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Schon seit einigen Tagen gingen die Adventschauer über die eingeschneite Erde, und aus Morgen und Mittag war Sankt Nikolasabend geworden. Noch immer herrschte die grimmige Kälte. Vom nordwestlichen Himmel her hatte sich eine bleigraue Decke vorgeschoben, die sich plötzlich in ein wimmelndes Schneegestöber auflöste. Vor den rotdunstigen Straßenlaternen, die allmählich hier und da aufleuchteten, war alles in einer tanzenden und flirrenden Bewegung. Die spanischen Giebel auf dem Marktplatz, das Rathaus und der Turm der Sankt Nikolaikirche standen in einer dumpfen Nebelhülle, die von blitzenden Flöckchen durchsetzt wurde. Die Inhaber von Wirtschaften, Destillen und Kramläden begannen ebenfalls ihre kleinen Öllampen anzuzünden. Orangefarbene Lichtscheine legten sich dabei quer über die eingeschneiten Straßen. Die dunklen Schatten der Fensterkreuze standen scharfumgrenzt in dieser lichten Umrahmung. Hier und da bewegte sich eine Gestalt in dämmernder Entfernung auf die hellen Flecke zu. Lautlos gingen die Schritte über die weiche Schneedecke, die ein fast bläuliches Aussehen hatte und stetig anwuchs unter dem Niederfallen 81 der traumhaft auf und nieder irrenden Schneesternchen. Der Advent und Sankt Nikolaszauber ging um! –
Hinter den gefrorenen Fensterscheiben machten sich fröhliche und doch ängstlich gespannte Kindergesichter bemerkbar. Mit ihrem warmen Atem tauten sie die Eisblumen auf, drückten die Näschen platt gegen die Scheiben, rissen die Augen auf in Erwartung und seliger Hoffnung, den heiligen Mann im Bischofsornat und auf einem sanften Schimmel vorüberreiten zu sehen. Hinter ihrem Rücken knisterte der Kanonenofen, in ihrem Herzen war Freude und Himmelslust, das Gedüft von Lebkuchenmännern, Spekulatius, Nüssen und Äpfeln spielte um ihre Nasenflügel, und von draußen dämmerten die ahnungsvollen Wunderschauer schneeblau und allverheißend in die frommen Kinderseelen und die warmen Stuben hinein. Und wirklich um diese Stunde schirrte Sankt Nikolas sein Rößlein, setzte sich die Papiermitra aufs Haupt, klebte sich den wallenden Flachsbart an und stopfte Packtaschen und Mantelsack mit Äpfeln, Wall- und Haselnüssen derart voll, daß die Nähte zu krachen begannen. Hierauf legte er sein Bischofsornat in schickliche Falten, setzte den Fuß in den Steigbügel und klemmte sich, so gut es gehen mochte, in Sattel und Gurt. Um die Mitra hatte er noch einen Stechpalmzweig gewunden, aus dessen saftigen Lederblättern scharlachrote Beeren hervorglänzten. Stattlich saß er zu Pferd, schnalzte etliche Male mit der Zunge, um schließlich den geduldigen Mietsschimmel durch die verschneiten Straßen zu lenken. Die 82 pausbackigen Kindergesichter waren von den Fenstern verschwunden.
Mit dem Glockenschlage fünf machte ich mich auf den Weg zu Grades Mesdag. Inmitten des Marktes kam mir ein mattflimmerndes Laternchen entgegen, in dessen Träger ich den lateinischen Heinrich erkannte. Unsere Mitgenossen hatten sich in Erwartung der kommenden Dinge und von verzehrender Ungeduld geplagt, bereits vor einer Stunde in die Mesdagsche Wohnung begeben. Das Laternchen zog einen Heiligenschein um die hohe Gestalt meines Freundes, dessen Aussehen, trotz des allmächtigen Schals, den er sich vier- bis fünfmal um den Hals gewickelt hatte, einen besonders wichtigen Anstrich auswies. Die Komik, die wie ein ausgelassener Schalksnarr aus dem dicken Halströster und der verfrorenen Nasenspitze hervorschaute, tat dem äußerst gemessenen Wesen meines Freundes keinerlei Abbruch. Im Gegenteil, der Lateiner war in jeder Hinsicht ernsthaft zu nehmen. Nur die Laterne gab zu denken.
»Herr Jerum!« fragte ich ihn, »was machst Du hier mit dem leuchtenden Glaskasten? Der Weg zu Grades Mesdag ist auch ohne Laterne zu finden.«
»Es ist von wegen der Feierlichkeit,« entgegnete er, »heute ist Sankt Nikolasabend.«
Ohne meine Antwort abzuwarten, fuhr er fort: »Bevor wir nun das heilige Fest bei Mesdags begehen, möchte ich Dir kurz erklären, wer der große Kinderfreund überhaupt gewesen ist. Er wurde zu Patara in 83 Kleinasien als ein Sohn begüterter Eltern geboren. Als er nach deren Tode zu einem reichen Erbe gelangte, verwandte er es lediglich zum Troste der Notleidenden. Nun wohnte in damaliger Zeit ein verarmter Edelmann, ich glaube sogar, daß er den Titel ›Baron‹ führen durfte, in nämlicher Stadt. Dieser Baron besaß neben seiner Armut noch zwei liebreizende Töchter. Aber der Satan versuchte ihn und brachte seinen Sinn auf den unseligen Gedanken, die schuldlosen Töchter gegen Entgelt reichen Wüstlingen in die Hände zu spielen.«
»Was heißt das?« fragte ich den Erzähler nach einiger Überlegung.
