Joseph von Lauff
Kärrekiek
Joseph von Lauff

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177 XII Wir stechen in See

Die Müdigkeit wollte nicht kommen. Stundenlang lag ich wach und hörte auf das Trommeln, Gurgeln und Plätschern des Regens, der in unverminderter Heftigkeit sein Wesen trieb. Dazu rappelten die Fensterläden; ein unheimliches Johlen und Seufzen lief durch die langen Gänge meines elterlichen Hauses, über dem Kamin sprach es in den Tapeten, und in dieses Konzert sausten die wehmütigen Stimmen der alten Linden hinein, deren Schatten vor dem Fenster meines Zimmers hin und her schwankten. Im Kamin orgelte und stöhnte der Wind in sonderbaren Lauten.

Der schwimmende Docht des Nachtlichtes warf unstete Kringel an die Decke. In seinem Schein sah ich, wie sich eine niedliche Maus an der weißen Gardine emporarbeitete. Mit Zwinkeraugen verfolgte ich die Kletterkunststücke des zierlichen Tieres.

»Tuhututuhut – tuhut!«

Zwölf Uhr.

In schauerlichen Dissonanzen rief das Wächterhorn durch die Nacht. Man merkte es diesem Getute an, daß 178 der ehrsame Bläser die Appeldorner Kirmes besucht hatte, denn gegen diese Greueltöne war der nachmittagliche Krach in der englischen Lederhose als eine musikalische Leistung erster Klasse anzusehen. Die Scheiben zitterten, als Heinrich Hübbers in dieser Art und Weise vorübernachtwächterte.

Zwölf Uhr.

Auf dem Sims, wo sich das Nachtlicht befand, paradierte auch ein gewaltiger Nürnberger Nußknacker mit Zipfelmütze, Pekesche und Glotzaugen. Infolge seines fortwährenden Anstierens wurde ich in einen Traumzustand und in eine Art von Hypnose versetzt, die bei mir jede freie Willensäußerung unterband. Ich glaubte mich in einem Halbschlummer zu befinden. Nur das Plätschern und Trommeln des Regens und das Sausen des Windes tönten zeitweilig in diese seltsame Traumwelt hinein.

Jetzt ließ sich ein leises Geräusch vernehmen. Die Tür, die auf den langen Korridor führte, begann deutlich zu knarren, sie bewegte sich in gemessener Ruhe, und vier sonderbare Wesen schwebten ins Zimmer. Ein Alp lag mir auf der Brust. Sie schwebten näher und näher. Jetzt konnte ich genau erkennen, mit was für Gestalten ich es zu tun hatte. Mir stiegen die Haare zu Berge, denn was ich sah, was mir einen Besuch abstattete, waren die Primizschuhe und Strümpfe von Wilm Verhage, die in feierlicher Weise Posto vor meinem Bett gefaßt hatten. In tadelloser Schwärze, mit leuchtenden Silberschnallen, aus purer Seide gestrickt und gewirkt standen Schuhe und 179 Strümpfe in der bloßen Luft. Aber was noch unheimlicher war – sie schnitten plötzlich die tollsten Grimassen, reckten sich und klimperten mit den Schnallen, bis das Maß des Wunderlichen und Tollen den Gipfel erstieg und diese nächtlichen Besucher noch gar mit einer lauten und klaren Stimme zu sprechen begannen.

Langsam riß der Nußknacker das Maul auf.

»Wir sind die Primizschuhe von Wilm Verhage,« sagten die Schuhe.

»Das weiß ich.«

»Und uns soll der junge Heerohme über die Beine ziehen, wenn er seine Primiz hält,« ergänzten die Strümpfe. »Wir wurden von Hannecke Mesdag gestrickt.«

»Das weiß ich.«

»Und uns hat Heinrich Hübbers mit Ahle und Pechdraht zusammengeschustert,« meinten die Schuhe, »und wenn Du Dich noch einmal unterstehst, uns bei Hannecke Mesdag in Mißkredit zu bringen, dann stoßen wir Dir eine Schusterahle durchs Herz und knüpfen Dich an einem Pechdraht auf. Verstehst Du uns?«

»Ich verstehe,« sagte ich kleinlaut. Meine Blicke irrten hilfesuchend zum Nußknacker hinüber, dessen mit Holzzähnen bewaffnetes Maul sich sperrangelweit aufgetan hatte. Mit seinen Stielaugen, die sich wie die Fühlhörner einer fetten Weinbergschnecke bewegten, glotzte er vernichtend auf die ungebetenen Gäste, klappte und grimassierte, daß ich wähnte, er würde sie über kurz oder lang mit Haut und Haaren verspeisen.

