Joseph von Lauff
Kärrekiek
Joseph von Lauff

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322 XXII Die Sterbekerze

Die Tragödie, die in der Mesdagschen Wohnung sich abgespielt hatte, hielt die Bevölkerung der kleinen Stadt in ständiger Bewegung und Aufregung. Ohne daß man etwas Bestimmtes wußte, nahmen die Gerüchte und Vermutungen einen immer größeren Umfang an. Unzählige Versionen wurden an das grelle Lampenlicht der Neugierde gezerrt, um nach kurzer Frist wieder in die Versenkung zu tauchen. Aber mit ihrem Versinken stiegen neue empor, und Andeutungen schwerwiegender und unvorhergesehener Natur gehörten zur Tagesordnung. Auch heute wollten diese Gerüchte noch nicht zur Ruhe kommen. Wie die Mäuse huschten sie durch Türen und Spalten. Sie saßen am Küchenherd und piepsten, sie tummelten sich im Kreise der Kinder herum, sie waren ins Herrenstübchen zu den Honoratioren gesprungen, die bei Dores Küppers hinter dem Schoppen ihre Meinungen austauschten, ihren Skat spielten und aus ihren langen Weichselrohren den feinen Kanaster über die Tischplatte bliesen, sie hockten auf der Bierbank der Leute und zischelten, piepsten und quieksten, daß es nur so eine 323 Art hatte. Aber was sie zischelten und raunten kam der Wahrheit in allen wesentlichen Punkten ziemlich nahe, wenn auch die gerichtlichen Erhebungen bis jetzt im allgemeinen ziemlich resultatlos verlaufen waren.

Herr Iwan Kasimir Brill hatte zwar gewaltig mit den blankgeputzten Augen geblitzt, als er das Kloster der barmherzigen Schwestern betreten hatte, um den jungen Verhage protokollarisch zu vernehmen und ihm hierbei schon im voraus seinen eigenen Standpunkt klar zu machen. – Allein Wilm Verhage war nicht vernehmungsfähig gewesen; nur verworrenes Zeug, unzusammenhängende Sätze hatte seine Zunge gestammelt, so daß Iwan Kasimir Brill sich genötigt sah, sein abgegriffenes Notizbuch zuzuklappen und den Vernehmungstermin auf eine spätere Zeit zu vertagen. Mit Rücksicht auf die Trauer im Hause verzichtete die Justiz bis auf weiteres auf eine Behelligung von Mutter und Hannecke Mesdag. Jakob Verhage hingegen war nicht verschont geblieben, hatte aber jede Aussage rundweg verweigert und fast in Ekstase die Worte hervorgestoßen: »Ich habe gestern einen wundersüßen Traum gehabt. Mir klang der Ruf der Seligen, und mein Sohn Wilm stand an der goldenen Pforte und triumphierte in den Himmel hinein. Halleluja!« – Das war alles gewesen, was er bekundete, und dennoch: je weniger Bestimmtes an die Öffentlichkeit trat, desto ergiebiger schöpfte die Phantasie von groß und klein aus den Auslassungen und Vermutungen des Herrn Polizeidieners Brill, der nicht müde wurde, seine geringfügigen 324 Beobachtungen mit dem Mantel geheimnisvoller Großtuerei zu umkleiden. Nicht des Verunglückten wegen, sondern des pikanten Nebenumstandes halber, daß Hannecke Mesdag in höchst fataler Weise den traurigen Ausgang der beklagenswerten Angelegenheit verschuldet habe, wurden auch die geringfügigsten Körnlein der Wahrscheinlichkeit, die der würdige Diener des Gesetzes unter die Menge streute, von allen aufgepickt und gierig verschlungen. Es handelte sich dabei um Einzelheiten recht heikler Art, um Andeutungen privater Natur, die vornehmlich von solchen Frömmlern und Frömmlerinnen mit widerlichem Augenaufschlag verdammt und abgetan wurden, die entschieden nicht würdig waren, dem armen Mädchen die Schuhriemen aufzulösen. Für den abtrünnigen Seminaristen stand die Sache noch schlimmer. Wie mit einem Male hatte sich die Stimmung gegen Wilm Verhage gewendet. Da gab es nur wenige Herzen, die für ihn Partei ergriffen, oder seine Handlungsweise in milderen Farben erscheinen ließen. Er hatte gefrevelt – und dieser Frevel schrie für sie durch die Wolken. Vornehmlich waren es diejenigen Kreise, die ihn in Grund und Boden verdammten, welche einstens die Mittel zu seinen humanistischen Studien, allerdings unter dem Vorbehalt, daß er sich der Theologie widmen müsse, flüssig gemacht hatten. Statt an ihre eigene Brust zu klopfen und ihrer engherzigen Bestimmung die Schuld aufzubürden, sahen sie in dem Geschehnis den Fingerzeig und die Hand Gottes, die, zur Faust geballt, den Unglückseligen niedergeschmettert hatte. »Herr, sei seiner 325 Seele gnädig!« heuchelten diese gläubigen Biedermeier, verdrehten die Augen und trösteten sich mit dem Bewußtsein, besser und rechtschaffener zu sein als Wilm Verhage, dessen Leben zurzeit an einem Fädchen hing, und der stündlich von seiner Qual erlöst werden konnte. Nur wenige liberal denkende Männer, wie der Notar, Doktor Horré, der Vater des lateinischen Heinrich, Pittje Pittjewitt, Meyer Markus Spier, Dores Küppers und andere suchten die obwaltende Stimmung in weniger fanatische Bahnen zu lenken. Sie fanden nur Achselzucken und geringe Gegenliebe und mußten die Dinge schließlich ihrem Schicksal überlassen. – – –

