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Ich beschloß, schon ältere Industriebezirke aufzusuchen. So kam ich nach Columbia, der Hauptstadt South Carolinas, der Hauptstadt von »König Baumwolles Reich«. Hier gibt es nichts anderes als Baumwolle. Weit, endlos flach, nur von einzelnen, hochaufgeschossenen Wolkenkratzern durchbrochen, die sich hierher verirrt zu haben scheinen, liegt die Stadt öde da. Die Baumwollfelder ziehen sich bis zur Stadt, Baumwollwebereien und -spinnereien umgürten sie. Manche Stadtteile werden von den weichen, weißen Flocken umweht, als schneie es. Auf den Straßen tragen die Ford-Traktoren, die altmodischen Ochsengespanne, die Pferdewagen weiße Ballen. Die Lastzüge, die durch die Stadt fahren, sind mit Baumwolle vollbepackt. Vor jedem Geschäft, vor jedem Bürohaus steht die Tabelle mit dem neuesten Kurs der Baumwolle, und in den Geschäfts- und Bürohäusern wird nichts anderes berechnet und gehandelt als Baumwolle. In der Mainstreet sieht man die armseligsten Geschäfte, in den wenigen Kinos werden älteste Filmstreifen vorgeführt, die Speisehäuser, die Caféstuben ohne Gäste sind von schrecklicher Trübseligkeit, denn Baumwolle ist ein böser Herrscher, richtet die Untertanen, wenn sie nicht reich sind, zugrunde. Eine glänzende Ernte wird ebenso als schlimmstes Unglück empfunden wie eine schlechte, denn dann fallen die Preise, sie fallen unmittelbar nach der Ernte. Gerade dann, wenn der Farmer seine Baumwolle verkaufen will, verkaufen muß, denn 122 er braucht ja Geld, und er hat keinen Platz, die Baumwolle einzulagern.
Kaum aber haben die kleinen Farmer ihre Ernte verkauft, beginnt der Preis der Baumwolle zu steigen, irgendein Grund ist immer da, denn selbst Gott hat sich mit den Reichen verbündet, oder sie halten es mit dem Teufel, der ihnen immer hilft. Einmal sind es Brände, die die Kleinen heimsuchen, ein anderes Mal der Mississippi, der mit seinem Schlamm, der schrecklichen Flut den Besitz der Kleinen zugrunde richtet, damit sich einige Große noch besser mästen können. So ist die Stimmung der kleinen Farmer, die herumstehen und die jetzt wieder steigenden Baumwollpreise diskutieren.
Man sieht verschlossene, verbissene Gesichter, verdammt die Baumwolle. Aber nächstes Jahr wird wieder alles von neuem beginnen. Die Farmer werden trotz aller guten Ratschläge wieder nur Baumwolle anpflanzen, denn etwas anderes haben sie nie gelernt, und vor allem für etwas anderes haben sie auch kein Geld.
Ich beginne meinen Rundgang, Arbeit zu suchen. Wir Arbeitsuchenden sind ein ganzes Heer. Viele liegen, sitzen, manche sogar schlafen vor den Stellenvermittlungsbüros, sie warten auf den Glücksfall, auf Arbeit, denn die zugrunde gegangenen Baumwollfarmer, die ihr ärmliches Holzhaus und ihre vielen Schulden einfach stehengelassen haben, können die Untertanschaft der Baumwolle nicht kündigen, sie müssen weiter ihre treuen Vasallen bleiben, wenn nicht auf dem Feld, so in der Fabrik, aber nirgends ist Arbeit. Man wandert von einer Fabrik zur anderen, überall der gleiche Bescheid, keine Arbeit.
In dem staatlichen Arbeitsnachweis riet mir eine Dame, so schnell wie möglich abzufahren, hier wäre gar keine Aussicht. »Alles kommt nach Columbia Arbeit suchen, weiß der Himmel warum, dabei haben wir auch gar keine Mittel, den Arbeitslosen irgendwelche Hilfe zu geben.«
Ich gab mein Zimmer in Columbia auf und beschloß, ihren Rat zu befolgen und noch am selben Abend nach Georgia weiterzufahren. Ich ging zu dem Bahnhof, auf dem ich angekommen war, hier stellte sich heraus, daß ich zu dem Bahnhof am anderen Ende der Stadt gehen mußte, daß ich am selben Abend allerdings noch nicht weiterfahren, aber einen sehr frühen Zug am Morgen nehmen könnte. Da mein Geld schon sehr knapp wurde und die 123 Hotels in Columbia Preise hatten, als wären sie erstklassige New-Yorker Hotels, beschloß ich, die paar Stunden auf dem Bahnhof zu bleiben. Man wird gleich hören, warum ich das so ausführlich erzähle.