180 Allein die Primizstrümpfe kehrten sich nicht an den Nürnberger Gesellen. Sie wuchsen ins Ungemessene, quirlten und wandten sich und legten sich zuletzt quer über meine blau- und weißkarrierte Bettdecke. Von hier krochen sie wie sammetschwarze Puffottern über meinen Körper und versuchten in behaglichen Windungen sich um meinen Hals zu drehen. – Ich war starr vor Entsetzen. Unwillkürlich griff ich zur Linken. Ich erfaßte einen seidenen Gegenstand, der mir aber wieder aus der Hand schlüpfte. Gleichzeitig legte sich eine eisigkalte Feuchte um Brust und Schultern. Jetzt kamen auch noch die Schuhe gewackelt. Ich fuhr aus den Kissen empor.

»Nußknacker, hilf mir!«

Er mußte meinen Angstruf gehört haben, denn sein Hals streckte sich schachtelartig vor, und die beiden Glotzaugen nahmen die Form von Teetassen an – dann schnappte er zu. Die Primizschuhe waren verschwunden. Danach machte er sich ans Werk, die beiden Puffottern zu vertilgen. Die erste war bald der ultramarinblauen Holzpekesche einverleibt, während der andere Strumpf sich aber dergestalt wehrte und krümmte, daß der Nußknacker alle Mühe und Not hatte, ihn mit seinen weißen Zähnen festzuhalten. Es war ein Kampf auf Leben und Tod. Schon war es mir, als sollte das ultramontane Strumpfungeheuer als Sieger aus diesem Streite hervorgehen – da . . .

Ein dumpfer, heulender Ton ließ die Wände meines kleinen Zimmers in ihren Grundfesten erzittern. Ein zweiter folgte.

181 Mit einem Satz war ich aus den Federn gesprungen.

Der Sturm hatte sich gelegt, die Regentropfen klatschten und polterten nicht mehr gegen die Scheiben, ruhig und zufrieden stand der Nußknacker auf dem Sims hinter dem Nachtlicht, und sanft und bläulichen Scheines sah der Vollmond ins Zimmer – aber in kurzen Pausen stürmte die Rathausglocke über die Stadt hin.

Ich kannte den Ton.

Es war die Feuer- und Wasserglocke, die da hoch oben stürmte und läutete. Dazwischen tutete Heinrich Hübbers auf seinem Nachtwächterhorn, als wollte er die Messingwände seines mit Grünspan behafteten Instrumentes zersprengen.

Ich hatte das Fenster aufgerissen. Auf der Straße hasteten die Leute vorüber. Die ganze Stadt war in Aufregung gekommen. Brennende Fackeln wurden vorübergetragen, Hunde bellten in der Nachbarschaft, und deutlich hörte ich die laute Stimme von Pittje Pittjewitt. Fenster wurden geschlagen und Türen aufgerissen. In allen möglichen und unmöglichen Bekleidungsstücken waren die geängstigten und aus ihrer besten Ruhe aufgestöberten Menschen auf die Straße gedrungen. Das helle Mondlicht ließ Gestalten und Einzelheiten deutlich erkennen. Mit Blitzesschnelle war ich angezogen und – draußen.

