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Ein nichtssagender kleiner Flußhafen, das ist Saint-Laurent-du-Maroni vom Schiff aus gesehen. Er wirkt nicht einmal exotisch oder tropisch. Die banalen Gebäude, die sich später als Kasernen und Gefängnisse entpuppen, bieten den Eindruck einer französischen Provinzstadt, die sich seit der Jahrhundertwende nicht weiterentwickelt hat.
Sobald man aber den Boden betritt und alles aus der Nähe besehen kann, verwandelt sich das Bild langweiliger Kleinbürgerlichkeit in eine grausige Vision. Auf den halbverfaulten Holzplanken der Warenschuppen, den zerbrochenen Bänken auf der Quaipromenade, auf den von der Sonne glühendheißen Steinquadern am Fluß sitzen, kauern, hocken, liegen Menschengestalten, die aussehen wie Skelette, Todkranke oder Scheintote. Sie tragen gestreifte Zuchthauskleider oder Fetzen, die Kleider zu nennen eine Übertreibung wäre. Ihre Füße sind meist nackt, manche sind nicht nur schmutzig, sondern auch von Geschwüren entstellt.
Eine Kolonne in Zuchthauskleidung arbeitet. Die Gefangenen beladen ein Holzschiff nach Frankreich, aber wenn sie einen Baumstamm ein Stück getragen haben, fallen sie auf den Boden und können nicht weiter. Die Gefangenenaufseher sind vollkommen machtlos.
Diese Gefangenenaufseher sehen alle aus, als wären sie die Zwillingsbrüder unserer Passagiere erster Klasse. Genau dieselben Schnurrbärte, Tropenhelme, Auszeichnungen und Revolver.
Monsieur Blanc, der Kenner Französisch-Guayanas, der bisher immer schrecklich auf dieses Land geschimpft hatte, findet nun, daß dieser erste Eindruck, den der Fremde bekommt, doch ein zu schlechter sei, und versucht ihn abzuschwächen.
»Die Kerle spielen Theater«, er zeigt auf die Elendsgestalten. »Wenn ein Schiff ankommt, inszenieren sie diese Jammerszenen, sie wollen unbedingt bedauert werden.«
»Sie sollten diese Leute, die so lebensecht schauspielern, in die Theater nach Paris bringen«, sagt der Amerikaner, der in Geschäften reist.
Die »Schauspieler« sehen gar nicht die Neuankömmlinge, sie sind so abgestumpft, daß nicht einmal das seltene Ereignis, die Ankunft eines Schiffes, sie aus ihrer vollständigen Lethargie reißt.
45 Wahrscheinlich würden sie sich nicht einmal erregen, wenn sie die hämischen Bemerkungen Monsieur Blancs hörten.
Der Amerikaner, Mr. Burr, ist riesig neugierig, er möchte die Lebensgeschichte sämtlicher Leute, die hierher verschlagen sind, wissen.
In seinem abenteuerlichen Französisch redet er den fiebrig aussehenden Mann in zerrissenen Kleidern an, der gerade in seiner Nähe ist. Er will von ihm erfahren, wie jetzt das Gefängnisleben hier ist.
Der Mann dreht Mr. Burr einfach den Rücken und sagt nichts. Monsieur Blanc beeilt sich zu vermitteln.
»Das ist ja gar kein Gefangener, nicht wahr, Sie sind ein ›Libéré‹?«
»Ja, ein lebenslänglicher ›Libéré‹, aber das Leben wird nicht mehr lange dauern, hoffentlich.« Er grinst auf so schauerliche Art, daß Mr. Burr einen Schritt zurückweicht.
Zum Glück nähert sich uns eine Erscheinung, die zwischen den verwahrlosten Gestalten recht erfreulich wirkt.
Ein älterer Herr in tadellosestem Weiß, mit der vornehmen Haltung eines abgesetzten Fürsten und dem zuvorkommenden Lächeln eines Rayonchefs, kommt auf uns zu. Man könnte ihn geradezu für den Gouverneur halten, wenn er uns nicht selbstgeschnitzte Stöcke zum Verkauf anbieten würde.
»Auch ein ›Libéré‹«, sagt Monsieur Blanc, »hier können Sie sehen, was ein Mensch auch hier mit einigem guten Willen aus sich machen kann.«
Bevor der neugierige Mr. Burr einen Stock kauft, will er die Geschichte des vornehmen alten Herrn erfahren.
»Ein kleines Mißverständnis hat mich hergebracht«, sagt der Vornehme einsilbig und preist die Vorzüge seiner Stöcke.
»Er ist ein gewohnheitsmäßiger Falschspieler«, erklärt uns Monsieur Blanc. »Wieviel Jahre haben Sie noch?« fragt er den Vornehmen.
