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Die Sage vom König Ödipus, der seinen Vater tötete und seine Mutter heiratete, bezeichnet Freud als »eine nur leicht veränderte Darstellung des Kinderwunsches, der später durch das Verbot des Inzestes zurückgewiesen wird«. Das Orakel hatte den Vater gewarnt, der das Neugeborene aussetzte; Hirten hatten es gerettet, als sie es mit zusammengebundenen Füßen fanden, und deshalb Ödipus genannt, »geschwollener Fuß«. Hier setzt Freud sogleich ein, denn Fuß bedeutet natürlich nicht Fuß, sondern Phallus. Ödipus, bei Fremden wie ihr Sohn aufgewachsen, fällt trotz aller Vorsicht in die Schlingen des Schicksals.
Nachdem er dann das Schreckliche erfahren, blendet er sich, weil seine Augen sahen, was sie nicht hätten sehen sollen. Dies ist der Sinn der Blendung bei allen Dichtern des Stoffes. Freud aber behauptet, daß die Augen die Symbole der Geschlechtsorgane sind, die Blendung von eigener Hand also eine »Übertragung der von ihm gewollten Selbstkastration« darstellt, wie sich dies zu »zahllosen Malen« in Traumanalysen wiederfindet.
Die Sage von Ödipus ist von den Dichtern variiert worden, aber alle, von Sophokles bis in unser Jahrhundert, haben die Tragödie dort gesehen, wo sie die Griechen erkannten: in der Verwirklichung eines Orakels, dem alle, und besonders Ödipus, mit Leidenschaft zu entgehen suchten. Ödipus hatte keinen Komplex, keinen heimlichen Wunsch nach seiner Mutter: er erschrickt auf den Tod vor dem Orakel, verläßt zugleich die, die er für seine Eltern hält, flieht das Land, das er bald regieren sollte, denn er entsetzt sich davor, den geliebten Vater zu töten und die verehrte Mutter zu beflecken.
In fremdem Lande erschlägt er dann an einem Kreuzweg einen Reisenden, mit dem er in Streit gerät und der der ihm unbekannte echte Vater war, und gelangt in eine fremde Stadt, erlöst sie von der Sphinx und nimmt nun die verwitwete Königin zur Frau, eine Fremde, die dem Retter durch ihren Stand zufällt und die ihn auch als Frau anzieht.
Aus dieser tragischen Geschichte, in der die Götter einen Glücklichen vernichten, der in voller Unschuld zwei ungeheure Verbrechen begeht, macht Freud den dumpfen Wunsch des Helden, der unbewußt will, was er bewußt vermeidet. Er erfindet einen allen Menschen eingeborenen Trieb zur Mutter, den weder die Griechen noch andere Völker jemals einer Sage zugrunde gelegt, den nie ein Seelenforscher im Herzen eines normal fühlenden Menschen entdeckt hat. Weil er aus den Träumen und Visionen von Kranken auf jene von Gesunden zu schließen gewöhnt ist, entdeckt Freud einen Komplex und nennt ihn nach Ödipus.
Seine Sexomanie führt ihn so weit, daß er nicht einmal die klassische Form der Sage kennt, die »im Mittelpunkt seiner ganzen Lehre steht«, wie er versichert. Denn als er einmal die Tragödie des Sophokles im Theater angesehen, fand ihn nachher sein Biograph Sachs »enthusiastisch«, also in einem Freud ganz fremden Zustande: er habe jetzt erst etwas Wichtiges entdeckt! Als nämlich Ödipus vom Tode seines Vaters hört, der in Wahrheit sein Adoptivvater ist, »reagiert er mit Triumph und Jubel. Sie sehen, daß die Freude über des Vaters Tod so klar gegenwärtig ist wie der Mord selbst, den Ödipus ohne Absicht gehorsam dem Schicksal vollführt.« Freud findet also den eingeborenen Vaterhaß in Ödipus bei der Nachricht vom Tode des falschen Vaters wieder, wodurch sein unbewußter Wunsch, ihn zu erschlagen, seine tiefe Bedeutung erweist.