Anderen Tages und just zur Stunde, als die Pulsanten sich in das Turmportal der Sankt Nikolaikirche begaben, um dort für den Abgeschiedenen die Sterbeglocke zu läuten, saß Jakob Verhage in seiner blaugekalkten Stube am Fenster. Die Hände im Schoße zusammengelegt, sah er dumpfbrütend vor sich hin. So hatte er schon während der verflossenen Nacht gesessen, ruhig und bewegungslos, so hatte ihn der Morgenstern gefunden, so saß er auch jetzt noch, aber an Stelle der verzweifelten Wut war eine stille, fatalistische Ergebung getreten. Die Eindrücke der Außenwelt gingen spurlos an seiner Seele vorüber. Die Vögel waren noch notdürftig versorgt, allein seine besonderen Lieblinge, die Meerschweinchen, trippelten unruhig in der Stube umher, stellten sich mit ihren Vorderpfötchen auf die Filzpantoffeln des einsamen Mannes und sahen mit ihren klugen Augen fragend zu ihm empor, 326 gleichsam als wollten sie ihn an das noch ausstehende Frühstück erinnern. Die kecksten von ihnen beknabberten sogar den Saum seiner Hose und ließen dabei ein vermahnendes Quieksen ertönen, allein Jakob Verhage kümmerte sich nicht um seine Meerschweinchen; seine Lippen waren aufeinandergepreßt, und seine Augen bohrten sich in die abgetretenen Dielen, als wenn sich dort die Scherben seines zertrümmerten Glückes und seiner Hoffnung befänden. Jakob Verhage hatte sein Bestes, was sein eigen gewesen, verloren. Was sollte er noch auf dieser Welt? Seine Gedanken waren nicht mehr von dieser Erde. Gerne wäre er von hinnen gegangen – und er beneidete die Kameraden, die bei Smolensk und Borodino gefallen und in der Beresina ertrunken waren. Ja, er gedachte der Toten! – Seine Augen weiteten sich gespensterhaft. Das russische Schneefeld tat sich vor seinen Blicken auf. Die zerfetzte Trikolore flattert im eisigen Wind. Versprengte Milhaudkürassiere traben vorüber, bettelarm und mit Totengesichtern. Alles in einem wirren, panischen Durcheinander! – Nur die Garde marschiert noch. – Noch steht die Beresinabrücke. – Horch, bum! – Kanonendonner. – Mit untergeschlagenen Armen hält der kleine Korporal bei den Planken. – Die Brücke splittert und bricht – und die Beresina verschlingt sie: Milhaudkürassiere und Garde. »Caesar morituri te salutant!« Er aber lebt – und seine Trompete hallt in schaurigen Tönen über die Stätte des Todes. Er aber lebt und mußte bis zum heutigen Tage leben. – Verflucht! –

327 »Wo bin ich?« stöhnte der Alte.

