Maria Leitner
Eine Frau reist durch die Welt
Maria Leitner

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Candy-Girl im Schlaraffenland

Dort, wo die Ananas-, Mandel- und Rosinenberge stehen, Schokoladenflüsse unversiegbar quellen, Honig und Sirup sich in Riesenfässern türmen, dort, sollte man meinen, müßte es schön sein, zu leben, vielleicht sogar zu arbeiten.

Da sich das Schlaraffenland heutzutage nur in einer Schokoladenfabrik befinden kann, scheint die Sache auch gar nicht aussichtslos. Man geht durch das Tor eines Wolkenkratzers, fragt den Portier nach der Arbeiterannahmestelle, steht bescheiden vor dem Personalverwalter und bekommt nach einigem Warten einen Zettel in die Hand gedrückt, auf dem der künftige Arbeitsplatz verzeichnet ist. Kein Wort wird gefragt, man kann gleich anfangen zu arbeiten. Fein, daß man ins Schlaraffenland gelangen kann.

Ich bekomme von der »nurse«, halb Aufseherin, halb Pflegerin, die Uniform und einen Schrank zugewiesen. Sie sagt mir, es sei besser, die Uniform über die Kleider anzuziehen, dann friere man weniger.

25 Aber heute ist doch ein furchtbar heißer Tag, denke ich, doch man ist eben im Schlaraffenland, man soll sich über nichts wundern. Ich gehe die Treppe hinauf zu meinem Arbeitsplatz.

Ich betrete einen riesigen Arbeitssaal. Sofort bekomme ich kalte Füße. Eine ältere Dame, wie sich später herausstellte, die »forelady«, die Vorarbeiterin, flattert mir entgegen, in einem weißen Kleid mit einem Spitzenhäubchen angetan. Sie hat eine rote, erfrorene Nase und fragt mich nach meinen Personalien. Auch teilt sie mir die Arbeitsbedingungen mit, 24 Cent die Stunde. In der Saison kann man Überstunden machen.

Die Arbeiterinnen blicken gar nicht auf. Sie sind in Wolltücher, Wintermäntel, Sweaters gehüllt. Die Luft ist trotz der Kälte schlecht, die Fenster fest verschlossen.

Das kokette Spitzenhäubchen: »Wenn Sie eine Minute zu spät kommen, wird eine halbe Stunde abgezogen. Die Kontrollkarte muß viermal, immer im Arbeitssaal, abgestempelt werden. Morgens, bei Beginn und Ende der Mittagspause und abends, wenn man nach Hause geht.«

Ich glaube, ich habe auch schon eine rote Nase. Freilich, es muß kalt sein, damit die Bonbons nicht zerschmelzen. Daran hätte ich gleich denken müssen.

Ich werde an einen Tisch gesetzt. Plötzlich bin ich umgeben von Kartons, Seidenpapier, Stanniol. Immer neue Platten voll Bonbons werden vor mich hingeschoben. Ich muß packen. Das Spitzenhäubchen erklärt: »Jedes Stück umdrehen und genau prüfen. Die schlecht gelungenen müssen beiseite gelegt werden mit der Nummer, die auf jede Platte aufgeklebt ist. Die soll man nicht essen. Die Arbeit der Hersteller muß geprüft werden.«

Ich fange an, gehorsam zu drehen, zu prüfen, zu packen. »Nur mit den Fingerspitzen, nur mit den Fingerspitzen«, sagt noch das Spitzenhäubchen und entschwindet.

Hier mache ich die Bekanntschaft mit Nummer 68, die nicht etwa ich bin. Ich repräsentiere eine bedeutend höhere Nummer, bin Viervierzwodrei.

Bald stellte sich heraus, daß die Plattennummern immer besondere Individualitäten enthüllten. Da war z. B. die tadellose Nummer 23, die korrekte 25, es war ein Vergnügen, sie zu packen; da war die etwas zerfahrene Nummer 35 und dann also auch die Nummer 68.

26 Ich weiß nicht, ob ich deshalb Sympathien für sie empfand, weil ich fühlte, daß ich genau so schiefe, zerquollene Bonbons mit so fleckigem Guß herstellen würde, wenn mich das Schicksal noch ausersehen sollte, Pralinen zu machen. Jedenfalls versuchte ich, soweit es in meiner Macht stand, Nummer 68 zu retten. Ich aß die verdorbenen Stücke, sie waren schlecht, dafür aber verboten, ich verlor die Zettelchen mit der Nummer, ich schmuggelte sogar einige Stücke der tadellosen Nummer 23 und der korrekten Nummer 25 zu, denen das doch nichts schaden kann.

