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Es gibt Leute, bei denen man am ersten Tag weiß, welche Beschäftigung sie haben, wieviel sie verdienen und wie sie über Gott und die Prohibition denken – so meinte ein erfahrenes Dienstmädchen –, mit anderen wieder kann man wochenlang zusammenleben und man erfährt nichts Näheres über sie.
Meine neue Stellung: Eine große Villa, nagelneu eingerichtet, mit Gesellschaftsräumen in Blau und Rot und viel Gold, mit einem Frühstückszimmer und Speisesaal, mit einem Boudoir, mit Büchern und Porzellan, das anscheinend nie benutzt wurde, mit Spiel- und Studierzimmer für die Kinder.
Ich kann nicht unzufrieden sein, mein Zimmer ist nicht weniger neu als die anderen, mit Stehspiegeln und Klubsesseln, Ankleideraum und Badezimmer.
Der Garten ist schön, mit einem Springbrunnen, eine Riesenveranda ist mit ganz neuartigen Korbmöbeln ausgestattet, in der Garage stehen zwei Autos. Außer mir besteht das Dienstpersonal noch aus einer Köchin und einem Schofför.
30 Aber sonst geht es hier gar nicht hochherrschaftlich zu. Die Dame des Hauses, eine blasse Frau, geht herum, als ob sie sagen wollte: »Gut, ich kann ja auch das über mich ergehen lassen.« Sie kocht, während die Köchin wäscht und die Zimmer reinigt, und regt sich über einen Knochen auf, den ich weggeworfen habe, aber dann wieder schüttet sie mit größtem Gleichmut eine große Flasche Sahne fort.
Meine Aufgabe ist, die Kinder und die Küche in Ordnung zu halten. Diese Aufgabe ist gar nicht so einfach. Denn die Küche spielt in diesem Hause mit Empfangsräumen und Boudoir und Spielzimmer genau die Rolle wie bei allen amerikanischen Kleinbürgern, die neben der Küche noch zwei oder drei Zimmer haben. Hier spielen und »studieren« die Kinder, und hier essen wir alle, wenn auch nicht zur gleichen Zeit. Erst essen die Kinder, dann die Frau (der Mann ist vorläufig noch nicht auf der Bildfläche erschienen), zuletzt kommt das Dienstpersonal an die Reihe.
Ich muß in der Zwischenzeit immer abwaschen, denn das Geschirr und die Bestecke, die uns zur Verfügung stehen, reichen nur für eine Serie.
Nun hat sich die Küche entvölkert, jetzt können wir essen, Linotschka, die Köchin, eine Weißrussin, der Schofför, ein Neger, und ich, die »Neue«.
Ich merke, man möchte mich gern über alles aufklären, aber die Türen sind offen, die Frau telephoniert in der Halle. Wir essen schweigsam, aber Linotschka tuschelt etwas hinter der vorgehaltenen Hand und macht Zeichen, denen ich entnehmen kann, daß ich nur warten soll, bis die Frau außer Hörweite ist, dann werde ich schon Interessantes zu hören bekommen.
Der Schofför aber, der Alteingesessene hier, beginnt mir schon in einer eindrucksvollen Gebärdensprache die Karriere unseres gemeinsamen Brotherrn zum besten zu geben. Dem konnte ich folgendes entnehmen: Vor drei Jahren war er noch so klein, die Handfläche des Schofförs berührte fast den Boden, heute ist er so groß, seine Hand flog hoch, soweit sie nur konnte. Dann machte er mit beiden Händen einen Trichter und flüsterte andächtig: »Alkohol«.
Es war Freitag in den Abendstunden, als die alte Frau kam, die Mutter des Mannes.
31 In einem langen,. mit braunem Pelz verbrämten, schwarzen Mantel, den Kopf mit einem schwarzen Spitzentuch verbunden. Sie trug eine Anzahl Pakete. »Die Frau ist fort mit den Kindern? Ich werde warten.« Sie setzte sich auf den Rand eines Küchenstuhles, legte ihre Pakete auf den Tisch und sah zu, wie ich arbeitete. (Was nicht angenehm ist.)
Plötzlich sprang sie auf. Ich hatte angebrochene Brotstücke in den Mülleimer geworfen. »Wie«, sagte sie, »ihr werft das Brot fort?« Sie nahm ein Stück Brot aus dem Unrat, betrachtete es mit andächtigem Ernst eine Weile, dann führte sie es an den Mund, küßte es wahrhaftig inbrünstig und flüsterte mit Tränen in den Augen: »Das heilige, geliebte Brot, ja hierzulande wirft man es fort«, dann legte sie es mit zitternden Händen wieder in den Mülleimer.
