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An dem kleinen Hause von Grades Mesdag waren die Fenster geblendet. Nur durch die herzförmigen Öffnungen der grünangestrichenen Läden fiel das trübe Licht des vergrämelten Tages in die niedrigen Stuben. Aus dem weißgekalkten Schornstein, der rittlings auf dem roten Ziegeldache stand, erhoben sich keine Rauchwölkchen. Das Feuer auf dem Herde war ausgelöscht worden. Kein Raspeln und Bohren ließ sich mehr in der Werkstatt vernehmen. Im Hofe war es lautlos und still. Nur zuweilen kamen Leute, die ganz leise an die Türklinke des ruhigen Hauses drückten. Bevor sie aber eintraten, zogen sie ihre Holzschuhe von den Füßen, stellten sie dicht nebeneinander und gingen auf Ledersocken ins Zimmer. Sie hatten dringende Besorgungen dort auszuführen, aber diese Besorgungen waren höchst trauriger Natur. Zuerst kam der Schreinermeister Henseler, der das Maß für die letzte Wohnung von Grades Mesdag festzulegen hatte. Dann kam der Küster, um wegen der Wachskerzen, der Beerdigungskosten und der Seelenmesse Rücksprache zu nehmen, und als dieser gegangen war, erschien die lange Kanders 312 in ihrem Kleid von schwarzer Merinowolle und dem dunkelfarbigen Umschlagetuch, das sie selbst an heißen Sommertagen nicht abzulegen pflegte. Die vergilbte und hagere Person war ihres Zeichens Wäscherin und Lichjungfer. Mit ihrem spitzen Ellenbogen drückte sie die Türklinke auf, weil sie die Hände nicht frei hatte. In der Rechten hielt sie ihr Nähkästchen, in dem sich Zwirn, Schere, Bienenwachs und Nadeln befanden, während sie mit ihrer linken Hand ein Leinwandpäckchen krampfhaft gegen die fast ebene Fläche ihres jungfräulichen Busens drückte. Lisbeth Kanders war eine umheimliche Persönlichkeit. Wenn sie mit ihrem Gänsehals, dem hohläugigen Kopfe und ihrem Leinwandpäckchen über irgend eine Schwelle trat, dann wußte jedermann, was die Uhr geschlagen hatte. Ja – dann wußte auch das kleinste Kind in der Stadt, daß am Tage darauf das Sterbeglöcklein bimmeln würde, und daß es dann an der geschaufelten Grube hieße: Du bist von Staub und zum Staube mußt Du zurückkehren.
Am niedrigen Hause sprang die Türklinke auf. Bevor sich Lisbeth Kanders jedoch über die ausgetretenen Fliesen bewegte, drehte sie den hohläugigen Kopf derart auf dem Gänsehals herum, daß ihr das kleine Gesicht fast im Nacken stand. In solcher Lage schielte der Kopf über die langen Falten des Merinokleides den Rücken hinab, um zu konstatieren, ob der Rock geschleppt und sich dort Staub verfangen habe. Es war aber alles in Richtigkeit. Langsam bewegte sich hierauf der Gänsehals wieder in seine frühere 313 und normale Stellung. Jetzt erst trat Lisbeth Kanders in die Mesdagsche Wohnung. Geräuschlos schnappte die Tür ein. Gleichzeitig schlug es vier Uhr vom Rathaus. – Mit dem Schlage vier legte auch Pittje Pittjewitt sein Rasierzeug beiseite, mit dem er hemdärmelig vor dem mit Pfauenfedern geschmückten Spiegel gestanden und sich dort barbiert hatte. Heute summelte eine unverschämte Sommerfliege um das glattrasierte Gesicht, die Pittje dadurch zu scheuchen suchte, daß er seine Mützentroddel in steter Bewegung hielt, indem er bald den Kopf zur Linken, bald zur Rechten schnellte. Es half nur wenig, denn die Fliegen waren an diesem gewitterschwülen Tage unverschämter und stechlustiger als je zuvor, so daß Pittje Pittjewitt schließlich in die dringende Notwendigkeit versetzt wurde, mit Gewaltmaßregeln vorzugehen und diesem unleidlichen Zustand ein jähes Ende zu bereiten. Dem schnellgefaßten Gedanken folgte auch sofort die Ausführung. Mit der geschnellten Handfläche klatschte er die Fliege auf die bleigraue Wange und schnippte alsdann die gerichtete Delinquentin mit Daumen und Mittelfinger in die mit weißem Sande bestreute Stube hinein. Jetzt hatte er Ruhe.
