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»Irgend jemand muß schuld daran sein, daß ich mich schlecht befinde: diese Art zu schließen ist allen Krankhaften eigen.«
Nietzsche
Zu allen Zeiten hat es Erforscher der Seele gegeben, Okkultisten, Hypnotiseure, Traumdeuter, die ihre eigene Intuition und Erfahrung mit den Resultaten der Wissenschaften vertieften oder korrigierten. Die Antike nannte sie Weise, das Mittelalter Magier oder Hexen, die Religiösen nannten sie Propheten, die wilden Stämme Regenmacher, die Neuzeit Nervenärzte. Sie alle suchten das Unbewußte zu entdecken und zugleich die Menschen zu warnen oder zu heilen. Meist waren es geniale Dilettanten, halb Künstler, halb Forscher.
Aber alle, von Heraklit dem Dunklen bis zu Nietzsche dem Hellen, waren durch Talent und Neigung Analytiker, gleichviel, ob sie die Menschen moralisch bessern, hygienisch erleichtern oder nur in Lebensbildern darstellen wollten. Alle haben als Ärzte und Psychologen ihre Aufmerksamkeit der Kindheit und Jugend ihrer Analysanden zugewandt, und alle haben ihre Beziehungen zum andern Geschlecht untersucht. Kindheit und Sexus sind die ältesten Schlüssel zur Erforschung der menschlichen Seele; die Literatur zeigt es an. Denn wenn man überhaupt von einem Beruf reden könnte, wo es sich um eine Berufung handelt, so wären die Dichter als Verwalter dieser Forschungen zu bezeichnen, die ja früher mit Sehern und Philosophen gleichgesetzt wurden. Neben ihnen mögen einige auserwählte Ärzte berufen sein, zur Erforschung der menschlichen Seele.
Siegmund Freud war ein auserwählter Arzt. Er hatte als reiner Biologe begonnen, mit dem Experiment und dem Mikroskop, sieben Jahre im Institut und später in der Klinik gearbeitet, und wenn man die Sorgfalt seiner bedeutenden Jugendarbeiten sieht (neu beleuchtet von R. Brun, Zürich), wenn man ein vierzehn Seiten langes Literaturverzeichnis am Ende eines ziemlich kurzen Buches findet, so kann man um so weniger den Leichtsinn begreifen, mit dem derselbe Mann sich später in ganz fremde Gebiete vortastete und dort als Diktator auftrat. Leider sind jene produktiven Jugendarbeiten beinahe vergessen; die Phantasien aber, von denen wir im folgenden sprechen, haben ihn weltberühmt gemacht.
Alles, was er bis in die Mitte seiner Dreißigerjahre schrieb, war gründlich fundiert, und die ersten entscheidenden Schritte zur Revision der Psychiatrie wurden von einem Physiologen gemacht. Freud hat um 1890 die erstarrte Front pedantischer oder eigensinniger Professoren mit revolutionärem Elan eingerannt und durch diesen Akt die Psychiatrie zur inneren Erneuerung gezwungen.
Dabei brach er nicht etwa aus dem Dunkel hervor, sondern schloß an seine Lehrer an, besonders an Brücke, der wiederum mit Du Bois, Ludwig und vor allem mit Helmholtz die Lehre der rein physischen und chemischen Erklärung aller organischen Kräfte begründet hatte. Diese Männer, die, zugleich mit Marx und Wagner geboren, in Freuds Jugend alt waren und auch bald starben, waren selbst einst als Revolutionäre der Physiologie aufgetreten, wie dies neuerdings Siegfried Bernfeld vorzüglich dargestellt hat. Aber noch fünfzig Jahre später hat der alte Freud in einem Rückblick die Grundidee von Brücke, daß sich die physikalischen Kräfte im Organismus hemmen, verbinden oder ausgleichen, als die Erklärung der Psychoanalyse vom dynamischen Standpunkte bezeichnet.