Die buntscheckigen Nager fuhren zusammen und hoppelten in alle Ecken des Zimmers. Von hier aus äugten sie verschüchtert auf ihren Gebieter, der mit beiden Händen die Lehnen umkrampft hielt und sich halb vom Sitze erhoben hatte.

»Wo bin ich?« fragte Jakob Verhage noch einmal. Mit einem kurzen Aufschrei brach die Stimme ab. Kraftlos sank er auf den Binsensessel zurück.

»Ah, so . . .!« jammerte er. »Alles tot um mich – nur Schnee und Eis und russische Trommeln . . . und die Toten sind glücklich! – Wilm, was stierst Du mich an?! – Du kannst Deine Primiz nicht feiern – Du Gottesräuber! – Sacré nom de dieu! – In die Beresina mit Dir . . .!«

Die Meerschweinchen quieksten.

»In die Beresina mit Dir . . .!«

Die letzten Worte waren stammelnd gesprochen und einten sich den schweren Glockenschlägen, die ernst und feierlich von Sankt Nikolai herübertönten.

Der Alte im Lehnstuhl zuckte schmerzlich zusammen. Dann faltete er die gerunzelten Hände und neigte das Haupt nach vorn. Der eisgraue Mann weinte wie ein Kind.

»Jetzt begraben sie ihn,« sagte Jakob Verhage.

Und richtig, so war es – der Bas wurde begraben. –

Wortkarg und über alle Maßen traurig gestimmt begaben wir uns, der lateinische Heinrich und ich, auf den 328 Weg zu Grades Mesdag, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Mein Freund hatte schwarze, gestrickte Handschuhe über die Finger gestreift und ein Stückchen Trauerflor als Schlips um den weißen Kragen geschlungen. Unterm Arm trug er ein mächtiges Gesangbuch, dessen schwarzer Halbfranzband mit einem eingepreßten Goldkreuz geziert war. Sein Gang war der eines Mannes, der sich berufen hielt, die ganze Würde seiner Persönlichkeit in die Schale der Repräsentation zu legen. Mein Freund imponierte.

Der läutenden Glocke gesellte sich eine zweite, dann kam eine dritte hinzu, die mit feierlichen Schlägen ihre Klage über die Landschaft hinaustönte.

»Preciosa,« sagte der lateinische Heinrich, »schön und erhebend. Mortuos plango.«

Jetzt verstummten die Glocken. Sie hatten den ›Anruf‹ geläutet.

Schweigend gingen wir weiter. Von allen Ecken und Enden zogen die Leidtragenden zur Mesdagschen Wohnung, die so still und friedlich unter dem stahlblauen Himmel ruhte, als hätte hier das Glück für immer seinen Einzug gehalten. Auch Franz Dewers, der lange Dores und Jan steuerten in Sehweite dem Trauerhause entgegen. Selbstgefällig und fast gravitätisch neigten sich die Malvenstöcke im Wind, als wäre noch alles wie früher gewesen. Auf der Gartenpforte saß eine Amsel und sang in die schöne Gotteswelt hinein.

»Sursum corda!« flüsterte der lateinische Heinrich, als 329 wir vor der Schwelle standen, und Pittje Pittjewitt in seiner Eigenschaft als Leichenbitter uns mit einer feierlichen Handbewegung aufforderte, näher zu treten. Hierauf händigte er uns den Totenzettel ein.

»Salve!« sagte der Lateiner, nickte mir zu, und selbander betraten wir das Sterbehaus, in dem wir so viele glückliche Stunden verlebt hatten.