Freud hat im Theater offenbar geträumt. Nichts von Jubel und Triumph. Als der Bote die Nachricht bringt, stellt Ödipus kurze Fragen in fünf Versen, und diese sind zweimal von Schmerz und Klage durchzogen. Wenn er aber im ersten Augenblicke ausruft: »Was! Sag dies noch einmal!«, wahrscheinlich mit einem freudigen Akzent, so macht sich hier nicht der Haß gegen den Vater, sondern die Befreiung seiner belasteten Seele Luft, daß jetzt der Vater an Krankheit und Alter gestorben, der Fluch also von ihm genommen ist.
Es heißt die Sage auf den Kopf stellen, wenn man dies Motiv der Erlösung in ein Motiv des Hasses verwandelt und aus Ödipus einen Verrückten macht – Freud nennt solche Leute normal –, der auf alle Fälle seinen Vater tot haben möchte, sei es nun der rechte oder der falsche, der auf alle Fälle seine Mutter heiraten möchte, während die mit Selbstverfluchung überladenen Monologe des Ödipus nach der Entdeckung und nach der Blendung einen Mann enthüllen, der nichts wollte und ahnte. Wenn sich in seinem Unterbewußten Wünsche nach beiden Seiten geregt hätten, so hätten die Dichter diese heimlichen Motive dargestellt. Sie taten es nicht, weil sie einen tragischen Helden vor sich sahen, nicht einen Psychopathen. So wird von Freud der Geist der Sage zerstört: Ödipus stellt nur den Sohneshaß gegen den Vater dar, einen gewöhnlichen Freudschen Fall.
Freud sieht in allen Kindern Ödipus. »In den Phantasien (der Jugendjahre) treten bei allen Menschen infantile Regungen … wieder auf und unter ihnen in gesetzmäßiger Häufigkeit an erster Stelle die meist bereits durch die Geschlechtsanziehung differenzierten Sexualregungen des Kindes für die Eltern, des Sohnes für die Mutter und der Tochter für den Vater. Gleichzeitig mit der Überwindung und Verwerfung dieser deutlichen Inzestphantasien wird eine der bedeutendsten, aber auch schmerzhaftesten psychologischen Leistungen der Pubertätszeit vollzogen: die Ablösung von der Autorität der Eltern.«
Halten wir den Hauptpunkt unserer Anklage fest: das alles sollen nicht Erscheinungen erkrankter Seelen, es sollen die Fundamente des Seelenlebens aller gesunden Kinder der Welt sein. Freud wiederholt in allen Epochen seines Lebens, was doch von seinen Lesern unter Zehntausenden nur einer erlebt hat. Vom »Todeswunsch des Kindes« gegenüber den Eltern spricht er ganz allgemein, und zwar vom Wunsch des Knaben, der den Vater, des Mädchens, das die Mutter tot sehen möchte, »als ob der Knabe im Vater, das Mädchen in der Mutter den Mitbewerber in der Liebe erblickte, aus dessen Beseitigung ihm nur Vorteile erwachsen können«. Wenn man ihm erwiderte, daß die meisten Menschen aus seinem Buche zum ersten Male etwas hiervon erfahren, so würde er nur lächeln, denn er wiederholt ausdrücklich: » Der Wunsch, mit der Mutter ein Kind zu haben, fehlt nie beim Knaben, und der Wunsch, vom Vater ein Kind zu bekommen, ist beim Mädchen konstant, und dies bei völliger Unfähigkeit, sich Klarheit über den Weg zu schaffen, der zur Erfüllung dieses Wunsches führen kann.« Ebenso fürchten » alle diese Buben, daß der Vater sie zur Strafe und aus Rache kastrieren wird«.
Freud schreibt allen kleinen Kindern die folgenden drei Triebe zu: Jedes kleine Mädchen wünscht sich das männliche Glied eines Jungen. Jeder Junge fürchtet sich, dieses Glied zu verlieren. Beide beobachten gelegentlich den Geschlechtsakt der Eltern und suchen sich eifersüchtig an Stelle von Vater und Mutter zu setzen.
All diese Phantasien eines Sexomanen hält die Welt seit zwanzig Jahren für Wissenschaft und baut in Schulen und Zeitschriften an den Begriffen weiter, als führten hier Wege zur Erkenntnis der Seele. Was hält man wohl von der Weltkenntnis eines Mannes oder auch nur von seiner Kenntnis einer Kinderstube, der so seltene Perversitäten verallgemeinert? Irgendwann einmal mögen Kinder zwischen drei und acht Jahren ihr Geschlecht vergleichen, lachen oder sich balgen und es wieder vergessen. Vom Geschlechtsakt der Eltern haben sie keine Vorstellung, auch wenn sie mit ihnen zusammenschlafen sollten.