Auf der gegenüberliegenden Türschwelle stand der Schneidermeister Schmitz – barfüßig und barbeinig. Er war nur mit Hemd und weißer Nachtmütze bekleidet. In der Hand hielt er eine brennende Kerze. Er zitterte wie 182 Espenlaub, während seine noch junge und nacktbusige Frau ihre Körperzierde mit einer gewissen Ostentation zur Schau trug. Auch Pittje Pittjewitt hatte in der Übereilung seine Hosen vergessen, denn er paradierte in rotgestreiften Unterbeinkleidern an der Frau Schneidermeister vorüber, scheinbar nicht gleichgültig und abgehärtet gegen den noch jugendlichen Busenflor der Frau, die in diesem Augenblick über und über von dem Kerzenlicht ihres jammerseligen Mannes beleuchtet wurde. Ebenfalls in der Übereilung hatte Pittje Pittjewitt an Stelle der Troddelmütze den Feiertagszylinder erwischt und diesen unter einer ganz bedenklichen Neigung auf den Kopf gestülpt. Dergestalt ausstaffiert schrie er Zeter und Mordio, wobei der freiwillige und gesunde Cölibatär aber immerhin noch soviel kalte Überlegung besaß, sich bis dicht an die Seite des verführerischen Weibes heranzuschreien. Der Herr Schneidermeister Schmitz hingegen war mehr tot als lebendig. Trübselig sahen die mageren Beinchen aus dem kurzen Flanellhemd hervor.

»Was ist los?« rief er in tausend Ängsten.

»Da hinten!« machte Pittje Pittjewitt.

»Wo denn?«

»Am Kesseltor, hinter der großen Schleuse . . .!«

»Was denn?«

»Der Wasserreiter!«

»Was soll der?«

»Menschenskind!« schrie Pittjewitt, »der Deich ist durchgebrochen. Die Wasser kommen!«

183 »Um Jesu Christi willen,« stammelte der Schneidermeister Schmitz in herzzerreißender Weise, dann taumelte er durch den Laden der Schlafkammer zu.

Auch die junge Frau kam ins Schwanken.

»Gottdomie!« sagte Pittje Pittjewitt und fing sie mit seinen Armen auf. Bei dieser Handfertigkeit streifte sich, ohne fremdherrliches Zutun, der primitive Spitzenbesatz des Hemdes noch weiter zurück. Wenn dies auch so diskret wie möglich geschehen war, so hatte das pfiffige Mondlicht noch Raum genug, sich lüstern über Brust und Schultern zu verbreiten. Der rosige Körper war strahlend umschienen.

»Das Wasser kommt! – das Wasser kommt!« schrieen die Leute.

Der Tumult wuchs. In großen Scharen strömten die Menschen zum Kesseltor. Die Glocke stürmte. Ihr Ruf wurde nur übertönt von der Kommandostimme des Herrn Polizeidieners Iwan Kasimir Brill, der einer von den wenigen war, die in dieser großen Kalamität den Kopf oben behielten und in anständiger Bekleidung einhergingen. Erhobenen Hauptes, mit Helm, Seitengewehr und blankgeputzten Augen schritt er durch die Menge und beruhigte die Leute.

»Ich bringe die Sache schon in Richtigkeit,« versicherte Herr Brill, dann ging er nach dem Kesseltore zu. Hinter ihm her brüllte die Glocke. – – –

Am anderen Morgen war das Binnenland eine einzige Wasserfläche. So weit das Auge reichte, dehnte sich 184 ein blanker Spiegel, aus dem nur vereinzelte Bauerngehöfte und Kappweiden mit ihrem zartgrünen Pfriemenhaar hervorragten. Wie kugelrunde Mistelsträucher lagen sie auf dem ruhigen Wasser. Hin und wieder hockte eine Saatkrähe in ihren Zweigen, krahate und blinzelte erstaunt über die endlose Fläche, die über Nacht wie durch einen Zauberspruch das weite Wiesengelände überschwemmt hatte. Das safrangelbe Blütenmeer der Sumpfdotterblumen war in diesem neugeschaffenen Meer spurlos verschwunden.

Um die Mittagszeit schien der Hochstand der Stauflut noch nicht erreicht zu sein. Unaufhörlich drängte sie vor. Die Unterstadt war bereits überschwemmt, und bis in die unmittelbare Nähe des Hauses von Pittje Pittjewitt bewegten sich die leicht gekräuselten Wellen. Der Nautilus konnte somit in See stechen.