»Das besagt die Legende nicht,« fuhr der Lateiner fort, »aber so viel steht fest, daß sie hierdurch ihrem Glauben abtrünnig gemacht werden sollten und, aller Wahrscheinlichkeit nach, das Gott unliebsame Kartenspiel zu erlernen hatten. Da solches dem Heiligen zu Ohren kam, schlich er sich in stiller Nacht an das Haus des verarmten Barons und warf durch ein zerbrochenes Fenster so viel Geld in die Kammer, daß dieser von nun an nicht nur standesgemäß leben, sondern seinen Töchtern auch eine hinlängliche Aussteuer verstatten konnte. Der Heilige wurde zur Belohnung für diese gottwohlgefällige Tat etliche Jahre später Bischof von Myra. Die abendländische Kirche machte ihn außerdem zum Schutzpatron sämtlicher Kinder – und dies ist er bis zum heutigen Tage geblieben. Ex officio! – Von Amts wegen!– Exempla illustrant! – Folgen wir seinem Beispiele nach!«
84 Heinrich hatte gesprochen. Ich mußte ihm recht geben. Schweigend gingen wir weiter.
Das Schneegestöber hatte inzwischen vollständig aufgehört. Aus einem Kuchenbäckerladen, den wir passierten, kam ein feiner Geruch von gebrannten Mandeln, Safran und Kardamomen. Große Weck- und Spekulatiusmänner, die eine gaudasche Tonpfeife im Munde hielten, standen verlockend hinter dem hellerleuchteten Schaufenster. Ich blieb stehen, um mir diese Zuckerherrlichkeit mit begehrlichen Blicken näher vor die Sinne zu führen.
Der Lateiner aber zog mich beim Zipfel und meinte: »Das sind irdische Dinge. Mit dem Verzehren von Kuchenmännern wird dem großen Heiligen nicht gedient. Im Hinblick auf diesen Schutzpatron sei unser ganzes Denken und Fühlen auf ernste Dinge gerichtet. Komm!«
Wir gingen weiter. Als wir am Ravelin vorbeikamen, wo die abgestorbenen Schilfhalme seltsam im Winde wankten und raunten, und die Pappeln große Schneeflocken von den Ästen schüttelten, blieb mein Begleiter stehen, reckte den langen Hals aus seiner warmen Umhüllung und sagte: »Ich habe ihn gesehen und gesprochen.«
»Wen?« fragte ich.
»Den jungen Heerohme – Wilm Verhage.«
»Wann?«
»Heute morgen. Er gedenkt die Weihnachtsferien in aller Stille bei seinem Vater zu verleben.«
»Wie sieht er denn aus?«
85 »Heilig – und wie ein Jüngling, dessen ganzes Seelenleben sich nur mit seraphischen Theorien beschäftigt. Aber er gedenkt diese Theorien in die Tat zu übersetzen. So sagte wenigstens der Herr Pastor van Bebber, in dessen Begleitung er war. Non scholae, sed vitae discimus. Der junge Heerohme wird sicherlich ein Heros unter den Kaplänen werden, der später treu und vorbildlich seines seelsorgerischen Amtes walten dürfte.«
»Und hat er diesen Beruf aus freien Stücken gewählt?« wagte ich schüchtern einzuwerfen.
Der Lateiner zuckte die Achseln: »Er wurde ihm von der Vorsehung in den Schoß geworfen. Er ist für diesen Beruf geradezu prädestiniert gewesen, und der liebe Gott hat sich frommer und mildtätiger Menschen als Werkzeug bedient, um die Studien des jungen Verhage möglich zu machen. Was der Himmel bestimmt, dem soll der Mensch sich fügen – und Wilm Verhage hat sich gefügt.«
»Es soll ihm aber schwer geworden sein,« gab ich meinem Freunde zu verstehen.
»So?« fragte Heinrich mit spitzer Betonung.
»Sehr schwer,« wiederholte ich aus vollster Überzeugung.
»Wer sagt das?«
»Pittje Pittjewitt.«
»Ohne Kampf keine Siegespalme,« antwortete der Lateiner. »Im übrigen,« fügte er hinzu, »muß ich Dir bemerken, daß Pittje Pittjewitt leider Gottes liberalen Gesinnungen huldigt. Er trägt einen Zylinder, spielt und 86 kegelt an Sonn- und Feiertagen, richtet sich hinsichtlich seiner politischen Anschauungen nach den Leitartikeln im Niederrheinischen Kreisblatt und wählt antiklerikal. Wenn ich Mitglied des Kirchenvorstandes wäre, sollte ihm das Amt als Leichenbitter entzogen werden. Außerdem tut die Ansicht Pittje Pittjewitts dem Ansehen und der frommen Denkweise Wilm Verhages keinen Abbruch. Der junge Heerohme ist, wie vorhin bemerkt, seraphisch gestimmt, und ich gedenke auf ihn ein Poem zu machen.«
Der Lateiner warf sich in die Brust. Er mußte mein Lächeln bemerkt haben, denn mit einem gewissen Vorwurf in der Stimme machte er seinem Unmut Luft.