Über die Züge Pittje Pittjewitts lief eine tiefe Wehmut, die durch die bläuliche Farbe seiner Wangen noch um vieles verstärkt wurde. Die traurigen Erlebnisse der letzten Tage, die trüben Heimsuchungen, die über die Familien Mesdag und Verhage gekommen waren, hatten sein ruhiges Gemüt aus dem alltäglichen Geleise gebracht 314 und zwar in so hohem Maße, daß er sogar vergessen hatte, am heutigen Vormittag seine geliebte Tonpfeife in Brand zu setzen; auch das Mittagessen war unberührt in die Küche gebracht worden. Jeder Bissen wäre ihm unter den obwaltenden Umständen im Halse stecken geblieben. Pittje konnte nicht essen und wollte nicht essen. Allein der Gedanke, daß er auch Pflichten gegen sich und seine Mitmenschen habe, ließ allmählich die Sachlage der Dinge unter einem anderen Gesichtswinkel erscheinen. Er hatte heute und morgen eines schweren Amtes zu walten, denn mit dem heutigen Tage wurden seine Eigenschaften als Barbier und Schweinestecher abgestreift, damit er sich so recht aus tiefster Seele seiner Würde als Leichenbitter hingeben konnte.
»An die Arbeit,« sagte Pittje Pittjewitt, nahm, wie er es vor jeder wichtigen Amtshandlung zu tun pflegte, ein Gläschen mit gebranntem Wasser zu sich und band alsdann ein sauber geplättetes Chemisettchen, an dem sich hohe Vatermörder befanden, über sein Flanellhemd. Mit peinlicher Sorgfalt fügte er dieser Ausstattung ein schwarzseidenes Halstuch hinzu, begab sich hierauf an den Glasschrank, dem er seinen Zylinder entnahm, stülpte ihn über die linke Hand und glättete ihn kunstgerecht mit dem straffgezogenen Hemdärmel seines rechten Unterarmes. Wenigstens eine Viertelstunde hatte der Hut diese Bügeloperation auszuhalten, aus der er spiegelblank hervorging. Dann wurde er in dieser Verfassung auf den Tisch gestellt, wo er den düsteren Schmuck des Trauerflors erhalten 315 sollte. Alsbald war auch das vollbracht. Pittje trat einige Schritte zurück, führte die hohle Hand, gleichsam wie ein Perspektiv, vors rechte Auge, legte den Kopf zur Seite und war zufrieden mit dem, was er gemacht hatte, denn in tadelloser Schwärze, sauber gestriegelt, präsentierte sich der zum Trauerhut umfrisierte Sonntagszylinder seinen kritischen Blicken.
»Gut so,« sagte Pittje Pittjewitt, schlüpfte in den bereitgelegten schwarzen Staatsrock, vertauschte die Troddelmütze mit dem Trauerzylinder, versuchte mit Zuhilfenahme des Spiegels das richtige Leichenbittergesicht herauszuarbeiten und verließ dann mit gravitätischen Schritten seine Behausung, um im Namen der Hinterbliebenen die Honoratioren und die übrigen Leute der Stadt für die morgige Beerdigungsfeier von Grades Mesdag einzuladen.