»Auf zu Pittje Pittjewitt!«

Als ich dort ankam, stand der Lateiner bereits mit seinen nagelneuen Plüschpantoffeln bei dem Besitzer des Nautilus. Er hatte die Hosen aufgekrempelt, wodurch die malvenfarbigen, grobbaumwollenen Strümpfe bis zu den Kniekehlen sichtbar wurden. Ein väterlicher Kalabreser, den er nach Art eines Südwesters in den Nacken geklappt hatte, zierte sein Haupt. Als er so vor mir stand, wußte ich nicht, ob ich weinen oder lachen sollte. Ich entschloß mich zu letzterem, allein der Lateiner legte mir die Hand auf die Schulter und meinte: »Lache nicht – so tragen es die seebefahrenen Menschen.«

185 »Gottdomie!« sagte Pittje Pittjewitt, »hab' ich nicht recht gehabt?«

»Womit denn?« fragte der lateinische Heinrich.

»Na – mit dem Wasserreiter?«

»Nein,« bemerkte der Seebefahrene. »Die ganze Geschichte ist sozusagen eine Phantasmagorie, ein Nichts, ein Garnichts. Der Wasserreiter ist gewissermaßen nur ein Wesen sine loco et anno

»Oho!« ereiferte sich Pittje Pittjewitt. »Wer hat denn sonst etwa den fürchterlichen Damm- und Deichbruch verschuldet? – Wer denn?«

Der Lateiner zeigte gen Himmel.

»Deus,« sagte er mit einer salbungsvollen Betonung.

»Schafskopf,« meinte Pittje Pittjewitt. Es war aber nur ein kaum vernehmbares Geknurr, denn der Lateiner hatte das Wort nicht gehört; er war guter Dinge und drängte darauf, den Nautilus in See stechen zu lassen.

»Gut,« sagte Pittje Pittjewitt.

Alsbald balancierte der kalfaterte Schweinetrog als Jolle auf dem ruhigen Wasser, das sich inzwischen bis unmittelbar an die Haustür von Pittje Pittjewitt herangespült hatte. Wir stiegen ein und fanden, daß der Nautilus hinsichtlich seiner Stabilität nichts zu wünschen übrig ließ. Bevor wir aber vom Lande stießen, reckte sich mein Freund noch einmal in seiner ganzen Größe auf, stieß den väterlichen Südwester tiefer ins Genick und meinte: »Herr Pittje Pittjewitt, haben Sie vielleicht eine Navigationskarte zu Hause?«

186 »Nein,« sagte Pittje Pittjewitt.

»Auch keinen Kompaß?«

»Schafskopf,« wollte Pittjewitt sagen, er verschluckte das Wort aber und wackelte mit dem Zeigefinger der linken Hand, was so viel bedeutete wie: laßt mich zufrieden.

Der Lateiner zuckte die Schultern.

»Nemo ad impossibile obligatur,« meinte er mit schmerzlicher Wehmut. Dann ließ er sich nieder und stieß ein heulendes »Hoidoho!« aus.

Langsam setzte sich der Schweinetrog in Kurs, der nach Art der Eskimokajaks durch ein Schaufelruder bewegt wurde. Ich saß am Steuer, während der Lateiner die Doppelschaufel handhabte. Mit einer bewunderungswürdigen Naivität wackelte der Nautilus durch die überschwemmte Kesselstraße, deren Häuser bis über Manneshöhe tief im Wasser standen.

Trotz des großen Elends, das über die Stadt gekommen war, zeigten sich in den Fenstern der oberen Stockwerke dennoch etliche Gesichter, die sich bei unserer Vorüberfahrt zu einem langen Grinsen verzogen. Dann schallte ein vielzüngiges Gelächter hinter uns her.

Eine grenzenlose Verachtung spielte sich in den Zügen des lateinischen Heinrich wider.