»Warum nicht?« fragte er hastig. »Werden nicht die Taten berühmter Feldherren besungen? So manchem Bannerträger des Antichristen wird ein Poem aufgetischt – und da sollte Wilm Verhage, dem herzlieben Benjamin Gottes, kein Lied vergönnt sein?! – Ich singe das Lied und zwar in der sapphischen Strophe.«
Dabei klopfte er auf die linke Brusttasche. »Der Anfang ist fertig. Bona causa triumphat.«
»Meinetwegen.«
Aus dem Kamin des Mesdagschen Hauses wirbelten vereinzelte Funken wie Glühwürmchen durch die Nacht. Auf dem Herdfeuer mußte ein lustiges Feuer prasseln, und ein verlockender Duft nach frischgebackenen Preßwaffeln drängte sich durch die Spalten der doppelschlägigen Tür. Weiter zur Rechten und jenseits der Landstraße, beim Nachbar von Grades Mesdag, bemerkten wir den 87 Sankt Nikolasschimmel, wie er am Torgatter angebunden stand und betrüblich mit dem Schwanz wackelte. Sein warmer Atem umdampfte ihn wie eine förmliche Nebelhülle. Der Heilige mußte die Schwelle schon betreten haben, denn wir hörten den jugendlichen Ton betender Kinderstimmen deutlich herüberschallen. Dem Schimmel wurde die Zeit zu lang. Traurig wieherte er durch die Schauer des Sankt Nikolasabends.
»Wer macht in diesem Jahre den heiligen Mann?« fragte ich den Lateiner, wobei ich den Türklopfer ergriff und ihn verschiedene Male gegen die Planke fallen ließ.
»Wahrscheinlich Kerstken van Ringenberg. Aber der ist ein Schuster und hat keine geistlichen Manieren. Die ganze Auffassung seiner heiligen Rolle ist handwerksmäßig und profan. Sie riecht nach dem Pechdraht. Ut desint vires, tamen est laudanda voluntas. Man muß den guten Willen für die Tat nehmen. Aber so viel steht fest, daß ich mit den kommenden Jahren mich mit dieser schwierigen Aufgabe befassen werde. – In mir soll die Legende einen würdigen Vertreter finden. Ich fühle das Zeug in mir,« setzte er flüsternd hinzu, »und gedenke überhaupt als Lebensberuf den geistlichen Stand zu wählen.«
Er hatte mit einer unverkennbaren Zuversicht und Festigkeit in der Stimme gesprochen.
Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Ich faßte den schwerwiegenden Inhalt seiner Worte nicht und fragte noch einmal: »Was willst Du werden, Heinrich?«
88 Den Klopfer hatte ich fahren lassen.
Der Lateiner ergriff meine Hand. »Ich habe in der verflossenen Nacht ein Gesicht gehabt – das hat mir den rechten Pfad gewiesen. Ich werde Kaplan.« Dabei schlug er die Augen gen Himmel, wo aus der zerrissenen Nebelhülle vereinzelte Sterne aufblitzten.
Die Tür wurde geöffnet. Der fromme Kindersingsang aus dem Nachbarhause verstummte. Wir waren in die wohlig durchkachelte Wohnung von Grades Mesdag getreten. In diesem Augenblick kam uns so ein recht warmer und anheimelnder Waffelgeruch entgegen. Mein Freund ließ bei diesem Gedüft seinen Abscheu gegen irdische Dinge und Genüsse fahren, denn mit einem lukullischen Schnuppern drängte er sich bis inmitten der Küche vor, wo die ganze Gesellschaft bereits um den großen Tisch gruppiert war und Mutter Mesdag in geschäftiger Eile am prasselnden Herdfeuer hantierte. Zwei kleine, rotznäsige Nachbarskinder, die Grades Mesdag seinerzeit aus der Taufe gehoben hatte, gehörten ebenfalls zur stattlichen Tafelrunde. Pittje Pittjewitt und der Bas pafften aus ihren langen Tonpfeifen, während Hannecke mit liebevoller Sorgfalt die beiden Flachsköpfe aus der Nachbarschaft für die kommende Feier zurechtstutzte. Ich suchte einen Blick von dem lieben Mädchen zu erhaschen, aber es schien keine Augen für mich zu haben, eine Erkenntnis, die mich auf das schmerzlichste berührte und quälte. Meine Tischgenossen hingegen liebäugelten nur mit der dampfenden Porzellanschüssel, die inmitten von Punschgläsern und 89 Rumflasche auf der sauber gespreiteten Tafel paradierte, und zu der sich bald darauf die duftenden Preßwaffeln gesellten. Jetzt machte es sich auch Mutter Mesdag bequem in ihrem Sessel.