Wenn Freud es jetzt beweisen will, so fängt er mit dem Traum an und deutet zunächst den Traum vom Tode teurer Verwandter als einen gegenwärtigen oder vergangenen Wunsch, sie tot zu sehen. Dabei erfindet er die These, daß »der Mann meist vom Tode des Vaters, das Weib vom Tode der Mutter träumt … Uns allen vielleicht war es beschieden, die ersten sexualen Regungen auf die Mutter, den ersten Haß und Tötungswunsch auf den Vater zu richten; unsere Träume überzeugen uns davon. König Ödipus ist nur eine Wunscherfüllung unserer Kindheit. Vor den Personen, an denen sich jener urzeitliche Kindheitswunsch erfüllt hat, schaudern wir zurück mit der ganzen Kraft der Verdrängung, welche diese Wünsche in unserm Innern seitdem wieder erlitten haben.«
Denn um es noch einmal, aber in klassischer Form zu sagen, faßt Freud die Grundlagen seiner gesamten Lehre in die Worte zusammen: » Die Triebwünsche, die mit einem jeden von neuem geboren werden, sind die des Inzestes, des Kannibalismus und der Mordlust.« Oder in den Worten eines seiner Schüler: »Der kleine Junge will wirklich seinen Vater töten, obwohl er ihn liebt, und täte es, wenn er den Mut aufbrächte. Er wünscht auch, im Bett mit seiner Mutter zu liegen, zu reizen und gereizt zu werden, und tut es, soweit er's fertigbringt.«
Freud selber formuliert, daß in den »realen Beziehungen zwischen Eltern und Kindern … so ungeheuerlich die Vorstellung uns anmutet, Todeswünsche, jedenfalls aber allgemein feindselige Wünsche gegen Glieder der Familie allzuoft im Seelenleben eine Rolle spielen … daß der größte Teil der Menschheit sich über die Befolgung des vierten Gebotes hinwegsetzt«.
Vor solchen Thesen steht die intelligente Dekadenz der Gegenwart in erschauernder Bewunderung und hat sie als eine der kühnsten Entdeckungen in der Seelenkunde erklärt. Kehren wir zu den kleinen Mördern zurück.
Nachdem sich beide, Knaben und Mädchen, in den ersten drei Lebensjahren bei ihrer Mutter sexuell ausgelebt haben, beginnt der Knabe, »feindselige Regungen gegen den Vater als Rivalen zu entwickeln … In analoger Weise stellt sich das Mädchen ein … Es dauert eine ganze Weile, bis das Kind über den Unterschied der Geschlechter Klarheit gewinnt; in dieser Zeit der kindlichen Sexualforschung schafft es sich typische sexuelle Theorien … Die erste Objektwahl des Kindes ist also eine inzestiöse … Im vierten und fünften Lebensjahr erreicht das Sexualleben seinen ersten Höhepunkt.« Dann tritt eine Zeit der Verdrängung bis zur Pubertät ein. Der Gegensatz der Geschlechter wird dann empfunden als »ein Besitz eines Penis, oder – man ist kastriert. Der hier anschließende Kastrationskomplex wird überaus bedeutsam für die Bildung von Charakter und Neurose.«
Nachdem uns Gesunden also auf diese Art Triebe und Komplexe angedichtet worden sind, von denen wir alle nie etwas erlebt haben, hören wir vom Meister im Alter in seinen gedruckten Vorträgen eine Art Zusammenfassung, die ihn gleichsam ausgesöhnt zeigt: man muß nur den Tonfall hören, in dem er eine Frage stellt, als ob es sich um eine Symphonie von Beethoven oder die Genealogie der Habsburger oder überhaupt um ein Gebiet der Forschung, ein existentes Faktum und nicht um die nächtlichen Visionen eines Fanatikers handelte: »Wie kommt das Mädchen«, fragt Freud, »von der Mutter zur Bindung an den Vater? Die einfachste Lösung wäre, daß von einem bestimmten Alter ab der kleine Mann zur Mutter gezogen wird, das kleine Weib zum Manne. Aber so gut sollen wir es nicht haben. Wir wissen kaum, ob wir an jene geheimnisvolle, analytisch nicht weiter zersetzbare Macht (die Liebe), von der die Dichter so viel schwärmen, im Ernst glauben dürfen … Während der Zeit der Mutterbindung ist der Vater nur ein lästiger Rivale; in manchen Fällen überdauert die Mutterbindung das vierte Jahr … Am deutlichsten drückt sich der Wunsch aus, der Mutter ein Kind zu machen, wie der ihm entsprechende, ein Kind zu gebären, weil der phallischen Zeit angehörig, befremdend genug, aber durch die analytische Beobachtung über jeden Zweifel festgestellt.« Nochmals das Irrenhaus.