Ein Landstreichergesetz, die Heilsarmee und Ratten
Kaum setzte ich mich in den allerdings alles andere als gemütlichen Warteraum, kam ein Polizist auf mich zu und erkundigte sich, was ich hier tue. Ich erzählte ihm alles.
»Hier zu warten ist streng verboten«, erklärte er.
»Wird der Warteraum geschlossen?«
»Nein, geschlossen wird er nicht, aber es ist streng verboten, hier zu warten.«
»Gut«, sagte ich ihm, »ich kann ja gleich zum anderen Bahnhof gehen.«
»Das ist genauso streng verboten. Sie müssen in ein Hotel gehen.«
»Ich habe aber nur wenig Geld, ich habe hier keine Arbeit gefunden.«
»Dann muß ich Sie verhaften, wir haben ein sehr strenges Landstreichergesetz.«
Die Sache begann interessant zu werden. Ich habe ohnehin noch kein Gefängnis in Amerika gesehen. »Also gut, sperren Sie mich ein.«
»Wenn Sie unser Gefängnis kennenlernten, würde Ihnen das Lachen vergehen.«
Das glaube ich ihm ohne weiteres. Der Polizist hielt meinen Koffer in der Hand und machte Anstalten, mich in ein Hotel zu bringen, ich aber blieb beharrlich und wollte zum anderen Bahnhof. Der Polizist machte ein verzweifeltes Gesicht: »Wissen Sie was«, sagte er, »ich bezahle Ihr Zimmer, aber Sie müssen in der Nacht eine Unterkunft haben.«
»Nein, ich will ins Kittchen.«
Jetzt wußte ich wenigstens, was mit den Menschen geschieht, die vergebens Arbeit suchen und denen das Geld ausgeht, sie kommen ins Arbeitshaus oder Gefängnis. So rührend sorgt für sie der Staat.
124 Endlich hatte der Polizist eine andere Idee: »Wir gehen zur Heilsarmee, dort bekommen Sie für fünfzig Cents ein Bett.«
Heilsarmee? Gut, damit war ich einverstanden. Der überraschend gutmütige Polizist also trug meinen Koffer zur Heilsarmee, es war ein großes Gebäude. Eine ganze Masse Leute warteten vor den Toren, ich sah sogar darunter zwei Bekannte, zwei irische Arbeiter, die ich auf der Arbeitssuche getroffen habe, sie trugen ihre kleinen Bündelchen bei sich. Es standen da auch einige Frauen, ältere Leute, sie erzählten, daß sie schon seit Stunden warteten, daß aber niemand trotz wiederholten Klingelns öffnete. Auch wir begannen zu klingeln und zu klopfen, aber vergeblich. Bei der Heilsarmee schien man sich nicht die Mühe zu nehmen, sich für lumpige fünfzig Cents aus der Nachtruhe klingeln zu lassen. Die Leute machten es sich auf den Stufen »bequem«, da sie sich sagten, daß sie hier, wo sie den guten Willen, Unterkunft zu finden, zeigten, wenigstens vor der Polizei sicher waren.
Der Polizist beschloß nun doch, mich zum anderen Bahnhof zu bringen und mich der Obhut des dortigen Bahnhofspolizisten zu empfehlen.
»Das sind ja hübsche Zustände in Columbia«, sagte ich ihm.
»Ja, es ist bei uns doch nicht alles so, wie es sein müßte.«
Und darin mußte ich ihm vollkommen recht geben.