Der Nachtwind orgelte im Kamin, und die groben Buchenscheite knallten und knisterten dazu, daß es eine wahre Lust war. Wie kleine Sprühteufelchen huschten die blitzenden Funken in den Schwalch hinein, wo bereits die Weihnachtsschinken im Rauch hingen. Es war eine große, erwartungsvolle Stille, die sich geltend machte, als Pittje Pittjewitt sich anschickte, das wichtige Amt des Mundschenken in die Hand zu nehmen. Die Blicke aller waren auf ihn gerichtet. Es war eine atemlose Pause, während welcher Pittjewitt die Gläser mit der dampfenden Flüssigkeit anfüllte. Das schöne Vorgefühl des Genießens beherrschte uns, aber auch das Gespenst der Besorgnis und des Zweifels bemächtigte sich unserer Herzen. Wenn die Porzellanschüssel unter der Siedehitze zerspringen würde? – Wenn Pittje die köstliche Flüssigkeit verschütten sollte? – Wenn der Punsch nicht ausreichte? – – – alles Fragen und Betrachtungen, die zum Beispiel dem bänglichen Gesichte Jan Höfkens den Stempel größter Trostlosigkeit und desolater Verfassung aufprägten. Da – jetzt war der brütende Bann von uns gewichen. Pittjewitt hatte seines Amtes gewaltet, die heiße Flüssigkeit dampfte in allen Gläsern, die stahlgrauen Augen von Grades Mesdag verklärten sich, und er war eben im Begriff, den horizontalen Strich mit der Hand über das 90 Ganze zu ziehen, als der Lateiner sich erhob, ein Kaffeelöffelchen ergriff und in feierlicher Weise dreimal damit gegen das Punschglas hämmerte.
Pittje Pittjewitt zog dabei ein Gesicht, als wenn er gezwungen würde, die Maultrommel auf Kirmes zu spielen. Der Bas räusperte sich, allein Heinrich ließ sich nicht stören, tinkte noch einmal gegen das Glas und reckte den langen Hals aus seiner Krawatte. In diesem Augenblick war es mir, als ließe sich draußen ein leises Hufgestampfe vernehmen. Dann schnaufte ein Rößlein mit scharfem Atem gegen die Planken der Haustür. Hannecke schien es auch bemerkt zu haben, denn sie zuckte unwillkürlich zusammen, während die übrigen sich nur mit dem Mienenspiel des Lateiners beschäftigten, der, die Knöchel beider Hände auf die Tischplatte gestützt, mit umflorter aber feierlicher Stimme also begann: »Geliebte im Herrn! Schon bei den allerältesten Griechen und später auch bei den Römern wurde der spezifische Trank ihrer Götter mit Nektar, ihr tägliches Brot mit Ambrosia bezeichnet. In den Homerischen Gedichten jedoch wird im allgemeinen zwischen diesen Genußmitteln nicht mehr streng unterschieden. Die berühmte Dichterin Sappho hingegen . . .«
»Herein!«
Das letzte Wort galt einem vernehmbaren Klopfen an der Tür. Der Bas hatte gerufen.
»Um nun von der genannten Dichterin Sappho auf die Punschbowle zu kommen . . .«
91 »Herein!« rief Grades Mesdag noch einmal. Der Redner war sprachlos auf seinen Binsenstuhl gefallen und starrte ins Leere, während die Tür aufging und Sankt Nikolas, mit allen Zeichen seiner Würde angetan, gemessen über die Schwelle trat.
Um die hagere, aber nicht unschöne Gestalt des heiligen Mannes legte sich die liturgische Gewandung in wohlgeordneten Falten. Kasel und Alba mochten mit Zustimmung der Geistlichkeit dem kirchlichen Inventar entnommen sein, während die aus vergoldeter Pappe hergestellte Bischofsmütze sicherlich der Kunstfertigkeit des Trägers ihre Entstehung verdankte. Ein langer Flachsbart wallte über die figurale Kasel bis in ihre Mitte, wodurch eine gewisse Unkenntlichkeit des Eingetretenen erzielt wurde, der durch das Verkleben der Augenbrauen mit Watteröllchen noch das Aussehen des Greisenhaften erhalten hatte. In seinen Blicken aber glühte ein verzehrendes Feuer, das über die Anwesenden huschte und in der Nähe des Kamins haften blieb.
Dort stand Hannecke Mesdag.
Ihre Lippen waren bleich geworden; sie zitterte und mit todestraurigen Augen begegnete sie den Blicken des heiligen Mannes.
In schlichter Weise setzte dieser den Zweck seines Kommens auseinander, ermahnte die Kleinen und hieß sie ein Gebetlein sprechen. Obgleich diese Worte mit verstellter Stimme wiedergegeben waren, so zupfte mich der Lateiner 92 dennoch heimlich am Ärmel und meinte: »Das ist Wilm Verhage; ich kenne die Stimme . . .«
Jan Höfkens, der mit einer gläubigen Einfalt bei der Sache war, hatte die Ohren gespitzt und sagte: »Das könnte er sein, aber das wäre er nich. Ich kennte doch auch den jungen Verhage.«
»Lieber Johannes,« erwiderte ihm der lateinische Heinrich, »Du bist doch nicht etwa des irrigen Glaubens, daß Sankt Nikolas in eigener Person noch unter den Menschen wandelt. Hier liegt eine berechtigte und fromme Täuschung vor und zwar lediglich zum Zweck, eine schöne Legende den Kindern ans Herz zu legen. Du verstehst mich doch, lieber Johannes?«
»Ach, wo!« versetzte Jan, »was ich meine, das täte ich meinen, denn man könnte immer nich wissen, wie die Geschichte zusammenhakt.«
»Dann glaube,« sagte der lateinische Heinrich.
Sankt Nikolas hatte inzwischen seine Ansprache vollendet. Die beiden Flachsköpfe knieten zu seinen Füßen. Jetzt breitete er wie segnend seine Hände über alle aus.
»Amen!« rief der Lateiner durch die feierliche Stille. Er hatte aus tiefster Seele gesprochen.