Dann ging sie zu dem Tisch zurück, öffnete einige ihrer zahllosen Pakete, wärmte den mitgebrachten Kaffee in einem mitgebrachten Topf und wandte sich erklärend an mich: »Bei euch kann man nicht mehr essen.«
Einem anderen Paket entnahm sie einen Kerzenhalter und Kerzen, zündete die Kerzen an, legte die Hände über die Stirn, verbeugte sich und begann leise ein Gebet zu murmeln. Das Kerzenlicht fiel über ihre Gestalt, sie war noch in ihrem Mantel und Spitzentuch, es begann schon zu dunkeln, so stand sie noch eine Weile. Später begann sie mit mir eine Unterhaltung. Ob man sich an Amerika gewöhnen könnte?
Sie nicht. Sie nie. Vom ersten Augenblick an war sie unglücklich. Sie kamen aus Südrußland, aus Bessarabien, vor einem Menschenalter. Man war dort ein Hund, hier ist man ein Herr. Man war dort arm, hier ist man reich. Aber man soll dort sterben, wo man geboren wurde. Man sollte dort leben, wo die Vorfahren gelebt haben, die Eltern. Aber hier hat man gar keine Eltern, und hier hat man keine Kinder. Denn sie haben hier kein Gedächtnis, und sie haben keine Erinnerungen und keinen Glauben. Nichts ist ihnen heilig. Nicht einmal das Geld. Sie jagen ihm nach. Sie schinden sich und andere um das Geld, aber wenn sie es haben, dann ist es ihnen nicht heilig. Dann werfen sie es fort, wie sie das Brot, das tägliche Brot wegwerfen. Sie bauen sich Häuser und kaufen sich Autos, nur weil sie das Geld fortwerfen wollen.
Sie begann, die anderen Pakete zu öffnen. Eine Schüssel mit 32 Mohn- und Nußkuchen, ein Glas Honig, in dem Nüsse schwammen.
Anka, Rosalyn, Lillian, das sind die Kinder. Anka ist geboren noch in den schlechten Zeiten. Im Gettoviertel, in einer Nebenstraße der Grandstreet, wo der Vater eine Anzahl Trödelkarren teils in eigener Regie hatte, teils weitervermietete. Als Rosalyn geboren wurde, hatte man schon ein eigenes Geschäft für seidene Unterwäsche in der Grandstreet, und als Lillian zur Welt kam, war die Villa, in der wir das Vergnügen haben, nun zu leben, schon im Bau.
Anka ist mager, blutarm und wird von einem unersättlichen Hunger geplagt. Wenn sie Schokolade ißt, meidet sie jede Gesellschaft. Sie teilt nicht gern ihr Hab und Gut, ist aber immer bereit, Ratschläge zu geben. Sie findet, daß ich gerade genug Geld verdiene, und rechnet aus, wieviel Geld ich in zwei Jahren haben könnte, wenn ich immer arbeiten und mir nur das Allernotwendigste kaufen würde. Bei diesem Allernotwendigsten ist sie riesig knauserig. Sie hat auch Phantasie. Wenn ich etwas falsch mache, dann schreit sie: »Ha, gib nur acht, ich werde es meinem Großvater, der jetzt in Persien zur Welt kommt, erzählen, was du angestellt hast.«
Rosalyn ist dick, hat rote, feste Wangen, kugelrunde Schwarzaugen. Sie ißt mit Appetit und Genuß, aber bei ihr schlägt alles an, nicht wie bei Anka. Wenn sie lacht, zittert das Haus, wenn sie weint, dröhnen die Wände, sie weint nicht, sie brüllt. Wenn man sie hinlegt, schläft sie sofort ein. Sie ist wunderbar gesund, natürlich, echt. Und so wird wohl jeder seine Freude an ihr haben. Rosalyn kommt eines Morgens zu mir und sagt: »Mary, ich habe einen Mann.« Und da ich keine Einwendungen mache: »Er umarmt mich, er küßt mich, er nimmt mich in seine Arme, er küßt mich«, lispelt sie und verdreht dazu so komisch die kugelrunden Schwarzaugen, daß ich mir die Seiten halte. Rosalyn sieht mich streng, abweisend, aber doch etwas verlegen an. Nach einer Weile sagt sie: »Was lachst du, ich spreche doch von meinem Vater.«
Lillian hat ein blasses, zartes Gesicht, lange, hellblonde Locken und verschlafene Augen. Sie lacht selten und dann ganz leise. Wenn man ihr nicht den Willen läßt, schluchzt sie verzweifelt: 33 »Arme, kleine Lillian.« Nur mit List kann man sie zum Essen bewegen, einschlafen will sie erst, wenn man ihr stundenlang Märchen erzählt. Den größten Eindruck ihres Lebens erhielt Lillian, als sie ihre Mutter einmal in einen Schönheitssalon begleitete. Puder, Schminke, Spiegel sind nie und nirgends vor ihr in Sicherheit. Größtes Vergnügen bereitet ihr, wenn man ihre Hände manikürt. Wenn man fertig ist, befiehlt sie mit blasierter Miene (sie kann sonst erst wenig sprechen): »Und jetzt ordne meine Augenbrauen.«
Es scheint nun an der Zeit, die eigentliche Hauptgestalt, den Herrn des Hauses, vorzuführen, mit dem einträglichen und interessanten Beruf.