Und nun beginnt der Ödipus-Komplex, der doch eigentlich nur einen Mann ergreifen könnte, sich auf das Mädchen auszudehnen, wobei sich die interessantesten Kreuzungen ergeben. Freud stellt dar, wie ihn die meisten Patientinnen mit der Behauptung belügen wollten, ihr Vater habe sie verführt. »Erst später konnte ich in dieser Phantasie von der Verführung durch den Vater den Ausdruck des typischen Ödipus-Komplexes beim Weibe erkennen.« Diesen findet er nun beim Mädchen unter vier Jahren als Verführung durch die Mutter wieder. »Hier aber berührt die Phantasie den Boden der Wirklichkeit, denn es war wirklich die Mutter, die bei der Verrichtung der Körperpflege Lustempfindungen an den Genitalien hervorrufen, vielleicht gar erst erwecken mußte.«
Jetzt sind wir tief im Freudschen Labyrinth, und wenn wir uns nicht am Faden des Humors festhalten, sind wir alle verloren. Denn da wohnen die Gnomen, die Analytiker, die sich an das Halbdunkel gewöhnt haben, die einander an Namen und Stichworten erkennen, und wenn sie eine unbefangene Menschenstimme aus der Oberwelt vernehmen, so bedauern sie den naiven Gesunden.
Wir waren bei den Inzestwünschen der Vierjährigen stehengeblieben, die sich mit ihrer Mutter geschlechtlich vereinigen wollen. Dies alles – vergessen wir es nicht – gilt für unsere Jugend mit, es gilt für alle.
»Die Abwendung von der Mutter«, fährt Freud fort, »geschieht im Zeichen der Feindseligkeit. Die Mutterbindung geht in Haß über.« Dieser Haß kann durchs ganze Leben anhalten, meist bleibt aber nur ein Teil übrig.
Da der Haß zwischen Kindern und Eltern das Natürliche und Regelmäßige ist, bleibt immer etwas übrig. Hier folgen einige Bilder aus dem Freudschen Familienleben:
»Auch wo die Ablösung des Kindes von der elterlichen Zärtlichkeit glatt gelingt, kommt bald da, bald dort ein Rest der ursprünglichen Gefühlseinstellung zwischen Eltern und Kindern zum Vorschein.« So erklärt sich auch »der oft hartnäckige Widerstand des Vaters gegen die Heirat eines Sohnes wieder aus dem Neide gegen den jüngeren und glücklicheren Liebhaber«.
Und wenn man dieses alles geschluckt hat, so wird auch die Ausnahme dieser goldenen Sexualregel eröffnet: daß die natürliche Feindschaft der Generationen gelegentlich von einem anormalen Gefühl gestört wird, von der Liebe.
»Es gibt«, schreibt Nietzsche, »freie freche Geister, welche verbergen und verleugnen möchten, daß sie zerbrochene stolze unheilbare Herzen sind … Wer das Stolze eines Menschen nicht sehn will, blickt um so schärfer nach dem, was niedrig und Vordergrund an ihm ist – und verrät sich selbst damit.«
Nicht bloß der natürliche Haß zwischen Eltern und Kindern, auch die umgekehrte seltene Eigenschaft, die Neigung zwischen ihnen und zwischen Geschwistern, ist rein sexuell. Es gibt keine zarten Gefühle, alles hat seinen Grund unterhalb des Nabels. Ja der Meister fügt ausdrücklich hinzu, daß auch das Vergnügen, seine Nase zu reiben, sich am Ohr zu kratzen oder seinen Darm zu entleeren »autoerotisch« ist. Wenn man dies dreimal als »wissenschaftliche Forschung« gelesen hat, wird man sicher beim Reiben und Kratzen sexuelle Triebe verspüren.