Gleichzeitig ließ der Heilige einen wahren Hagel von Lambertusnüssen durch die Küche rasseln. Spekulatiusmänner und Äpfel folgten in kunterbuntem Wechsel, so daß wir nicht Hände und Taschen genug hatten, die geworfenen Schätze zu bergen. Es war eitel Freude und Lustbarkeit unter dem Dache von Grades Mesdag. Nur 93 Hannecke rührte sich nicht von der Stelle. Die Arme hingen ihr schlaff herunter. Ein gramvolles Lächeln glitt über ihr Antlitz, und wie geistesabwesend stierte sie vor sich hin. Ich stand nicht weit von ihr und glaubte die Worte von ihrem Munde zu hören: »Wäre es denn so schwer für ihn gewesen? – aber er hat es ja nicht einmal versucht.«
Ich konnte mich getäuscht haben, aber so etwa klang es von ihren Lippen.
Sankt Nikolas hatte seine Mission beendet. Als er sich zum Gehen wandte, räusperte sich Pittje Pittjewitt, klopfte ans Glas, brachte seinen Siegelring in die rechte Beleuchtung und gab in heiteren Worten zu verstehen, daß er den huldvollen Gabenspender im Auftrage der Familie Mesdag zu frischgebackenen Preßwaffeln und einem Glase Punsch invitiere. Die Waffeln seien gut, und auch für einen himmlischen Magen wäre ein Glas Punsch keine schlechte Sache. Er, Pittje Pittjewitt, mahne dringend dazu, den löblichen und wohlgemeinten Vorschlag in Erwägung zu ziehen.
Mein Freund wollte über diese plumpe Vertraulichkeit vom Stengel fallen. Er hielt diese ganze Einladung für eine Profanierung der schönen Legende und stand schon im Begriff, eine weitschweifige und gelehrte Kontroverse in die Wege zu leiten, als Sankt Nikolas selbst in die Situation eingriff, aus gewichtigen Gründen dankend ablehnte und darum bat, statt seiner die Wohltat der Preßwaffeln und des Punsches dem jungen Verhage zu 94 gute kommen zu lassen. Auch sei er bereit, in eigener Person hiervon dem angehenden Heerohme Kenntnis zu geben – ein Vorschlag, der allseitigen Beifall fand. Selbst der Lateiner schien hiermit zufrieden.
Jan Höfkens strahlte. Triumphierend wandte er sich an seinen Meinungsgegner und drehte seine Frage so recht mit einem herausfordernden Tone aus der Nase: »Wer täte nu recht haben? Ich könnte an den wirklichen Sinter Klaas glauben – und das täte ich auch.«
»Glaube,« sagte der Lateiner mit einer überlegenen Miene, die von Mitleid triefte. »Wenn Einfalt weh täte, dann schriest Du den lieben langen Tag, guter Johannes. Tristissime!«
Jan Höfkens verstand die bissige Anspielung nicht. Ein blödes Lächeln stand auf seinen gutmütigen Zügen.
Der heilige Mann hatte sich verabschiedet. Noch einmal flimmerte die Pappdeckelmitra zwischen Tür und Angel, dann war Sinter Klaas unsichtbar geworden – und wie seltsam! – Mit ihm hatte auch Hannecke Mesdag still und ohne Aufhebens die Küche verlassen.
Punsch und Waffeln traten jetzt ausschließlich in ihre Rechte. Immer lauter und eindringlicher knatterten die Buchenkloben im Kamin, der siedende Wasserkessel fauchte über dem Feuer und verständigte sich mit den Heimchen, deren Gezirp wie mit näselnder Stimme das Geräusch des brodelnden Wassers begleitete. »Zirp, zirp, zirp!« klang es vertraulich und anheimelnd hinter dem Herde vor, während der Kessel immer lauter sang, und 95 die kleinen und großen Gäste hinter der Tafel es sich wohl sein ließen wie die Finken im Hanfsamen.
Pittje Pittjewitt hatte die Beine übereinander geschlagen, blies höchst nachdenklich blaue Kringel gegen die Decke und war gerade dabei, ein politisches Gespräch in die Wege zu leiten, als es von draußen laut und zu verschiedenen Malen gegen die Fensterscheiben klopfte. Zu meinem nicht geringen Erstaunen bemerkte ich meinen prächtigen Schwarzrock, die Dohle, die possierlich auf dem verschneiten Sims hin und her trippelte.
»Gottdomie!« machte Pittjewitt, »wie so 'ne Kreatur den Menschen erschrecken kann.«
»Aber pfiffig ist sie,« setzte der Bas hinzu, »und hat Grütze im Kopf.«
»Meine Erziehung,« konstatierte der Lateiner mit sichtlicher Genugtuung. »Ich war, leider Gottes, der Dumme, und habe den gelehrigen Vogel gegen den kläglichen Wert eines Kastemännchens verhandelt.«
»Und das war alles für einen solchen Vogel?« fragte Pittje Pittjewitt.
»Alles,« sagte der frühere Dohlenbesitzer. Eine weinerliche und etwas erkünstelte Ergebenheit lag in der Betonung dieses Wortes.
Das ärgerte mich.
»Heinrich, denke an die Leporellorolle,« warf ich dazwischen.
Der Lateiner schwieg.
96 »Was ist das mit der Leporellorolle?« fragte Pittje Pittjewitt, rückte mit dem Stuhl näher heran und schien die Antwort von den Lippen meines Freundes fortnehmen zu wollen.