Ein warmer Duft nach Firnis und geschnittenem Buchsbaum schlug uns entgegen. Der süßliche Rauch der Wachskerzen hatte die Räume durchzogen. Auf dem Flur lagen zerkleinerte Binsen und Kalmuspartikel.

»Sacer locus,« hauchte mein Freund in scheuer Ehrfurcht und Andacht. Mir war die Kehle verschnürt, und die Tränen wollten mir kommen.

Wir traten in die Küche, wo die Leidtragenden sich schon zum Teil versammelt hatten. Die Tür, die zur blautapezierten Stube führte, stand sperrangelweit offen. Hier war Grades Mesdag in schlichter Weise aufgebahrt. Etliche Blumentöpfe mit Sommerlevkojen standen zu Häupten der schwarzen und mit Weißblech ausgeschlagenen Lade, überragt von dem schlanken Schaft einer Wachskerze, an deren Docht ein knisterndes Flämmchen sein betrübliches Dasein fristete. Leise sickerte das geschmolzene Wachs über den oberen Rand, erstarrte und formte dann Gebilde, die wie Stalaktite kopfüber zur Erde gerichtet waren. Zeitweilig tropfte das überschüssige Wachs mit einem deutlich vernehmbaren Geräusch auf den Teller des Messingleuchters, der blankgescheuert aus den Levkojentrauben 330 hervorsah. Unruhig flackerte das blaue Flämmchen am Docht.

Langausgestreckt, friedlich und mit einem feinen Lächeln um den eingezogenen Mund ruhte Grades Mesdag auf einer Unterlage von Hobelspänen, die ein grobes, weißgestärktes Laken bedeckte. Hände, Kissen und Sterbehemd lagen unter einer Fülle von weißen Papierrosen und geschnittenem Buchsbaum. Einige Schnipsel Rauschgold glitzerten traurig dazwischen und warfen einen sanften Schein auf den schwarzen Lederband der Nachfolge Christi, den der Bas noch im Tode gläubig mit seinen wächsernen Händen umspannt hielt. Bläuliche Schatten hafteten auf den Wölbungen der Fingernägel. Die weiße Nachtmütze war bis über die Ohren gezogen, aus deren Umrahmung die eingefallenen Schläfen porzellanfarbig hervorsahen, ein Eindruck, der in der unbestimmten Dämmerhelle des Zimmers noch in einem verschärften Maße zur Geltung kam. Die zugespitzte Nase war durchsichtig – und dennoch, trotz dieser aufdringlichen Merkmale des Todes, schien Grades Mesdag zu schlummern.

Die Sterbekerze knisterte und sandte dabei kleine Rauchwölkchen zur Decke. Sonst war es totenstill im Zimmer, keine Fliege summelte, selbst im Nebenraum standen die Leute unter dem Banne des Augenblicks. Aber der Duft verstärkte sich. Immer aufdringlicher machten sich Firnis und Buchsbaum bemerkbar. Betäubend und einschläfernd wirkten diese Ingredienzien auf die Sinne derjenigen, die gekommen waren, der Einsegnung der Leiche beizuwohnen.

331 Nur auf Mutter Mesdag schienen sie keinen Einfluß zu haben. Wie ein Steinbild saß die schwarzgekleidete Frauengestalt am Kopfende der Totenlade. Die Augen stierten ins Leere. Keine Wimper zuckte in dem eisigen Antlitz, das die wächserne Farbe der Stirne ihres seligen Mannes angenommen hatte. Hände und Rosenkranz lagen untätig im Schoße der unglückseligen Frau, deren Lippen das Beten vergaßen, und deren Augen keine Tränen mehr finden konnten, obgleich sie gerötet waren vom Weinen in den verflossenen Tagen. Wie die verkörperte Sorge, stumpf und gefühllos, saß sie bei den schwarzen Brettern. So hatte sie schon vor einer Stunde gesessen. Die Außenwelt war tot für sie. Sie hatte Mann und Tochter verloren – und das genügte, sie gleichsam in Stein zu verwandeln. Mutter Mesdag war wunschlos geworden – und dennoch keimte ein einziger Wunsch in ihrem kalten Herzen auf. der darin gipfelte, sich recht bald auf die Lade strecken zu dürfen. Bei ihrem Bas hätte sie alles Leid, alle Sorgen und Kümmernisse ausschlafen können – unter den weißen Rosen da draußen.