»Non cuivis homini contigit adire Corinthum,« zitierte er. »Jupp, verstehst Du das?«

»So im Handumdrehen nicht.«

»Das will besagen,« fuhr der Lateiner fort . . . »Nur 187 wenigen Sterblichen ist es vergönnt, Korinth zu sehen und in dieser Jolle zu fahren.«

Ich mußte ihm recht geben. Es fuhr sich lieblich auf dem ruhigen Wasser, wobei der Nautilus sich allerdings nicht als ein Schnellsegler erster Klasse, aber doch als ein brauchbares und seetüchtiges Fahrzeug herausstellte.

»Hoidoho!«

Dieses Mal hatte ich gerufen, denn zu meiner nicht geringen Freude machte sich hoch zu unseren Köpfen ein schwarzer Punkt bemerkbar, der mit unglaublicher Schnelligkeit näher rückte. Jetzt war die Gestalt eines schwarzen Vogels deutlich erkennbar, jetzt flog er auf den Giebelfirst des Schreinermeisters Henseler, jetzt sauste er nieder – meine Dohle saß an Bord und war somit ein Passagier des Nautilus geworden.

Zu dritt fuhren wir weiter. Pittje, der zurückblieb, war längst unseren Blicken entschwunden.

»Wohin geht der Kurs?« fragte der Lateiner, als wir das Kesseltor erreicht hatten und das überschwemmte Außenland wie ein mächtiger See vor unseren Augen lag.

»Gen Nord-Nord-Ost, nach dem Dammbruch und der großen Schleuse.«

»Genehmigt,« sagte mein Partner, »und dann?«

»Nach Heinrich Hübbers.«

»Warum?«

»Die Primizschuhe von Wilm Verhage sind fertig, und Hübbers hat sie geschustert.«

188 Das Gesicht unter dem Südwester meines Freundes verklärte sich wie unter dem Eindruck von seligen Halluzinationen.

»Kehrt!« befahl der lateinische Heinrich, »wir treten zuerst die heilige Fahrt an.«

Ich aber bestand auf den ursprünglichen Vorschlag, und der Exaltierte mußte sich fügen.

Als wir den mächtigen Deichbruch und die Schäden der Hochflut in Augenschein genommen hatten, drehten wir bei und nahmen städtischen Kurs auf. Plötzlich schwand der Sonnenschein vom Wasser, und das überschwemmte Tief lag in einem matten bleifarbigen Licht da, während die grünen Weidenkronen des Bovenholtes noch in einem sonnigen Glanz erschienen. Die Oberfläche kringelte sich in verdächtiger Weise. Wir mußten uns eilen, denn ein schwefelfahlumsäumtes Wolkengebirge strebte empor, und die Schatten der Dämmerung ließen nicht lange mehr auf sich warten. Unter kräftigen Ruderschlägen steuerten wir stadtwärts und der Behausung von Heinrich Hübbers entgegen.

Der Lateiner befand sich in einer gehobenen, ich möchte fast behaupten in einer heiligen Stimmung. Der Gedanke, daß ihm, vielleicht schon in einer halben Stunde, der Anblick der Primizschuhe mit den Silberschnallen zuteil werden sollte, genügte, in seiner Seele eine fromme und beschauliche Weihe aufkeimen zu lassen. Die Blicke gen Himmel gewandt, die grünen Plüschpantoffeln gegen die Rippen des Schweinetroges gestemmt, irgend einen 189 Psalm auf den Lippen – also handhabte mein Freund das Doppelruder und schaufelte mit Aufbietung aller seiner Kräfte. Ich saß am Steuer und hütete mich, den Frieden und die gehobene Stimmung des Ruderführers zu stören. Ich wußte es wohl, daß die Primizschuhe vor seinen Blicken schwebten und ein seraphisches Empfinden seine große und reine, aber auch fanatische Seele durchzitterte.

Der Wind blies leewärts. Nur mit geringen Schwankungen verbunden, teilte der Nautilus mit seiner Schmalseite die in schräger Richtung anklatschenden Wellen. Schneller wie man es von dem aptierten Schweinetrog erwarten sollte, wackelte er den Hübbersschen Penaten zu.