Hier folgen die Vorwürfe der vierjährigen Kinder gegen ihre Mütter:
1. Vorwurf: Mangel an Liebe, weil keine Milch mehr.
2. Vorwurf: Ankunft eines zweiten Kindes in der Kinderstube.
3. Vorwurf: Keine Befriedigung des Sexualwunsches in der Phalluszeit, »wenn die Mutter die Lust an den Genitalien verbietet, zu der sie doch das Kind selbst angeleitet hatte … Verführung mit nachfolgendem Verbot.«
4. Hauptvorwurf: »Daß das Mädchen die Mutter für den Penismangel verantwortlich macht und ihr diese Benachteiligung nicht verzeiht.« Beim Knaben entsteht derselbe »Kastrationskomplex« dadurch, daß er sieht, die Mutter habe nicht »das von ihm so hochgeschätzte Glied, und er gerät von nun an unter den Einfluß der Kastrationsangst, die der mächtigste Faktor seiner weiteren Entwicklung wird«.
Ein fünfjähriger Junge spielt, während wir dieses lesen, grade auf dem Teppich mit Bauklötzen oder er zankt sich mit dem Hund um eine Kugel, oder er zieht seine Schwester am Schürzenband oder er wirft sich jauchzend auf seinen Bären, der seit gestern verloren schien. Wir lächeln und denken: Paradiesische Zeit! – Irrtum! Wir haben alles zu revidieren! Unser Junge leidet in Wahrheit die Qualen des Komplexes: er denkt soeben angstvoll an das von Freud so hochgeschätzte Glied und haßt den Vater, weil er es ihm abschneiden will.
Mit Varianten erklärt Freud an anderer Stelle die Homosexualität eines Mannes so: »Indem der Knabe die Liebe zu seiner Mutter unterdrückt, bewahrt er sie in seinem Unterbewußtsein und bleibt ihr von da an treu. Wenn er ein wirklich liebender Knabe zu sein scheint, so ist er es in Wirklichkeit nur, weil er von der Frau wegläuft, die ihn seiner Mutter untreu machen könnte.« Das heißt, »der Wunsch zur Begattung der Mutter« ist an sich ein normaler Trieb; nur weil er nicht befriedigt werden darf, wird der Knabe später homosexuell, also pervers.
Variante: »Die fetischartige Bewunderung des Mannes für den weiblichen Fuß und Schuh scheint den Fuß nur als ein Ersatzsymbol für das einst verehrte und seither vermißte Glied der Frau zu nehmen.« Da also, wie man nun weiß, jeder normale Mann im geheimen Inneren wiederum einen Mann sucht und die Vereinigung mit einem anders gebauten Wesen ihn schmerzlich enttäuscht, so braucht er den Schuh, um sich wie an seinem Geschlechte aufzuregen.
Auch das Mädchen merkt sofort den Unterschied »und – man muß es zugestehen – auch seine Bedeutung. Es fühlt sich schwer beeinträchtigt, äußert oft, es möchte auch so etwas haben, und verfällt nun in den Penisneid, der unversiegbare Spuren in seiner Entwickelung und Charakterbildung hinterläßt, auch im günstigsten Fall nicht ohne schweren psychischen Aufwand überwunden werden wird. Das Mädchen … glaubt an die Möglichkeit, auch so etwas zu bekommen, bis in unwahrscheinlich weite Jahre, und noch in Zeiten, wenn das Wissen um die Realität die Erfüllung dieses Wunsches längst als unerreichbar beiseitegeworfen hat, kann die Analyse nachweisen, daß der Wunsch im Unbewußten erhalten geblieben ist und eine ähnliche Energiebesetzung bewahrt hat … Wenn Neid und Eifersucht im Seelenleben der Frau eine größere Rolle spielen, so sind wir geneigt, das Mehr bei den Frauen dem Penisneide zuzuschreiben … Mit der Entdeckung, daß die Mutter kastriert ist, wird es möglich, sie als Liebesobjekt fallen zu lassen, so daß die lange angesammelten Motive zur Feindseligkeit die Oberhand gewinnen. Das heißt also, daß durch die Entdeckung der Penislosigkeit das Weib dem Mädchen ebenso entwertet wird wie dem Knaben und später vielleicht dem Manne.«
Jetzt ist die letzte Dämmerung im Labyrinth erloschen, mit vorgehaltenen Händen tasten wir durch die Nacht, stoßen uns an vorgestreckten Spitzen und suchen uns im Modergeruch, zwischen Resten pflanzlicher Tiere den Atem zu erhalten. Hat uns die dunkle Phantasie des Entzauberers für immer aus den Vorstellungen gerissen, die uns mit unsern eignen Eltern, mit unsern eigenen Kindern verbanden?