In einer Fensternische stand Hannecke Mesdag. Als ich sie bemerkte, konnte ich nur mit großer Mühe das Schluchzen verhalten. Mir war unendlich weh und krank ums Herz. Ich ergriff in meiner Not den Arm vom lateinischen Heinrich und preßte ihn an mich. Heinrich erriet meine Gedanken. Auch in seinem Inneren mochten ähnliche Gefühle sich regen, denn seine treuen und guten Augen standen in Tränen; mit dem Daumen zeigte er auf Hannecke Mesdag.

332 »Angelus dei,« flüsterte der lateinische Heinrich.

Dann zog er mit wehmütigem Lächeln sein Schnupftuch aus der Hosentasche und trompetete mit Anspannung aller seiner Kräfte hinein. Er wollte seine Rührung verbergen. Trotz der großen Trauer, die mich beherrschte, merkte ich doch, daß auf der knallroten Fahne der Kampf der Horatier und Curiatier in grobem Zeugdruck zur Darstellung gekommen war. Auch in dieser Hinsicht bekundete der Lateiner seine große Vorliebe für römisches Wesen und römische Geschichte. Mit einem tiefen Seufzer ließ er den Drillingskampf der römischen und albanischen Jünglinge wieder in seine Hosentasche verschwinden. Nur noch ein Zipfel des Tuches ragte leuchtend aus seiner Versenkung. Ein zweiter Seufzer ertönte.

»Angelus dei,« wiederholte ich kleinlaut, als meine Gedanken sich weiter mit Hannecke Mesdag beschäftigten. Ich konnte sie nicht ansehen, ohne auf das tiefste erschüttert zu werden. Seit dem kritischen Tage war ich ihr heute wieder zum ersten Male begegnet. Ein selbstquälerisches Festhalten entschwundener Bilder leuchtete fieberhaft aus ihren Blicken hervor, und eine bange Frage nach der Zukunft stand ergreifend in ihrem lieben Antlitz geschrieben. Sie wußte, sie hatte wenig mehr vom Leben zu hoffen, und sie war sichtlich gefaßt darauf, daß sie von nun an nur einem schadenfrohen Lächeln begegnen würde, giftig wie Schierling und schmerzhaft wie der Stich der Kardendistel, einem Lächeln, das sie aller und jeder Daseinsfreude beraubte. Und dennoch, indem sie 333 Verlorenes beklagte, begehrte sie nach dem Leben, nach voller Befriedigung ihrer Sehnsucht, nach etwas Besserem, Höherem, nach Glück und dem heilsamen Balsam der Liebe. Krampfhaft arbeitete es in ihren Zügen. Der alte Stolz bäumte sich in ihrer Seele auf; er versuchte es, sich aufzubäumen, aber er erlahmte und mußte erlahmen unter der Wucht der Verhältnisse, die erbarmungslos von allen Seiten auf sie einstürmten. Unter ihren nicht ganz geschlossenen Augen lagen bläuliche Schatten. Ein ängstliches Feuer flackerte in ihren Blicken. Es hatte eine Ähnlichkeit mit dem Schein von Gräberlichtchen, die am Allerseelentage im bereiften Grase des Friedhofes leuchten. Was wollte dieses ersterbende Feuer – und wen suchte es? – Trostlos sah sie einer hohen Gestalt nach, die ins Leere zerflatterte. –

Immer die greifbare Totenstille, die Dämmerhelle und das unstete Flackern der Sterbekerze . . . Neue Leidtragende stellten sich ein. Unter ihnen befanden sich auch Heinrich Hübbers in seinem fünfundzwanzigpfündigen Leibrock und der Schreinermeister Henseler aus der Kesselstraße, der immer ein saftiges Priemchen in seiner linken Backentasche verborgen hielt. Auch Fritz van Dornick, Spengler und Spritzenmeister, und Dores Küppers waren erschienen. Mit diesen hatte auch der städtische Polizeidiener Herr Iwan Kasimir Brill seinen Einzug gehalten. Eine hohe Befriedigung zeigte sich auf den Gesichtern der Anwesenden, als dieser Gewaltige die einfache Schwelle beehrte.