Jetzt schossen die Rüben des Lateiners ins Kraut, jetzt war der Zeitpunkt gekommen, wo er loslegen konnte; seine Augen nahmen einen verklärten Glanz an, der darauf schließen ließ, daß er gewillt sei, einen langen Vortrag über den sittlichen und erzieherischen Wert von dramatischen Spielen zu halten.
Diese Gelegenheit benutzte ich, mich unbemerkt aus der Türe zu stehlen.
Draußen war eine dämmerige Schneehelle ausgebreitet. Kein lebendes Wesen ließ sich sehen; nur die Dohle kam geflattert, setzte sich auf meine Schulter und drückte ihr schwarzes Gefieder an meine linke Gesichtshälfte. Schon öfters hatte der Schwarzrock solche abendliche Streifereien auf eigene Faust unternommen, aber diese Treue und Anhänglichkeit, die er heute bekundet hatte, rührte mich derart, daß ich ihm den Kopf kraute und einen herzhaften Kuß auf seine Schnabelwurzel verabfolgte. So standen wir beide und sahen in den Abend hinaus. Es regte sich nichts in weiter Runde. Nur die Pappeln am Ravelin bewegten sich unmerklich im Winde und vermehrten durch ihr monotones Gesäusel die Schauer der Adventnacht. Der Mond huschte durch flatternd Gewölk und weckte zeitweilig eine kalte, blendende Helle – und da war es mir . . .
97 Aber wer sprach da?
Ich wandte mich.
Keiner hatte gesprochen. Ich mußte mich getäuscht haben – und dennoch hatte ich deutlich Stimmen vernommen.
»Ist jemand da?« fragte ich leise und schüchtern.
Keine Antwort. Also war es doch eine Täuschung gewesen.
»Der Punsch macht erfinderisch und weckt allerlei Dinge, die mit der Wirklichkeit in einem krassen Widerspruch stehen,« suchte ich mich zu trösten, denn die weiche und klagende Stimme, die ich zu hören vermeinte, war geradezu beunruhigend für meine Gemütsverfassung geworden.
Jetzt bemerkte ich erst einen scharfen Lichtbalken, der sich etliche Schritte vor mir über die bläuliche Schneefläche gelegt hatte. Wie mit der Schere abgeschnitten, teilte er den kleinen Garten in zwei gleiche Hälften, und erst jenseits desselben löste er sich in ein unbestimmtes Licht auf, das den niedrigen Giebel des Nachbarhauses mit einer kranken Farbe umspielte. Dieser vereinzelte Strahl zog mich wie mit einer magnetischen Kraft an. Er kam aus dem Schlafzimmer der Mesdagschen Eheleute, wo die schmalen Blenden des einen Fensters nur angelehnt waren. Beängstigend knirschte der Schnee unter meinen Füßen, als ich näher trat. Jetzt blieb ich stehen. Ich hörte mein Herz pochen und vernahm deutlich den schweren und langsamen Gang der plumpen Standuhr, 98 die gerade dem Fenster gegenüber tickte und tackte. Das Licht, das in dem kleinen Zimmer brannte, war hell genug, alle Gegenstände erkennen zu lassen.
»Gehe von hinnen,« sagte mir eine innere Stimme, als ich in den Bereich der nur angelehnten Fensterladen getreten war. Aber ich schlug diese Mahnung in den Wind. Ich fühlte, daß sich in meiner Nähe etwas begeben sollte, das geeignet sei, auf den ferneren Lebensgang des schönen Mädchens in höchst bedrohlicher Weise einzugreifen. Und so war es auch. Ich schien das Atmen zu vergessen, als ich den jungen Wilm Verhage bemerkte, der hochaufgerichtet in der Mitte des Zimmers stand. Bart und Augenbrauen waren abgelegt, und auch von der bischöflichen Gewandung hatte er sich befreit. Hannecke mochte ihm beim Auskleiden behilflich gewesen sein. Wohlgeordnet lagen die verschiedenen Gegenstände auf dem hochaufgeschichteten Federbett der Mesdagschen Eheleute. Der angehende Heerohme stand mit untergeschlagenen Armen dem verschüchterten Mädchen gegenüber. Hannecke war so weit wie möglich von ihm gerückt und schmiegte sich ängstlich in die äußerste Ecke des Zimmers. Mit beiden Händen hielt sie ihr Antlitz bedeckt. Wilm Verhage trat einige Schritte näher. Sein Angesicht war totenbleich, und die Leidenschaft hatte tiefe Spuren dort eingerissen. Ruhig und abgemessen tackte die hohe Wanduhr herüber.
Es war alles so deutlich in der kalten Winternacht. Wenn die da drinnen wieder sprechen sollten, so mußte 99 ich jedes Wort verstehen. Weiter zur Rechten hörte ich das helle Lachen von Pittje Pittjewitt und das Klingen von Punschgläsern. Der Lateiner mußte irgend welche ungeheuerliche Husarenbehauptung seiner dramaturgischen Rede verflochten haben, sonst wäre das ausgelassene Verhalten Pittje Pittjewitts nicht erklärlich gewesen. Jetzt mischte sich der Bas mit seiner sonoren Stimme ein, um scheinbar die aus dem Leim gegangene Auseinandersetzung wieder in ihre richtige Verfassung zu bringen. Es schien ihm auch gelungen zu sein, denn gleich darauf hörte ich, wie der Lateiner sein Thema wieder aufgenommen hatte und mit pastoraler Würde und Betonung weiterdozierte.