Am nächsten Tag, welches Wunder, übertrifft Nummer 68 an Korrektheit sogar die Nummern 23 und 25. Ich ahnte gleich Böses. Und wirklich, als ich mich nach Nummer 68 erkundigte, mußte ich mich von der Zwecklosigkeit jeder individuellen Hilfsaktion überzeugen. Denn man sagte mir: »Meinen Sie die alte oder die neue. Denn seit heute ist eine andere da. Die alte ist gestern Knall und Fall entlassen worden.«

 

Neben mir sitzt ein Mädchen, dem man auch anmerkt, daß es ein Neuling ist. In der ganzen Umgebung sind wir die einzigen, die sich für die Erzeugnisse Schlaraffenlands interessieren. Wir kosten alles, kritisieren, haben Vorlieben. Wenn das Spitzenhäubchen entschwindet, machen wir Rundgänge in unserem Arbeitssaal. Wir gehen an den Frauen vorbei, die Datteln entkernen, Nüsse öffnen, Ananas zerschneiden. Jedesmal, wenn wir vorbeigehen, langen wir in die Körbe und essen. Erschrocken sehen wir uns um, aber nichts geschieht. Es ist erlaubt. Die Frauen sehen uns augenzwinkernd nach. Sie scheinen sich über uns zu amüsieren.

Während ich packte, flog mir ein Stück saure Gurke zu. Eine Arbeiterin aus der alten Garde frühstückte. Ich lachte.

Aber am dritten Tag brachte ich mir Essigzwiebeln zum Frühstück mit. Meine Nachbarin schien sich zu freuen, als ich ihr auch welche anbot.

Am dritten Tag mußte ich meinen bequemen Platz, der mir allerdings erst später so bequem erschien, verlassen und wurde vom Spitzenhäubchen zu den Maschinenpackern kommandiert. Das Arbeitssystem ist hier ganz ähnlich wie das berühmte laufende Band. Quer durch den Saal laufen die Maschinen, vor denen die Arbeiterinnen packen. Eine Glaswand, mit je einer Öffnung vor 27 jeder Maschine, trennt uns von den Pralinenherstellern. Hier gibt es kein gemütliches Schlendern mehr, die Maschinen schreiben die Bewegungen der Packerinnen wie der Bonbonhersteller vor.

Man steht hier in der eisigen Kälte acht oder manchmal auch neun Stunden lang, ohne einen Augenblick sich auszuruhen oder sitzen zu können. Das Spitzenhäubchen erscheint immerfort, umkreist uns und schreit uns ständig wie ein Phonograph in die Ohren: »Mädels, eure Hände müssen flinker werden, Mädels, eure Hände müssen flinker werden«, immer ohne Unterlaß. So sieht es aus im Schlaraffenland.

Und trotzdem geht es vor unserer Maschine sehr lebhaft, ja lustig zu. Da ist zum Beispiel Giulietta, die schöne Italienerin. Sie kann nicht nur schnell packen, sondern gleichzeitig auch Charleston tanzen und singen: »Yes Sir, she is my baby.«

Dann sind die beiden Freundinnen da, die sich ständig zanken und sich gegenseitig, zur allgemeinen Freude, alte Sünden vorwerfen. Und dann haben wir Boccaccio hier, freilich einen weiblichen Boccaccio, und schon das allein muß die Arbeit unter den Maschinenpackern erträglicher machen.

Denn Boccaccio ist eine Nummer ganz für sich. Von ungewöhnlicher Reizlosigkeit. Trägt eine Brille auf einer spitzen Nase, und hinter dieser Brille schielen farblose Augen. Die Haut ist fleckig, die Haare strähnig. Doch welche üppige, strotzende Phantasie verbirgt dieses trockene Äußere.

Boccaccio ist natürlich italienischer Abstammung, wohnhaft und aufgewachsen in der Mulberry Street, dem schmutzigsten, dichtestbewohnten Teil des italienischen Viertels. Dort, wo die Nachbarn keine Geheimnisse voreinander haben können, wo die Wände überhaupt nur aus Ohren bestehen, wo mehrere Familien in einem Zimmer wohnen.