Die kleine Stadt lag wie ausgestorben unter dem trüben Himmel, als Pittjewitt seinen Rundgang durch die verschiedenen Straßen machte. Ruhig wuchs das Gras zwischen den weißen Kieselsteinen des Pflasters, in herkömmlicher Weise blitzten die messingenen Schellengriffe neben den grün- und weißlackierten Haustüren, die grauen Treppensteine waren so blank gescheuert wie an den übrigen Tagen der Woche, und die Musselinvorhänge hingen so weiß und tadellos hinter den verschwiegenen Fenstern, als wären sie erst gestern aus der Wäsche gekommen. Nur äußerst selten schlenderten vereinzelte Fußgänger an den schmucken Häuserreihen vorüber. Im Hause des Doktors Horré schlug ein Kanarienvogel. Er saß in 316 seinem hellgelben Messingkäfig hinter Geranien- und Fuchsientöpfen, und sein Schlag machte den Eindruck des Träumerischen und Verschlafenen, so daß hierdurch die Stille, die melancholisch über dem mit kurzem Gras austapezierten Pflaster webte und schwebte, noch größer und eindringlicher wurde. Das einzig wirklich Lebendige in dieser Stadtöde und Stadteinsamkeit war Pittje Pittjewitt. Sein Schritt war fest, seine äußere Haltung, seine Blicke und Gebärden trugen das Gepräge des Pompefunèbreartigen, und wie zwei Trauerwimpel flottierten die langen Enden seiner Pleureuse im Wind.
Als mir Pittje Pittjewitt in der Nähe der Dores Küppersschen Wirtschaft begegnete, als ich ihn in seiner ganzen Leichenbitterherrlichkeit vor Augen hatte und sein bekümmertes, ich möchte sagen fast unheimliches Mienenspiel bemerkte, fielen mir unwillkürlich die Verse ein, die der lateinische Heinrich heute morgen während der Klassenzeit rezitieren mußte. Er hatte es, im Hinblick auf den traurigen Fall in der Mesdagschen Familie, mit umflorter Stimme und mit einer ganz besonderen Weihe getan.
»Durch die Straßen der Städte,
Vom Jammer gefolget,
Schreitet das Unglück. –
Lauernd umschleicht es
Die Häuser der Menschen,
Heute an dieser
Pforte pocht es,
Morgen an jener,
Aber noch keinen hat es verschont . . .«
317 »Guten Tag, Pittje.«
Pittje Pittjewitt hob zum Zeichen des Gegengrußes nur die rechte Hand auf. Ich verstand ihn. Seine Gedanken waren bei Grades Mesdag.
»Der arme Bas,« wagte ich schüchtern einzuwerfen.
»Ihm ist wohl,« entgegnete Pittje. »Es ist vielleicht gut so, daß der liebe Herrgott ihn zu sich berufen hat. Die Assisen sind ihm auf diese Weise erspart geblieben.«
Ich merkte, wie die Stimme des guten Mannes vibrierte.
»Und Wilm Verhage?« fragte ich weiter.
»Bei den barmherzigen Schwestern im Kloster. Der wird kein Heerohme mehr.«
»Wie steht's denn mit ihm?«
Ohne mir direkt eine Antwort zu geben, zeigte Pittje Pittjewitt auf die historische Linde, auf deren Steinbank etliche Hökerweiber Gemüse und Frühbirnen feil hielten.
»Was ist das für ein Baum?«
»'ne Linde.«
»Wenn diese Äppel und Birnen trägt,« weissagte Pittje, »dann wäre noch Hoffnung für Wilm Verhage – aber der wird nicht mehr. So'n Holzschuh kloppt Lampe und Docht entzwei. Es steht schlimm mit dem jungen Verhage. Ich glaube, der alte Jakob kann bald seine Beresinatrompete vom Nagel langen, um ihm die große Retraite zu blasen.«
»Und Hannecke?«
318 Nur mit großer Mühe konnte ich die Frage herausbringen. Eine ganze Leidensgeschichte rollte sich vor meiner Seele auf. Pittje Pittjewitt antwortete nicht. Er schien die Mücken zu zählen, die vor seiner Nase hin und wieder tanzten – und als ich ihm in die Augen schaute, stand ein helles Wasser darin. Das war auch eine Antwort. Mit dem Rücken des gekrümmten Zeigefingers wischte er die verräterischen Tränen fort. Dann ging er. Bei der nächsten Straßenecke verschwand die Pleureuse. –
An dem kleinen Hause von Grades Mesdag waren die Fenster geblendet, und sie blieben es auch für den ganzen Tag. Nur das Giebelstübchen, das auf den Hof und den Garten hinabsah, hatte die grünen Läden nicht vorgelegt. Hier saß Lisbeth Kanders am Tisch, auf dem ihr Nähzeug stand, und stichelte mit Nadel und Zwirn in das steife Leinen hinein, das knitterig auf ihrem Schoß lag.