Sein Äußeres entspricht den Vorstellungen, die man sich wahrscheinlich schon von ihm gemacht hat. Er sieht immer schlecht rasiert und schlecht angezogen aus, aber er hat eine joviale Art, seine schwammige Gestalt durch die Küche zu schieben und wohlwollend und herablassend das Dienstpersonal zu begrüßen. Seine natürliche Zufriedenheit mit der Weltordnung gibt seinem Wesen eine fettige Gloriole von behaglicher Heiterkeit.
Von den Gründen seines Erfolges konnte ich Näheres an einem Sonntagnachmittag erfahren, als ein Familientee auf der Terrasse stattfand. In großer Zahl waren Tanten, Nichten und Neffen einer offensichtlich weitverzweigten Familie erschienen. Ich reichte Zitrone und Sahne zum Tee, wohlgemerkt nicht etwa Rum. Ja, es war der erste und bisher einzige Haushalt in Amerika, den ich kennenlernte, wo überhaupt kein Alkohol zu entdecken war.
Während also die versammelte Familie Tee mit Milch trank, hielt Onkel Bootlegger einem auf Abwege geratenen Neffen, er hatte in einem Alkoholexzesse allerlei Ausschreitungen begangen, und er verdankte es nur seinem einflußreichen Onkel, daß er mit der Polizei nichts zu tun bekam, er hielt also diesem Neffen eine Strafpredigt, die gleichzeitig als Programmrede eines ehrlichen und ehrgeizigen Bootleggers gelten konnte. Er war gegen Alkohol. Er haßte und verachtete Trinker.
Die Anfänge des Herrn waren doch weniger bürgerlich, als man nach seinen Reden annehmen könnte, wenn man dem Schofför auch nur zum Teil Glauben schenken will, und es liegt ja kein Grund vor, ihm nicht zu glauben. Oft erzählte er von diesem 34 heroischen Zeitalter. Von wilden nächtlichen Fahrten zu Waggons, die auf entlegenen Schienen standen und mit Sprit gefüllt waren, von einem Rumschiff mit total betrunkener Mannschaft, die nur mit vorgehaltenem Revolver zur Ruhe zu bringen war, von einer Flucht vor Prohibitionsbeamten, von Nachtklubs, kleinen Schenken, von angezündetem Sprit, ausgeschütteten Weinmassen. Ja, wenn einer es zu etwas bringen will, muß er manches wagen.
Heute freilich verläuft das Leben des amtlich approbierten Alkoholagenten anders. Er arbeitet nun mit Registratur, Formularen, Bezugsscheinen. Ein Alkoholagent in Amerika kann dieselben Machtgefühle empfinden wie seinerzeit der Leiter einer Rohstoffverteilungsstelle in Deutschland. Da gibt es »A«-, »O«-, »P«-, »Q«-Erlaubnisse, ungezählte Paragraphen und Vorschriften, man erfährt, wie der Briefkopf eines Alkoholagenten aussehen, auf welche Art er seine Geschäftskarte drucken lassen darf, wie die Vignette auf einer Weinflasche angebracht werden muß, wann ein Kranker Whisky verordnet erhalten kann. An einem Abend versuchte ein Geschäftsfreund, dem Hausherrn einen schweren Schlag zu versetzen. Im Laufe einer lauten Auseinandersetzung nannte er ihn vor den Ohren des Dienstpersonals einen Schädling des Landes. Ein unvergleichlicher Temperamentsausbruch, ein ungeheurer Redeschwall. Er ließ sofort alle seine Verdienste um das Staatswohl laut werden. Der einstige Geschäftsfreund war, erschrocken und eingeschüchtert, längst verschwunden, der Hausherr konnte seine Verdienste nur noch seiner Gattin und dem in der Küche aufmerksam lauschenden Dienstpersonal vortragen. Geschwellt vom Gefühl seiner unersetzlichen Wichtigkeit, stand er da, aufrecht, eine Hauptstütze der bürgerlichen Ordnung, des Staates.