Übrigens mußte ich ihm auch recht geben, daß der Bahnhof nicht ganz der richtige Aufenthalt für die Nacht war, hier gab es zwar sogar einen Warteraum mit Liegestühlen »nur für weiße Frauen«, aber in den Papierkörben rasselte es ganz verdächtig. Es war da noch eine andere Frau, die ihren Zug verpaßt hatte. Obwohl wir miteinander sprachen und das Licht eingeschaltet blieb, begannen plötzlich im Warteraum einige Riesenratten herumzuspringen, es schien entschieden gefährlich, einzuschlafen.
Leben in einem Fabrikdorf
Kommt man in Amerika auf dem Bahnhof eines kleinen Ortes an, kann man ruhig irgend jemand, der gerade mit einem Auto losfahren will, ansprechen und sich nach Arbeitsgelegenheiten erkundigen, er wird sicher, wenn er nicht gerade etwas sehr Wichtiges vorhat, von Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle fahren, nicht nur das, er 125 wird auch immer bereit sein, einen Fremden als einen guten Bekannten zu empfehlen.
So fand ich auch endlich Arbeit in der Spinnerei einer Baumwollfabrik und Unterkunft bei einer Weberfamilie, die im Fabrikdorf ein Haus zur Miete hatte.
Jede größere Fabrik im Süden ist von einem Dorf umgeben, das Eigentum des Fabrikbesitzers ist. Die Arbeiter sind eine Art Leibeigene. Sie bekommen Häuser für sehr billige Miete, etwa vier bis acht Dollar im Monat, bekommen die Kohlen für noch weniger als die Hälfte des Marktpreises geliefert, ebenso werden ihnen auch billiger Lebensmittel zur Verfügung gestellt. Dafür müssen die Eltern meist ihre Kinder, sobald diese das sechzehnte Jahr überschritten haben, in der Fabrik arbeiten lassen. Die großen Begünstigungen sind natürlich nur scheinbare, denn die Löhne sind entsprechend niedriger, der Arbeiter muß dagegen seine Freizügigkeit aufgeben. Er könnte auch seine Lebensmittel nicht anderswo kaufen, wenn ihm die von der Fabrikleitung gelieferten nicht zusagten, die Hälfte des Preises ist ja schon von seinem Lohn abgezogen, ob er nun in der Einkaufsgenossenschaft der Fabrik kauft oder nicht. Ein Haus in dem Fabrikdorf kann er sich nicht erwerben, die Häuser sind unverkäuflich.
Trotzdem hat dieses System auch für das Unternehmertum seine Schattenseiten. In den Fabrikdörfern muß sehr großes Kapital dem direkten Produktionsprozeß entzogen, investiert werden. Dieses Problem spielt auch eine wichtige Rolle bei der immer stärker einsetzenden Abwanderung der Textilindustrie aus Massachusetts und anderen westlichen Staaten nach dem Süden. Diese Unternehmen bauen keine neuen Fabrikdörfer, aber hier wirken wieder die schlechten Wohnungs- und Verkehrsverhältnisse hemmend.
Kurze Zeit nach meinen Erfahrungen im Fabrikdorf fuhr ich zufällig zusammen mit einem begeisterten Anhänger der Fabrikdörfer. »Was haben die Neger und armen Weißen für schreckliche, verwahrloste Hütten, wie hygienisch, wie ordentlich sind dagegen die Fabrikdörfer.« Aber wenn man in einem Fabrikdorf gelebt und gearbeitet hat, weiß man, es ist kein Paradies, es ist ein Alpdruck.
In den gleichen Häusern, den gleichen Zimmern, stehen alle zu gleicher Zeit auf, um die gleiche Arbeit zu verrichten, Halbwüchsige und Alte, alle verzehren das gleiche armselige Essen, sogar 126 ihre Lektüre und ihre Vergnügungen werden von der »Company« genau vorgeschrieben.
Morgens ist es noch dunkel, wenn die Fabriksirene zum erstenmal schrillt. Man beginnt sich ächzend und seufzend, noch müde und unausgeschlafen aus den Betten zu schälen. Meist besorgen die Frauen, die schon zu alt sind zum Weben, die Wirtschaft, sie machen das Feuer in der Küche an, bereiten das Frühstück und die »lunchboxes«, die Frühstücksbüchsen. Oft aber, wenn die Frau noch in die Fabrik gehen kann, während der Mann zu alt ist, besorgt er die Wirtschaft. Das Waschen geht schnell unter der Wasserleitung in der Küche vor sich. Badestuben sind meist unbekannter Luxus. Dann das gemeinsame Frühstück in der Küche. Es gibt Maisbrot, Butter und dünnen Malzkaffee mit Melasse gesüßt. Wenn die Sirene zum zweitenmal zu pfeifen beginnt, rennt das ganze Dorf den Fabriktoren zu. Die Kinder besuchen die Fabrikschule. Sogar die Kirche gehört meist der Fabrik.