Auf der Grabenstraße, schräg dem Altmännerhaus gegenüber, lag die Behausung des nachtwächterlichen Schusters, die infolge des Hochwassers aber nur in ihrer vorderen Bodenkammer bewohnt werden konnte. Keller und Untergeschoß waren vollständig überflutet, und nur mit knapper Not hatte Hübbers seine geringen Habseligkeiten unter die Dachpfannen gerettet. Ein Verkehr mit den Insassen des Hauses war daher lediglich durch Kahn, Dachfenster und Leiter möglich geworden. Wie Noah in der Arche, so saß auch Heinrich Hübbers in seinem baufälligen Ziegelkasten, über sich den dunklen Abendhimmel und zu Füßen das lehmige Wasser, das mit einer behaglichen Unverschämtheit die geheiligte Schusterstube durchschwemmte.

190 Majestätisch steuerte der Nautilus die Grabenstraße entlang. Das fragliche Haus kam in Sicht. Lautlos bugsierte ich die Jolle nach dem niedrigen Giebelfenster zu. Jetzt drehte ich bei.

In Erwartung der Dinge hatte sich der Lateiner aufgerichtet. Die Rechte hielt das Ruder umspannt. Schon wollte er die linke Hand an den Mund bringen, um ein kräftiges ›Hoidoho!‹ als Anmelde- und Begrüßungsformel hinauszuschreien, als sich das Fenster öffnete und etwas Blankes, Weißes – kurz, ein undefinierbarer Gegenstand vorgeschoben wurde.

Das ›Hoidoho!‹ blieb dem lateinischen Heinrich in der Kehle stecken. Er war stumm wie ein Fisch.

Geraume Zeit herrschte ein furchtbares Schweigen.

Ich kann mir vorstellen, daß die Gesichter der Inquisitionsrichter kalt, ehern und steinern gewesen sein mußten, wenn sie in Kraft ihres Amtes die Ketzer und Hexen gen Himmel flammen ließen, zum Heil der Menschen und zur höheren Ehre Gottes – allein das Gesicht des Lateiners war in diesem Augenblick kälter, eherner, steinerner wie die heiligen Physiognomien dieser Männer. Es war ein Gesicht, wie es nur der Beelzebub aller Ketzermeister aufzusetzen vermochte.

Dasselbe Schweigen wie vorhin. Nur kleine Wellen plätscherten mit leisem Geräusch gegen die Planken des beigedrehten Nautilus.

Der Lateiner stand wie eine Granitsäule. Keine Wimper zuckte.

191 Da – jetzt wurde die Schusterscheibe in ihrer ganzen Blöße vorgerückt . . . dann tutete sie über die weite Wasserfläche wie eine Jerichotrompete – und »Bratsch!« – der Lateiner hatte zugeschlagen.

»Quos ego!«

Mit einer Vehemenz, die nichts zu wünschen übrig ließ, saß das Ruder auf der Breitseite des musikalischen Schusters. Ein wilder Aufschrei folgte dem Schlage. – Der Schweinesarg war weitergewackelt.

Gleich darauf erschien der mit einer Otterfellmütze gezierte Kopf des Mißhandelten in der Bodenluke. Ein Fluch, so recht tief aus ergrimmter Seele hervorgeholt, saftig, kompakt und funkelnagelneu, folgte unserm Kurs. Fast gleichzeitig wurde ein schwarzer Gegenstand dem Nautilus nachgeschleudert – dann klatschte er auf. Einen Augenblick hielt er sich noch über Wasser, kreiste etliche Male um seine eigene Achse – dann sank er unter.

Der Primizschuh von Wilm Verhage war zur Tiefe gefahren.

»Ah!« stöhnte der lateinische Heinrich, »das zweite Verbrechen.«

Ich suchte ihm zu beweisen, daß Heinrich Hübbers nur aus purer Naturnotwendigkeit so gehandelt habe und handeln mußte, und machte den Vorschlag, dem Tiefgekränkten meine Dohle mit einem Weidengertlein im Schnabel als Friedenstaube zu schicken. Allein er ließ sich auf nichts ein.

192 »Was zu viel ist,« meinte er, »ist zu viel. Wir fahren nach Hause. Vorwärts!«

»Na – denn nicht.«

Der Nautilus drängte zum Stall, und die ersten Regentropfen klatschten zu Wasser.


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