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5. Die Träume

Reicher, ja unerschöpflich ist die Welt des Traumes zur Deutung der menschlichen Wünsche; man müßte also annehmen, daß die Menschen gerne träumen. Das Gegenteil ist nach Freud der Fall. Sich dem Traume hinzugeben, in ihm den vertrauten, zuweilen auch gefährlichen Gefährten des Schlafes zu sehen, das Geheimnis des Doppellebens zu ahnen, ist altmodische Romantik. In Wahrheit ist der Traum eine Qual und eine Flucht. Da der Mensch so ungern in die Welt kam, sehnt er sich träumend in den Mutterleib zurück.

»Es soll«, schreibt Freud, »keine seelische Tätigkeit im Schlafe geben. Rührt sich diese doch, so ist uns eben die Herstellung des fötalen Ruhezustandes nicht gelungen. Reste einer solchen Tätigkeit werden sich nicht ganz vermeiden lassen. Diese Reste, das war der Traum.«

Goethe schrieb einmal an Herder, daß das Traumreich doch immer ein falscher Lostopf sei, wo unzählige Nieten und höchstens kleine Gewinste gemischt sind: »Man wird selbst zum Traum, zur Niete, wenn man sich ernstlich mit diesem Phantom beschäftigt.«

Diesem Schlusse brauchte man nicht anzuhängen. Aber man glaubt vielleicht, der Traum sei ein schaukelndes Boot inmitten seltsamer Farben, verwirrender Töne, bald düsterer, bald lockender Halbmärchen, etwas Plätscherndes, Kühles, ein Kobold, ein Hauch, ein Husch? Lächerlich! In welchem Jahrhundert leben wir eigentlich?

Wir leben in der Zeit der Arbeit und Wissenschaft. Daher ist auch der Traum eine Arbeit, die wissenschaftlich beschrieben werden kann, aber zugleich ist er ein Betrug, ein Trick, durch den man sich Schwierigkeiten entziehen will, um »das Oberbewußtsein über die wahren Triebe, Gedanken, Gefühle, Wünsche und Absichten des Unterbewußtseins im Dunkeln zu lassen«.

Freud warnt davor, den Traum des Patienten so zu akzeptieren, wie er ihn erzählt: der Entzauberer nimmt dem Träumer vielmehr die Maske ab und bearbeitet den Traum so lange durch Kondensierung und Dramatisierung, bis das erschrockene Opfer – ähnlich wie in der Hypnose – alles Gewünschte einräumt. Dafür hat Freud einen klassischen Satz geprägt, der alle Dialektiker entzückt: man gebe genau acht, wann er das Taschentuch verschwinden und wann er's lächelnd wieder erscheinen läßt! »Es ist … sehr wahrscheinlich, daß der Träumer es doch weiß, was sein Traum bedeutet; nur weiß er nicht, daß er es weiß, und glaubt darum, daß er es nicht weiß.«

Mit solchen Wortspielen und Gedankenblitzen haben die Theologen des Mittelalters ihrem Herrgott die Zeit gestohlen.

Der Traum ist für Freud kein Spezialfeld oder gar ein Spiel: er ist das Zentrum seiner ganzen Lehre, so wie er ja das Zentrum der Seelenlehre vieler Denker in früheren Zeitaltern war. Freuds Buch über die Traumdeutung hat ihn durch das ganze Leben begleitet und in späteren Auflagen den doppelten Umfang erreicht. Alle Bücher über Träume ziehen die Menschen an; um wieviel mehr eines, das fast ausschließlich von sexuellen Träumen handelt. Hier folgen die drei Grundsätze der Freudschen Traumlehre.

1. Grundsatz: »Der Traum ist die verkleidete Erfüllung eines verdrängten Wunsches.« Hat also ein Traum das Versagen eines Wunsches, das Eintreffen des Unerwünschten zum Inhalt – der alte Traum des Schülers, daß er im Examen seine Antwort, oder des Schauspielers, daß er auf der Bühne sein Stichwort verfehlt –, so erklärt Freud: »Dann fasse ich diese sehr häufig vorkommenden Träume als Gegenwunschträume zusammen. Hier herrscht der Wunsch vor, daß ich unrecht haben soll.« Darauf kann man nur erwidern, was Freud in einer seiner gedruckten Vorlesungen sagte: »Wenn Sie dies ablehnen und einfach als phantastisch zurückweisen, dann bin ich natürlich wehrlos.«