Die zwei erwachsenen Kinder meiner Wirtsleute sind Weber. Die Frau, die jetzt schon für diese Arbeit zu schlechte Augen hat, unterwies sie. Der Mann arbeitet an der Dresche, die den Schmutz aus der Baumwolle herausklopft. Keine sehr gesunde Beschäftigung, denn er wird zum Teil in die Lunge des Baumwolldreschers befördert. Die Baumwollflocken nisten sich in die Haare und den Schnurrbart ein. Er sieht aus wie ein Weihnachtsmann.
Ich arbeite in der Spinnerei. Weiße Spulen kreisen unaufhörlich vor den Augen. Die Maschine spinnt den dicken Faden fein. Sobald eine abgedreht ist, muß ich den Faden der neuen Spule kunstvoll an die alte drehen und die neue Spule einsetzen. So geht das unaufhörlich zehn Stunden lang. Ich habe ein Dutzend Spulen zu bedienen. Es ist eine leichte, aber hirntötende, stumpfsinnige Arbeit. Neben mir bedient eine Dreizehnjährige, ich muß allerdings zugeben, bedeutend geschickter als ich, die Maschine. Sie macht diese Arbeit schon seit einem Jahr. Kam also schon als Zwölfjährige in die Fabrik. Wie ist das möglich? Die Kinderarbeit ist doch nach heftigsten Kämpfen in den Baumwollfabriken abgeschafft. Aber ihre Mutter ist eine Witwe, und so hat man dem Kind die große Wohltat erwiesen, ihm zu gestatten, seine Jugend in der Fabrik zu töten.
Man hat hier im Süden eine merkwürdige Bezeichnung für uns 127 Weiße, die kein Geld haben. »White trash«, der »weiße Abschaum«. Es ist übrigens schwer, dieses Wort seiner richtigen Bedeutung gemäß zu übersetzen. Denn es soll eigentlich gar nicht eine Beschimpfung bedeuten, sondern nur die Feststellung der wirklichen sozialen Lage eines besitzlosen Weißen.
Die Baumwollfelder ziehen sich bis dicht an unser Dorf heran. Sie sind auch jetzt noch nicht vollkommen abgeerntet. Überall sieht man die weiche weiße Frucht. Die eigentliche Baumwollernte beginnt meist schon im September und dauert oft bis Weihnachten. Alle Versuche, für das Pflücken der Baumwolle eine Maschine zu erfinden, die die menschlichen Kräfte überflüssig macht, sind bisher mißlungen, denn die Baumwollstauden wachsen in sehr verschiedener Höhe, zwischen einem halben Meter bis Menschengröße, und die Frucht reift zwischen September bis Januar. Die Baumwollfelder gehören auch der Fabrik, und indem man die Fabriken mitten in die Felder stellt, erspart man sich die Transportkosten.
Wenn die Baumwollernte beginnt, arbeiten alle im Dorf, auch die Schulkinder und die ältesten Leute. In der Fabrik werden nur Weiße beschäftigt, aber Baumwolle pflücken auch die Neger. Alle schnallen Säcke über die Schulter, sie pflücken von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang. Die Baumwollpflücker stellen oft auf ihre eigenen Kosten Negertänzer und -sänger mit der Ukulele ein, damit die Zeit besser vergeht. Für hundert Pfund gepflückte Baumwolle bekommen sie sechzig bis achtzig Cent. Ein sehr geübter, kräftiger Arbeiter kann zweihundert bis zweihundertfünfzig Pfund pflücken. Aber erwachsene Durchschnittsarbeiter bringen es höchstens auf hundertfünfundzwanzig Pfund. Der Durchschnitt bei den Negern, die nicht so verbissen arbeiten, ist noch niedriger.