die Ankunft des Kindes im Hause zurückgesetzt fühlte.

Diese Reaktion ist unmittelbar von Freud geschaffen, der das Motiv des hassenden, älteren Kindes eingeführt hat. Die Verwirrung der natürlichen Gefühle ist also schon so groß, daß man auch den mordenden Hund analysiert und schont, statt ihn zu töten.


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