Es war also alles Selbstbetrug, was wir Liebe und Heiterkeit nannten! Alle die holden Gefühle, die wir Männer für unsere Mütter und Töchter empfanden, waren Phrasen! Alle Neigungen und aller Ehrgeiz, alle Scherze, die unsere Frauen erst ihren Vätern, dann ihren leiblichen Söhnen zeigten, waren Lügen! Ach, daß wir es nicht vorher wußten, was hinter diesen Empfindungen lag: der Wunsch, den Geschlechtstrieb im Familienkreise zu befriedigen, der Haß gegen den Nächsten, weil sie uns die Befriedigung dieser natürlichen Triebe verboten! Wer diesen analysierenden Furien ins Auge blickt, ohne stark zu sein, wird aus der Freudschen Höhlenwelt nie mehr zum Licht auftauchen.
Aus den Klüften und Grotten des Labyrinthes dringt aufs neue die Stimme des Nihilisten an unser Ohr: »Der Wunsch, mit dem sich das Mädchen an den Vater wendet, ist ursprünglich der Wunsch nach dem Penis, den ihr die Mutter versagt hat und den sie nun vom Vater erwartet.« Daraus entwickelt sich der Wunsch nach dem Kinde, das »in alter symbolischer Äquivalenz an die Stelle des Penis tritt … Später, wenn sie ein Kind bekommt, ist das Glück besonders groß, wenn das Kind ein Knäblein ist, das den ersehnten Penis mitbringt.«
»Mit der Überwindung des Kind-Penis-Wunsches auf den Vater ist das Mädchen in die Situation des Ödipus-Komplexes eingetreten. Daher ist die Feindseligkeit gegen die Mutter jetzt verstärkt, weil diese vom Vater alles erhält, was sie selbst vom Vater begehrt. Der Knabe begehrt die Mutter und möchte den Rivalen, den Vater, beseitigen, aus phallischer Sexualität.« Die Kastrationsdrohung zwingt ihn aber, diese Einstellung aufzugeben. »Unter dem Eindruck der Gefahr, den Penis zu verlieren, wird der Ödipus-Komplex verlassen, verdrängt, im normalsten Falle gründlich zerstört und als sein Erbe ein strenges Über-Ich eingesetzt.«
Beim Mädchen geschieht »beinahe das Gegenteil. Der Kastrationskomplex bereitet hier den Ödipus-Komplex vor, anstatt ihn zu zerstören; durch den Einfluß des Penisneides wird das Mädchen aus der Mutterbindung vertrieben und läuft in die Ödipus-Situation wie in einen Hafen ein. Mit dem Wegfall der Kastrationsangst entfällt das Hauptmotiv, das den Knaben gedrängt hatte, den Ödipus-Komplex zu überwinden. Das Mädchen bleibt in ihm, unbestimmt lange, baut ihn erst spät und dann vollkommen ab.«
Mit diesem Schlüssel in der Hand steigt Freud, ein neuer Faust, hinab zu den Müttern. Begleiten wir ihn eine Strecke!