334 »Ganz wie unser einer,« flüsterte mir der Lateiner in gehobener Stimmung zu. »Das ist nobel von dem Manne. – Mehr wie nobel!« – Mit diesem Zusatz bekräftigte er die hohe Meinung, die er in diesem Augenblick von der Persönlichkeit des Herrn Iwan Kasimir Brill sich gebildet hatte.

Jetzt hatte die Beerdigungsfeierlichkeit doch einen richtigen und offiziellen Anstrich bekommen. Im Interesse der Mesdagschen Familie mußte ich meinem Freunde aus ganzem Herzen beipflichten – und ich nickte ihm Beifall. Selbst für Mutter Mesdag war das Erscheinen der karmoisinroten Aufschläge und des neuen Portepees von einer belebenden Wirkung. Sie fuhr aus ihrer lethargischen Erstarrung empor und winkte kaum wahrnehmbar einer hohen Frauensperson zu, die bisher, nur von wenigen bemerkt, ruhig und in einem schwarzen Merinokleid neben dem Küchenherd gestanden hatte. Dann sank sie in ihr früheres Brüten zurück – aber Lisbeth Kanders hatte den stummen Wink von Mutter Mesdag verstanden. Langsam und feierlich drehte sie ihren langen Gänsehals herum, ergriff ein Zinntablett, das auf der Anrichte stand, und bestellte es mit verschiedenen dickfüßigen Schnapsgläsern und einer langhalsigen Flasche, aus deren Verglasung eine wasserhelle Flüssigkeit hervorblitzte. Mit ihren wächsernen Händen füllte sie die Gläser und tat jedesmal etliche Klümpchen Kandiszucker hinzu. Ein süßlicher Geruch nach gebranntem Wasser erfüllte die Küche, als nunmehr die hagere Kanders mit ihren hohlliegenden Augen 335 und dem verbindlichsten Lächeln von der Welt den mit Zucker versetzten Schiedamer präsentierte. Sie tat es mit einer Attitüde, die der Situation angemessen war, denn ohne Schiedamer wäre ein standesgemäßes Begräbnis ein Unding in dieser Gegend gewesen. Zuerst wurde der Herr Polizeidiener Brill mit dem gebrannten Wasser beehrt – und das gehörte sich so.

»As't üh belieft, Mynheer,« sagte Lisbeth Kanders und hielt das Tablett in Reichweite hin.

»Danke,« versetzte Herr Iwan Kasimir Brill, goß den Inhalt hinter den karmoisinroten Kragen und löffelte den geschmolzenen Zucker vom Boden.

»Whipp!«

Lisbeth hatte wieder ihren fatalen Schlickser bekommen. Auf weichen Sohlen präsentierte sie weiter.

»As't üh belieft, Mynheer Hübbers.«

»As't üh belieft, Mynheer van Dornick.«

»Whipp! – As't üh belieft, Mynheer Küppers – whipp!«

»As't üh belieft . . .« und in diesem Tone näselte sie weiter, verrenkte ihren Hals und schob hohläugigen Blickes so lange durch die stattliche Reihe der Leidtragenden, bis sie das letzte Klümpchen Kandiszucker und den letzten Tropfen aus der langhalsigen Flasche an den Mann gebracht hatte.

»As't üh belieft . . .! – Whipp!«

Herr Schreinermeister Henseler kam zuletzt an die Reihe. 336 Mit seinem dicken Zeigefinger holte er das Priemchen aus der Backentasche, steckte es in die geblümte Sammetweste und ließ den Inhalt des dickwandigen Gläschens sanft durch die weite Gurgel hinabgleiten, stülpte das Glas um und stellte es verkehrt auf die Platte.