Über dem Antlitz von Wilm Verhage lag eine eherne Ruhe gebreitet. Es war eine Ruhe, die erschütterte und die ihm die Faust des Schicksals unerbittlich auf die Stirn gedrückt hatte. Als Knabe hatte er fröhlich in die schöne Gotteswelt hineingeschaut. Damals lag sie vor ihm in sonniger Frühlingspracht – und jetzt? Trübe Wolken jagten vorüber, und der Sturm schlug ihm ins Gesicht. Eine starre Gewalt hatte sich auf seinen Nacken gelegt – und ob er wollte oder nicht, er mußte sich beugen. Und er beugte sich – und da er sich beugte, fühlte er, daß ihm die Sonne des Lebens verloren war. Ihm blühte nicht mehr der Zauber der Weihnacht; die starre Ordnung im Seminar unterdrückte jede Regung, die menschlich in seiner Seele zu keimen begann. Sie wurde zertreten wie die Liebe zum Weibe – aber ob diese gestorben war . . .?!
100 Wilm Verhage reckte sich auf.
Hannecke hatte ihre Hände von dem Antlitz genommen. Langsam, fast mit geschlossenen Füßen, kam sie ihm entgegen. Er breitete die Arme, und da solches geschehen war, verharrte sie mechanisch auf derselben Stelle. Sie schien wie aus tiefen Gedanken aufgestört zu sein; dann brach sie in ein krampfhaftes Schluchzen aus.
Der Seminarist ergriff ihre Hände und drückte sie nieder.
»Du hast mir doch früher gesagt, daß Du mich liebtest – und jetzt scheinst Du einen Widerwillen gegen mich zu haben. Antworte!«
Er hatte mit abgerissenen Lauten gesprochen. Seine Stimme klang rauh und tönern.
»Antworte!« wiederholte Wilm Verhage noch einmal.
»Das war früher so,« entgegnete ihm Hannecke Mesdag.
»Und jetzt?«
Mit weiten Augen stierte Hannecke ins Licht. Ein gramvolles Lächeln spielte um ihren Mund. Dann schüttelte sie verneinend den Kopf.
»Jetzt nicht mehr.«
»Nicht?«
»Nein.«
Eine große Pause entstand. Das Gesicht von Hannecke Mesdag schimmerte totenfahl.
Wilm Verhage beugte sich vor. Der ganze Mensch bebte.
101 »Warum das?«
»Quäle mich nicht.«
»Warum das?«
Die Worte des jungen Heerohme hatten einen geradezu gebieterischen Ton angenommen.
»Weil Du keine Gewalt mehr über Dich hast . . .«
»Du . . .!« kam es langgedehnt und stöhnend aus der Kehle des jungen Verhage. Seine Blicke bohrten sich tief in die ihren. Seine Hände umklammerten ihre Gelenke wie mit eisernen Ringen.
»Laß mich,« stöhnte Hannecke Mesdag. »Du hast Deine Liebe und Dein zukünftiges Dasein der Kirche gegeben . . .«
Sie sah ihn traurig, mitleiderregend an, und an sein Ohr schlug es wie Todesröcheln.
Er taumelte zurück.
»Das weiß ich – und ich weiß auch, daß ich krank war, und daß ich es heute noch bin. Aber wir beide leben – Du und ich, und an Deinen Lippen will ich genesen. Seit gestern weiß ich, daß ich bei Dir nur gesunden kann.«
Er bewegte sich nicht. Er stand wie eine Bildsäule. Dann trat er einen Schritt vor, und mit verzehrender Inbrunst schlang er seine Arme um Hannecke Mesdag. Ein Dehnen und Biegen durchzuckte ihren jungen Leib. Sie suchte sich seiner stürmischen Kraft zu entwinden, sie schluchzte in herzzerreißenden Lauten, aber ihr Wille erlahmte unter der verzweifelten Liebe des Mannes, der die 102 Einsicht vergessen hatte. Wütend preßte er sie an sich, und sein Kuß flammte auf ihren Lippen – und die arme Seele klammerte sich an ihn, sie zitterte und wollte ihn nicht mehr von sich lassen.
Ihre Augen wurden größer und begannen zu leuchten – dann küßte sie ihn.
So küßt ein Kind und doch ein Wesen, das da opfern will auf dem Altar der Liebe und des Begehrens. Unruhig und in nervöser Hast fuhr seine weiße Hand über ihre gescheitelten Haare.
Dann wurde nur noch in heißen Flüsterlauten gesprochen. Aber diese Flüsterlaute verstärkten sich, bis Hannecke einen unterdrückten Schrei ausstieß und die Arme krampfhaft von sich streckte.
Ihre Überlegung war zurückgekehrt. Die kalte, rauhe Wirklichkeit rüttelte sie unbarmherzig aus ihrer schönen Traumwelt.
Mit toten Augen sah sie in das bleiche Gesicht von Wilm Verhage. In seiner ganzen Unheimlichkeit und doch wie ein höheres Wesen stand er vor ihr. Jetzt umklammerte sie seinen Arm.
»Was haben wir getan, Wilm?!«
Er griff sich mit beiden Händen an die Schläfen und preßte sie heftig. Das Bewußtsein seines Fehles schien ihn niederdrücken zu wollen.