Unter diesen älteren Vorgängern, die alles auf Anziehung und Abstoßung zurückführten, hatte Brücke damals den Gedanken ins Studium des Zentralnervensystems eingeführt und seinen Schüler Freud auf die Wege geleitet. Freud aber tat einen entscheidenden Schritt vorwärts: er griff die damals klassische Lehre von den Aphasien an und bestritt das Dogma der Lokalisation. In Deutschland war dies neu; in Paris hatten Charcot und Bernheim sich schon lange entmaterialisiert und die Schablonen für Neurosen, Hysterisches, Neurasthenisches, die alle auf Körperorgane zurückgingen, aufgehoben. In Wien aber erblaßten die hohen Professoren, statt zu erröten, als sie in einer denkwürdigen Sitzung der Gesellschaft der Ärzte einen unbekannten jungen Doktor gewisse bisher örtlich umschriebene Gehirnteile, die als Sprachzentrum galten, plötzlich genetisch erklären hörten.
Schon damals ging Freud auf sukzessive Erwerbung des Leidens in der Kindheit zurück und erklärte die Erkrankung mit jeweiliger Wiedererregung akustischer oder visueller Assoziationen. War dies auch schon von den genannten Franzosen, besonders von dem Engländer Hughlings Jackson ähnlich dargestellt worden, so war Freud inmitten einer reaktionären Gelehrtenwelt und Ärzteschaft doch eine Art Lichtbringer. Damals war es ein Ereignis, als Freud in den psychischen Funktionen ganz allgemein einen gewissen Affekt, eine Summe von Erregungen feststellte, die zu- und abnähmen und doch nicht meßbar wären.
Diese Wege, die von fern in die Welt der späteren Psychoanalyse weisen, ging er noch einige Jahre fort, als er in seinen Studien zur zerebralen Kinderlähmung von primären fötalen Mißbildungen sprach: auch dies zum Lächeln, ja zum Gelächter der incalcati. Niemand bestreitet die produktive Originalität seiner Jugendwerke.
Wann und warum Freud sich von diesen bedeutenden Untersuchungen abwandte und aus der Provinz des Nervenarztes sich erst ins Reich des hypnotisierenden Analytikers, dann in das der Philosophie und Kultur verlor, werden wir später skizzieren. Es ist nicht unsere Aufgabe, ihn in allen Feldern darzustellen, da wir ja kein Lebensbild von ihm entwerfen.
Was bleibt, sind seine Heilungen und die seiner Schüler, sie werden noch heute fortgeführt. Ohne Zweifel hat Freud neue Wege gefunden, auf denen er die verworrene Seele über sich selbst aufklärte und so von Wahngebilden heilte. Wäre er jung gestorben, so wäre er viel weniger berühmt, aber in der Geschichte der Medizin sicherer gestellt als heute, wo ihn grade dort nur wenige suchen. Ähnlich wie sich Wagners Ruhm im Alter erweiterte, während seine Leistung sank, wie Wagner vom genialen Opern-Komponisten zum mystisch-schwülen Schöpfer des »Gesamt-Kunstwerkes« herabsank, aus demselben Willen zur Macht hat Freud sein großartiges Wirken als Nervenarzt überspannt.
Wenn sein praktisches Wirken aufgehört hat, bleiben vom Arzt wie vom Schauspieler nur noch die Erinnerungen ihrer letzten überlebenden Patienten oder Zuschauer übrig, und ihre Namen erlöschen schnell. War aber der Arzt zugleich ein Forscher, wie Koch oder Pasteur, der Schauspieler ein Dramatiker, wie Shakespeare, so bleiben die Theorien übrig und die Stücke. Freud hat seine Theorien während einer fünfzigjährigen Praxis aufgebaut, weniger aus den Resultaten dieser Praxis als aus gewissen Grundgefühlen und Visionen, die wir im dritten Teil darstellen werden. Sie haben sich in ihm zur Monomanie gesteigert, ihn weit über seine Heilkunst hin weggeführt und seinen Ehrgeiz als »Zerstörer der ältesten menschlichen Glaubenssätze« zum negativen Weltpropheten gehoben. Freud hat einen interessanten Einfall vom Krankenzimmer in die gesunde Welt projiziert.
Was wir angreifen, ist nicht seine erste Idee, sondern deren Übertreibung und Verallgemeinerung, die beide nicht von seinen Schülern, sondern von ihm selber ausgehen.