Und Boccaccio hat immer alles gesehen und gehört. Und Boccaccio erzählt, fast ohne Unterlaß, ohne daß man darum bitten muß. In einem trockenen, dozierenden Ton berichtet sie von unwahrscheinlichsten Familienschicksalen, haarsträubenden Liebesgeschichten, Großmütter und Kinder, Chinesen und Neger kommen da vor, oft ist auch Boccaccio selbst die Heldin. Die Mädchen biegen sich vor Lachen.

Nur eine lacht nie, spricht wenig. Die Bleiche. Sie stöhnt ständig: »Ach, wie meine Hände frieren«, »Oh, mein Rücken.«

28 Die Schokolade strömt aus der Maschine ohne Unterlaß. Immer die gleichen Bewegungen. Wenn eine neue Art Schokolade aus der Maschine kommt, seufzt die Bleiche: »Ach, schrecklich, diese ewige Abwechslung.«

 

»Will jemand ›dipper‹ werden?«

»Wollen Sie, girl«, fragt mich das Spitzenhäubchen, und ich nicke freudig ja. Die »dipper« arbeiten sitzend. Sie überziehen Pralinen mit Schokolade.

»Sie werden jetzt ein ›trade‹ (Handwerk) lernen«, sagt mir die Dicke, die mich unterweisen soll.

»Yes, m'am«, flüstere ich ehrfürchtig, denn ich weiß, daß ein »trade« Karriere bedeutet.

Meine Nachbarin teilt mir mit, daß diese Woche achtundzwanzig Dollar in ihrem Lohnumschlag waren. »Das ist was anderes als die zehn Dollar der Packer.«

Als die Dicke weggeht, frage ich meine Nachbarin, seit wann sie »dipper« ist.

»Seit acht Jahren. Ja, in der ersten Zeit kann man das auch nicht verdienen.«

Ich sitze nun vor einem großen Kessel voll Schokolade, halte eine Holzkelle in der Hand und rühre fleißig. Wenn die Dicke nicht wäre, könnte ich mich jetzt Kindheitserinnerungen hingeben und denken: Schlaraffenland.

Aber die Dicke erinnert mich mit allem Nachdruck an den Ernst des Lebens. »Immer aufpassen, daß die Schokolade schön flüssig bleibt, wenn sich kleine, harte Stücke bilden, müssen sie sofort herausgenommen werden.«

Aber wieso gefriert nicht die Schokolade sofort in dem kalten Raum? Wie wird sie überhaupt flüssig erhalten?

Auf eine sehr einfache und sinnreiche Art. Unter jedem Schokoladenkessel ist eine stark isolierte elektrische Leitung, die nach Bedarf eingeschaltet werden kann. Sobald die Schokolade ihren gleichmäßigen Glanz zu verlieren beginnt, wird die elektrische Heizung unter dem Kessel angeknipst, muß aber dann immer wieder ausgeschaltet werden, denn die Schokolade darf nicht heiß werden.

Die »dipper« sitzen mit aufgestülpten Ärmeln vor den Kesseln, die Arme mit einem Schokoladenguß überzogen, und tauchen 29 Cremefüllungen, Datteln, Ananas in die Schokolade. Jede Sorte muß auf eine besondere Art gedreht werden, muß eine besondere Größe und Form haben.

Gerade um die Zeit, wenn wir die Fabrik verlassen, paradiert vor uns der Autobus einer anderen großen Schokoladenfabrik, mit den verlockendsten Aufschriften: »Wir machen die beste Schokolade der Welt«, »Wir stellen Arbeiterinnen unter den besten Bedingungen ein«, »Wir befördern unsere Arbeiterinnen frei im Auto zur Arbeitsstelle« (merkwürdig nur, daß nie jemand in diesem Autobus sitzt).

Aber Giulietta weiß etwas Besseres. »Habt ihr denn nicht das Auto der Würfelzucker-Gesellschaft gesehen, mit dem Jazz-Orchester. Das scheint ein lustiges Haus zu sein.«

Und schon tanzt sie wieder Charleston und singt: »No Sir, don't say may be.«

Die Bleiche aber sagt: »Ich hasse jede Abwechslung. Dann sieht man erst, wie schrecklich gleich alles ist.«

 


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