2. Grundsatz: Freud will »den Beweis erbringen, daß es eine analytische Technik gibt, die gestattet, Träume zu deuten, und daß bei Anwendung dieses Verfahrens jeder Traum sich als ein sinnvolles psychologisches Gebilde herausstellt, welches an angebbarer Stelle in das seelische Treiben des Wachenden einzureihen ist«. Die Laienwelt deutet Träume, scheitert aber »natürlich« von vornherein bei jenen Träumen, die nicht bloß unverständlich, sondern auch verworren erscheinen. An anderer Stelle: »Nur die Laien glauben in ihrer Inkonsequenz an Deutungen, von dunklen Ahnungen geleitet.«

Es entsteht die Frage, wer ist ein Laie? Ein Menschenkenner, der sich sein Leben lang mit der gesunden Menschenseele beschäftigt hat? Oder ein Nervenarzt, der sich sein Leben lang mit kranken Seelen beschäftigt hat? Der Künstler, dessen Berufung es ist, sich in andere Menschen zu versetzen? Oder der Fanatiker, der seine eigene Natur auf jeden Fremden projiziert hat, alle Triebe des Menschen oberhalb des Nabels leugnet, und alles danach deutet, was vor seinen eignen Sinnen schwebt? Ein Beobachter, der das Streben des einzelnen gegen das Schicksal verfolgt, im weiten Leben Klassen und Völker verglichen, ihre Motive untersucht und sich dabei an der Geschichte kontrolliert hat? Oder ein Psychiater, der den ganzen Tag und das ganze Jahr in seinem stillen Raume eine nie endende Reihe von Leidenden empfängt, der aus Geständnissen gemütskranker Menschen ihre Verirrungen zu erkennen sucht und aus diesem düsteren Hinterhalte die Pfeile seiner Erkenntnis in die Welt der Gesunden sendet? Welcher von beiden Typen ist in der Kunst der Seelenanalyse eigentlich der Laie?

3. Grundsatz: Wer den Traum der kranken Seele zu deuten lernte, hat damit den Weg zur Erklärung aller gesunden Seelen gefunden. Anfangs benutzte Freud, wie er selbst schreibt, die Träume nur »zur Auflösung pathologischer Phänomene … Der Traum aber, den die Psychoanalyse dann in Angriff nahm, war kein Krankheitssymptom, er war ein Phänomen des normalen Seelenlebens, konnte sich bei jedem gesunden Menschen ereignen. Wenn der Traum so gebaut ist wie ein Symptom …, dann ist die Psychoanalyse nicht mehr eine Hilfswissenschaft der Psychopathologie. Dann ist sie vielmehr der Ansatz zu einer neuen gründlicheren Seelenkunde, die auch für das Verständnis des Normalen unentbehrlich ist. Man darf ihre Voraussetzungen und Erkenntnisse auf andere Gebiete des seelischen und geistigen Geschehens übertragen; der Weg ins Weite, zum Weltinteresse, ist hier eröffnet.« Schließlich faßt Freud nochmals alles in die historischen Worte zusammen, »daß die durch die Psychoanalyse gefundene Tiefenpsychologie eben die Psychologie des normalen Seelenlebens war«.

Hier sind die drei von Freud aufgestellten Traumthesen: Jeder Traum ist die Erfüllung eines Wunsches. Jeder Traum ist durch eine besondere Technik mit Sicherheit zu deuten. »Es gibt keine harmlosen Träume … Sie tragen alle die Zeichen des Tieres an sich.«

Der Traum, um dessen Geheimnis seit dreitausend Jahren »Laien«, nämlich die Dichter und Weisen aller Völker, kreisten, der Traum, der uns zugleich als ein Nachklang und Vorklang, als Mittler zwischen Tod und Leben erschienen war, ist demaskiert, seit Freud den gradezu tödlichen Satz aufgestellt hat: » Der Traum ist ein neurotisches Symptom.«

Zuweilen fühlt Freud sich gewarnt, diesen Weg zu betreten, ja er gesteht es selbst einmal: »Von dem Moment an, da wir in die seelischen Vorgänge beim Traum tiefer eindringen wollen, werden alle Pfade ins Dunkle münden. Wir können es unmöglich dahin bringen, den Traum als psychologischen Vorgang aufzuklären.« Trotzdem lockt es diesen Rationalisten unwiderstehlich in jene Dämmerung: der erklärte Feind der Phantasie will das Luftreich erobern wie ein Mechaniker, der dem Dichter auf seinem ratternden Flugzeug in die Luft folgen zu können wähnt. Mit Stolz weist der Entzauberer auf seine Entdeckung als auf einen neuen Weg zur Erklärung der Welt, und er bezeichnet sie selbst als eine Leistung, »die zu einer völlig neuen Stellung und Spaltung im wissenschaftlichen Betriebe führen mußte … Trotz mehrtausendjähriger Bemühungen war es bisher nur wenig weit gediehen, Träume wissenschaftlich zu verstehen.«


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