»Das ist nun geschehen,« sagte Hannecke Mesdag, »aber nie mehr darf das geschehen. – Es muß aus sein zwischen uns. – Nie mehr, Wilm! – Nie mehr!«
103 Der Seminarist bewegte die Lippen.
»Ich bin Deiner nicht würdig,« stöhnte er. »Ich hatte mich vergessen. – Ja, es muß aus sein zwischen uns. – Du hast recht, Hannecke – ich muß in die Zwangsjacke zurück.«
»Der Herr vergebe uns unsere Schuld,« sagte Hannecke. »Nie mehr.«
»Nie mehr,« kam es aus seinem Munde zurück.
Mit der Rechten strich er über die Stirne, als wollte er das Erinnern aus seinem Gedächtnis tilgen. Er kämpfte lange mit sich. Hanneckes Worte hatten ihn aus seinem Fieberwahn gerissen. Er schien sich wiedergefunden zu haben.
Er nahm ihre Hand.
»Mein Gott, mein Gott!« schluchzte Hannecke Mesdag.
Wilm Verhage reckte sich auf, starr, fest und groß, als sei er gewillt, hierdurch zu bekunden, daß er mit dem Geschehenen abgeschlossen habe. Er hatte entsagen gelernt. Die Flamme war niedergebrannt, mit Gewalt zum Verlöschen gebracht, allein unter der Asche glutete noch ein unheimlicher Funke. – Wilm Verhage, zertritt ihn mit Deinem Schuh! – Er tat es nicht.
»Komm,« sagte er mit kräftiger Stimme.
Sie folgte ihm willenlos aus dem Gemach.
Das Licht verlosch. – Ich hörte die Türe schlagen. Jetzt hatten die beiden den Hausflur betreten. Ich folgte ihnen mit todwundem Herzen, um mich zu den übrigen zu gesellen. Als sie über die Schwelle zur Küche traten, 104 hatte der Lateiner gerade seine dramaturgische Auseinandersetzung beendet und schloß mit den Worten: »Und somit wurde ich denn auserlesen, vor einem später zu ladenden Publikum die nicht allein schwierige, sondern auch äußerst wichtige Rolle des Leporello neu zu beleben. Daß mir solches gelingen möge – das walte Gott.«
»Brav so!« sagte der Bas, dann klinkte er mit dem Lateiner an.
Blaue Wölkchen durchkreiselten den Küchenraum. Die Heimchen zirpten, und der Wasserkessel brummte und erzählte so heiter wie vorher.
»Hier ist Wilm Verhage!« rief Hannecke Mesdag über die Tafelrunde. Ich stand hinter ihnen, aber sie sahen mich nicht.
Die beiden wurden mit hellem Jubel empfangen. Ich stand zwischen Tür und Angel und stierte in das flimmernde Licht der Küchenlampe hinein, aber ich getraute mich nicht, zu den übrigen zu treten. Leise fiel die Tür zu. Ich war mit meinem Kummer und meinen trüben Gedanken allein.
»Wo ist Jupp?« hörte ich Pittje Pittjewitt fragen.
Keiner wollte mich gesehen haben.
Jetzt hörte ich das Scharren eines Stuhles. Scheinbar wollte Pittje Pittjewitt mich suchen. – Da faßte ich meine Dohle unter den Arm und floh mit ihr in die Nacht hinaus; in der Gesellschaft von Hannecke Mesdag und dem jungen Heerohme zu bleiben, wäre mir unerträglich gewesen.
105 Wie eine große Leuchte hing der Mond zwischen den Wolken. Die hohen Pappeln am Ravelin wiegten sich leise im Wind. Das trockene Schilf raschelte und raunte, und das erstarrte Wasser krachte im Frost. Das Bild des Mondes stand tief im Spiegel des Eises und zwar inmitten der Fläche, wo der Wind die Schneedecke fortgetrieben hatte. Zuweilen lief ein langanhaltendes Stöhnen unter dem Eis her. Es klang wie der halberstorbene Hilferuf eines Ertrinkenden. Es war mir so, als wenn der junge Verhage gerufen hätte. Ein schweres Bedenken stieg in mir auf, da ich den traurigen Tönen, die unter der gefrorenen Decke herliefen, mit regem Geiste nachhing und sie verfolgte.
War es ein Unrecht, daß ich zum Mitwisser des Geheimnisses geworden war, das zwischen den beiden unglücklichen Menschen obwaltete?
»Nein,« sagte mir eine innere Stimme. Sie beruhigte mich, und sie konnte und durfte es auch, denn ich fühlte, daß es ein großes und heiliges Mitleid war, das meine Seele bewegte.
Das dumpfe Klagen unter dem Eise verstummte. Ein nächtiger Vogel wankte weichen und schwankenden Fluges über die starre Fläche hin. In den verschneiten Pappelästen verschwand er. Es war wieder leblos und totenstill um mich.
Ruhig saß die Dohle auf meiner Schulter. Mich fröstelte.
106 Am Hause von Grades Mesdag wurde die Tür geräuschvoll geöffnet. Dann wurde laut und zu wiederholten Malen nach mir gerufen. Ich kannte den Rufer. Es war Pittje Pittjewitt.
Ich gab keine Antwort und eilte der Stadt zu.
Für mich war Sankt Nikolasabend gewesen.