Mit dem Ödipus-Komplex, schreibt Freud, hängt die Uterus- und Wiedergeburtsphantasie zusammen: » Man wünscht sich in den Körper der Mutter zurück, um den Platz des Vaters beim Geschlechtsakt einzunehmen, um zu gewinnen gegenüber den Begierden des Vaters. Die Wiedergeburtsphantasie ist eine Art Abkürzung der Phantasie des inzestiösen Geschlechtsaktes mit der Mutter … Man wünscht sich in die Genitalien der Mutter zurück, wobei sich der Mann mit seinem Penis identifiziert.«
Man hört dem Fall die Alltäglichkeit an. Wer von uns hätte nicht hundertmal ähnliche Gedanken an seine Mutter gehabt? Wen aber das alles ekelt, der ist eben anormal und unehrlich. Nur falsche Scham und frömmelnde Tradition haben uns bisher gehindert, diesem Naturtriebe des Menschen nachzugeben! In unseren wilden Träumen haben wir hundertmal unseren verhaßten Vater getötet. Man höre ein kompliziertes Beispiel:
Ein junger Mann erzählt Freud seinen Traum, in dem sein Vater ihn ausschimpfte, weil er zu spät nach Hause kam. Eigentlich, schließt Freud, müßte es heißen, er ist böse auf den Vater, weil ihm der Vater zu früh nach Hause kam: er hätte es vorgezogen, daß der Vater überhaupt nicht nach Hause gekommen wäre, »was mit dem Todeswunsche gegen den Vater identisch ist. Der Träumer hatte sich nämlich als kleiner Knabe während einer längeren Abwesenheit des Vaters eine sexuelle Aggression gegen eine andere Person zuschulden kommen lassen und war mit der Drohung bestraft worden: Na, warte, bis der Vater zurückkommt!«
Man glaubt, hier liege ein Scherz vor? Nicht doch! Das ist vielmehr ein Trapezkunststück der Analyse, eine Art doppelter Salto mortale. Freud nennt selbst diese Traumdeutung »eine solche mit mehrfacher Umkehrung«. Goethe nennt solche oresteischen Visionen »Gruppe aus dem Tartarus«. Den folgenden Fall bezeichnet Freud am Schlusse als »einfach und durchsichtig«: Es ist also eine alltägliche Geschichte, die jeder Anfänger herausbekommen müßte:
Ein amerikanischer Arzt, der in Freuds Schriften gelesen hatte, schrieb ihm, er habe eine tote alte Frau mit einem so lieben Antlitz auf den Seziertisch tragen sehen, daß er an Gott verzweifelt sei; später habe er seinen Glauben wiedergefunden. Freud schreibt, er habe diesen Fall in einem Vortrage so dargestellt, als hätte der Arzt ihm geschrieben, daß ihn das Gesicht der Frauenleiche an seine eigene Mutter erinnert habe: »Das stand nicht in dem Brief, aber es ist die Erklärung, die unter dem Eindruck zärtlicher Worte &›beloved dear old woman‹ unabweisbar sich aufdrängt.«
Aber er hat noch einen zweiten Beweis parat: der Arzt habe Freud in seinem Brief als »brother-physician« angesprochen. »Der Anblick der nackten oder zur Entblößung bestimmten Leiche einer Frau, die den Jüngling an seine Mutter erinnert, weckt in ihm die aus dem Ödipus-Komplex stammende Muttersehnsucht, die sich auch sofort durch die Empörung gegen den Vater vervollständigt. Vater und Gott wird bei ihm noch nicht weit auseinandergerückt, der Wille zur Vernichtung des Vaters kann als Zweifel an der Existenz Gottes erfaßt werden und sich als Entrüstung gegen die Mißhandlung des Mutterobjektes vor der Vernunft legitimieren wollen. Dem Kinde gilt doch in typischer Weise als Mißhandlung, was der Vater im Sexualverkehr der Mutter antat … Die neue, auf das religiöse Gebiet verschobene Regung ist eine Wiederholung der Ödipus-Situation.«
Hier war weder ein Traum noch eine Neurose zu deuten: nichts war zu deuten. Ein Arzt spricht von einer Leiche, deren lieblicher Anblick ihn gegen Gott erbittert, weil er diese Zerstörung zugelassen hat. Hierzu erfindet Freud: das Gesicht der Mutter, die Erinnerung an den Vater, den Haß des Kindes wegen des Geschlechtsaktes, Gott als Vater. Und, nachdem er solche Dinge phantasiert hat, um einen neuen Ödipus herauszubekommen, von dem kein Schatten da war, legt der Zauberer seine Karten zusammen und schließt den Fall mit den unsterblichen Worten: »Das ist alles einfach und durchsichtig.«