»Merci!«

Von Sankt Nikolai begannen die Glocken zu läuten. Mein Freund zog die Uhr.

»Fünf Minuten zu spät,« sagte der lateinische Heinrich. »Quandoque bonus dormitat Homerus. Zuweilen schläft auch Cornelis Tenback.«

Cornelis Tenback, der als Küster des kleinen Städtchens die Pulsanten anzustellen hatte, spielte im Ideenkreise des lateinischen Heinrich eine wichtige Rolle – aber das Zitat aus Horaz' ›Ars poetica‹ war noch nicht in meinen Ohren verklungen, als auch schon Pittje Pittjewitt seine gewichtige Persönlichkeit unter die Leidtragenden drängte und die Ankunft des Herrn Pastors und Dechanten van Bebber anzeigte. Der Küster Tenback und zwei halbwüchsige Ministranten mit Weihkessel, Sterbekreuz und Räucherfaß eröffneten den feierlichen Einzug. Hierauf erschien der Herr Dechant im Chorhemd. Er sah weder rechts noch links; seine Augen waren niedergeschlagen. Eine große Willenskraft umspielte die Mundwinkel des schmalschulterigen Mannes, dessen scharfausrasierte Tonsur bleifarbig inmitten des Hinterkopfes stand. Er trat an das Fußende der schwarzen Lade.

Mutter Mesdag war aufgestanden.

337 Weihrauchwölkchen kräuselten in zierlichen Spiralen aus dem geschwungenen Rauchfaß.

Die Feier war einfach. Nachdem die üblichen Formalitäten erfüllt und die Sterbegebete in lateinischer Sprache hergesagt waren, erhob der Pastor noch einmal die Stimme und sprach mit scharfer Betonung: »Oremus! – Quaesumus, domine, pro tua pietate, miserere animae famuli tui, et a contagiis mortalitatis exutam, in aeternae salvationis partem restitue. Per dominum nostrum Jesum Christum. – Requiem aeternam dona ei, domine.«

»Et lux perpetua luceat ei,« respondierte der Küster Tenback, die beiden Ministranten und der lateinische Heinrich. Aber die Stimme des letzteren übertönte sie alle. Er schloß mit einem so schweren Seufzer, daß der Herr Dechant van Bebber sich umwendete und dem Sprecher einen vielsagenden und wohlwollenden Blick zuwarf.

»Requiescat in pace.«

»Amen,« sagte der lateinische Heinrich.

Unter einer brütenden Totenstille wurde die Lade mit dem Rauchfaß und dem Weihbronnwedel umschritten. Dann ein Verschrauben des Sarges, ein kurzes Aufschluchzen – und Grades Mesdag wurde von sechs befreundeten Männern, unter denen sich auch Heinrich Hübbers und Fritz van Dornick befanden, über die Schwelle seines Hauses getragen.

Frau Mesdag sah ihrem Mann mit weit aufgerissenen 338 Augen nach. Sie regte und rührte sich nicht – ihre Wangen waren trocken geblieben.

Pittje Pittjewitt machte die Honneurs an der Schwelle. Der Wind hatte sich aufgetan. Die lange Pleureuse voltigierte über den Sarg fort. Als der Dechant an ihm vorbeischritt, faßte er den Leichenbitter ins Auge, hielt den Fuß an und meinte: »Herr Pittjewitt, nach diesem Begräbnis dürften Ihre kirchlichen Amtshandlungen als erledigt betrachtet werden.«

»So?« fragte Pittje Pittjewitt.

»Ja – auch der Vorstand der Kirchengemeinde ist in dieser Angelegenheit eines Sinnes mit mir.«

Pittje Pittjewitt lüftete mit einem pfiffigen Mienenspiel den Trauerzylinder. »Na, denn man zu,« versetzte er leichthin. »Mein Barbiergeschäft und die Schweinestecherei tun's auch noch; ich habe mein Auskommen. Danke.«

Der Dechant setzte seine Kaumuskeln in eine nervöse Bewegung. Die große Ruhe seines Untergebenen kam ihm höchst ungelegen. Er glaubte mit einem reumütigen Schafe zu sprechen – und hatte einen Starrkopf gefunden. Seine Maßregelung war ein Schlag ins Wasser gewesen.