»Noch zwei. Ich mache jetzt meine Doublage. Vier Jahre lang war ich ›Forçat‹, zwei Jahre habe ich als ›Libéré‹ hinter mir, und in zwei Jahren bin ich frei.« Er wiederholte es langsam: »In zwei Jahren frei.«
Er hat einen Stock verkauft und ist jetzt gesprächiger geworden. Die Stöcke hat er nicht selbst geschnitzt, er hat sie von einem 46 Gefangenen gewonnen im Spiel. Es ist zwar verboten, zu spielen, aber es wird eben doch sehr viel gespielt: Karten, Würfel und was gerade bei der Hand ist. Man kann auch mit Baumblättern Hasard spielen. Der Vornehme gewinnt merkwürdigerweise immer. Er gewinnt von seinen Leidensgenossen, was sie gerade haben, und verkauft dann mit viel Geschick die mit ungeheurer Mühe verfertigten Arbeiten. Man sieht, mit »Tüchtigkeit« kann man es überall zu etwas bringen. Und wenn einer Geld hat, kann er auch hier so nett aussehen wie dieser vornehme, ältere Herr.
Aber es ist notwendig, nun einiges über die »Forçats« und »Libérés«, über die »Doublage«, diese Fachausdrücke Französisch-Guayanas zu sagen. Gerade das, was hinter diesen steht, die wirkliche Bedeutung dieser Worte ist es, die die meisten Angriffe auf Französisch-Guayana entfesselt haben. Was bedeuten nun diese Worte?
Auch anderswo gibt es lebenslängliche Strafen, aber hier ist es möglich, lebenslänglich verurteilt zu werden, wenn einer, sagen wir, nur acht Jahre Zuchthaus bekommen hat. Drei Jahre Gefängnis bedeuten nicht drei Jahre, sondern zweimal drei Jahre. Lebenslänglich kann nicht nur ein Mörder verurteilt werden, sondern auch ein kleiner Taschendieb, nicht nur ein Spion, sondern auch ein Bettler, der ohne Erlaubnis wiederholt um Almosen zu bitten wagt. Wie ist das möglich? Und warum werden diese Unmöglichkeiten zu Tatsachen gemacht? Damit diese französische Kolonie sich besser entwickelt. Mit welchem Erfolg das geschieht, werden wir noch sehen.
Um aber zu unseren »Forçats« und »Libérés« zurückzukehren. Jeder »Forçat«, der das Unglück hat, mehr als sieben Jahre aufgebrummt zu bekommen, muß sein ganzes Leben lang in Französisch-Guayana bleiben, das heißt nicht einmal hier überall, sein Aufenthalt ist an bestimmte Landstriche gebunden. Ein lebenslänglich Verurteilter bleibt dagegen immer im Gefängnis, er wird morgens früh um fünf Uhr an seine Arbeit gebracht, um elf kommt er wieder zurück ins Gefängnis, bekommt seine kärgliche Kost, wird dann wieder ausgeführt und muß abends um fünf Uhr zurück sein. Bis zum nächsten Morgen wird er streng bewacht, aber tagsüber kann er sich in verschiedenen »leichteren« Gefängnissen ziemlich frei bewegen, freilich, in den sogenannten 47 Disziplinargefängnissen ist das Leben der Gefangenen eine ganze Kette von Strafen, ohne irgendwelche Freiheiten.
Doch die »Libérés« sagen, auch ihr Leben sei nichts weiter als eine Strafe und ihre einzige Freiheit bestünde darin, hungern zu dürfen und nicht einmal die armseligste Behausung zu haben. Tatsächlich sieht man nachts genau wie tagsüber Menschen in den Straßen herumliegen. Es sind die »Freien«, die »Libérés«.
Eine andere Sache ist die »Doublage«. Jeder Gefangene muß genausolange noch »Libéré« sein, wie seine Strafe dauerte, das heißt, sein Strafmaß wird immer ohne Ausnahme verdoppelt. Zwei Jahre Gefängnis bedeuten zwei Jahre »Forçat« und zwei Jahre »Libéré«.
Wovon aber leben diese »Freien«? Das ist ganz ihre eigene Angelegenheit. Arbeitsmöglichkeiten gibt es kaum, und die wenige Arbeit, die es gibt, wird für den allerniedrigsten Lohn von den Zwangsarbeitern ausgeführt. Die »Arbeitgeber« wollen natürlich nie einen »Freien« für »teures Geld«, solange sie Gefangene billig haben können.
Aber auch, wenn es einem »Libéré« gelungen ist, sich durchzuhungern, durchzukämpfen während der Jahre seiner »Freiheit«, kann er noch lange nicht zurück in die Heimat. Es wird ihm nicht gleich und ohne weiteres ein Billett nach Hause verabreicht, dann kommen erst die Instanzen, die Gesuche, die Untersuchungen, dann entscheidet erst ein Ausschuß über seine Eignung zur Rückkehr.
Faktisch ist es so, daß fast alle Gefangenen lebenslänglich verurteilt sind, nur den wenigsten gelingt es, alle Hindernisse zu überwinden, die den Weg zurück verbarrikadieren.