Pittje Pittjewitt setzte den Zylinder unter fünfundvierzig Grad Neigung auf den Kopf, gab ihm noch, des besseren Sitzes wegen, einen leichten Schlag auf den oberen Deckel und stellte sich mit Ostentation an die Spitze des Zuges. Der Küster Tenback hatte das 339 schwere Holzkreuz in die Luft gehoben, der Weihrauch dampfte, dumpfe Glockenschläge hallten über die Landschaft – und langsam, unter breiten Responsorien, wurde Grades Mesdag von seinem Eigen und zum Kirchhof getragen.

Der liebe Herrgott hatte den großen, horizontalen Strich über die arme Seele gezogen. Requiescat in pace. –

Ruhig brannte noch immer die Sterbekerze auf ihrem Metalleuchter. Das niederrinnende Wachs tropfte auf den vorspringenden Teller und erstarrte dort. Sichtlich wuchsen die Gebilde unter dem Tropfenfall. Ein gleichmäßiges Tönen begleitete das Wachsen derselben.

Lisbeth Kanders hatte inzwischen die Laden aufgestoßen. Heller Sonnenschein flutete durch die Zimmer, von denen der Bas soeben geschieden war. Hierauf fegte sie die Blätter und Blüten zusammen, die beim Fortschaffen der Kränze zu Boden gefallen waren. Nachdem sie dieses besorgt hatte, entkorkte sie eine neue Flasche, füllte ein Gläschen mit der hellen Flüssigkeit, tat einige Stücke Kandiszucker hinzu, legte alsdann die Hand auf die kümmerlichen Reste ihres jungfräulichen Busens und genehmigte sich ein herzhaftes Schlückchen. – Prosit.

»Whipp!« machte die Kanders.

Stocksteif stand Mutter Mesdag bei der Sterbekerze. Die Züge ihres Gesichtes waren noch härter geworden als zuvor. Auch nicht die geringste Bewegung in ihnen 340 verriet, was in ihrem Inneren vorging. Nur unter ihren Brauen stand ein seltsames Feuer.

Langsam, schweren Schrittes und zögernd näherte sich Hannecke der Mutter. Sie tastete nach ihren Händen.

Jetzt kamen der Alten die Worte zurück.

»Was willst Du?«

»Mutter,« bat die Ärmste mit flehendem Tone.

Frau Mesdag schwieg. Nur die Kerze tropfte vernehmlich durch die brütende Stille.

»Mutter – vergib mir.«

Die Alte stierte sie an.

»So rede doch, Mutter. Erbarme Dich meiner – vergib mir.«

Ein dumpfes Stöhnen rang sich aus der Brust des unglückseligen Mädchens.

»Was? – Vergeben? – Dir?« stammelte die Frau, die bislang wie eine Bildsäule gestanden hatte. Dann schleuderte sie die Hand ihrer Tochter zurück.

»Niemals – Du Pfaffendirne!«

Ein wilder Schrei folgte diesen Worten.

Hannecke Mesdag war aus der Stube getaumelt.

Als wäre nichts geschehen, ruhig und gefaßt, wendete sich die Alte der brennenden Kerze zu, nahm sie vom Leuchter, löschte die schwindsüchtige Flamme und wickelte den nunmehr toten Wachsstock in steifes Leinenzeug, das vom Sterbehemde ihres Mannes übrig geblieben war. Die so eingewickelte Kerze legte sie in eine Schublade der Kirschholzkommode.

341 »Die mag angezündet werden, wenn sie mich auf die Hobelspäne strecken,« sagte Frau Mesdag.

Hierauf trat sie ans Fenster und sah aufs Ravelin hinaus.

»Kärre-kärrekiek!« rief die Rohrdrossel aus der Ferne herüber – die Glocken aber waren verklungen.


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