Es ging auf sieben Uhr.
Der vergrämelte Tag hatte inzwischen ein drohendes Aussehen angenommen. Dunkle Wolkenballen schoben sich vom tiefen Horizonte vor. In sonderbaren Formen und Gestalten, mit unförmlichen Nebelleibern und Nebelköpfen liefen sie unter dem blaugrauen Himmel hin und schnitten Gesichter. Ab und zu zwinkerte der Blitz in der Wolke. Ferne Donner überrollten die Erde. Lisbeth Kanders hatte dessen nicht acht – sie nähte.
Das Wetter war näher gekommen. Schwefelgelbe Bänder und Streifen überflogen die Landschaft, die alten 319 Pappeln und Weiden am Ravelin stöhnten unter dem wütigen Sturm, der sie ihrer Zweige und Blätter entkleidete und diese in alle Winde verstreute. Die ersten Regentropfen fielen klatschend zu Boden, die Blitze folgten sich hageldicht, und die Donner knatterten wie Kleingeschützfeuer. Es war stockfinster geworden. Lisbeth Kanders ließ es donnern und blitzen. Was kümmerte sie das Wetter da draußen. Sie hatte die Lampe angezündet, saß mit eingezogenem Gänsehals und dem hohläugigen Kopf über ihr Weißzeug gebückt, murmelte unverständliche Worte – und nähte.
Die Wetterwolken verflogen. Sie hatten Sturmschritt über Land genommen. Am westlichen Abendhimmel tauchte es auf in Resedafarben. Der tiefe Horizont sah aus wie ein mattgrünes Wasserblatt. Jetzt verschwand das Resedagrün. Ein scharlachroter Schleier wehte über die kleine Stadt hin und wurde vom Wind gegen den Abendhimmel geblasen. Ein großer schwarzer Vogel tauchte mit ausgebreiteten Schwingen in die Scharlachröte hinein. Die Bäume tropften, und der Segen des Herrn berührte wunderbar und wonnesam die Herzen der Menschen. Lisbeth Kanders hatte kein Auge für den erquickenden Wandel in der Natur. Sie war aufgestanden, hatte das genähte Weißzeug über ein Plättbrett gestreift und fuhr mit einem heißen Bügeleisen darüber. Hierauf kniff sie den spitzen Mund zusammen, ergriff das Werk ihrer Schere und Nadel bei den Ärmeln, spreitete es aus und musterte es geraume Zeit mit kritischen Blicken. 320 Dann legte sie es in ordnungsmäßige Falten und tat es beiseite. Das Totenhemd für Grades Mesdag war fertig.
Alsbald knarrte Lisbeth Kanders die schmalen Stiegen hinunter, hielt die Uhr an und blendete den Spiegel im Sterbezimmer.
»Das gehört sich so,« sagte die Lichjungfer, »der Tote kann keine Uhr ticken hören, und vor einem blanken Spiegel grauelt er sich.« –
Gegen acht Uhr kam Schreinermeister Henseler mit einem seiner Gesellen. Sie trugen eine schwarze, einfache Totenlade und einen Sack mit Hobelspänen ins Haus. Der frischaufgetragene Lack klebte noch. Es duftete nach Tannenholz und Firnis. Zwei Stunden später verließen Meister und Gesell in Begleitung von Lisbeth Kanders wieder die Mesdagsche Wohnung. Leise klinkte die Haustür hinter ihnen zu.
Als sie draußen waren, streckte die Lichjungfer ihren Hals aus der schmalen Borte des Merinokleides, zeigte mit dem langen Daumen über die Schulter und sagte: »Der liegt nu fein da. Ich habe ihm die weiße Schlafmütze über die Ohren gezogen – whipp! – und ihn mit Palm bestreut – whipp! – und ihm die Nachfolge Christi von Thomas a Kempis in die Hände gegeben – und das ist fein so – whipp! – na, und so weiter . . .«
Lisbeth hatte den Schlickser bekommen.
321 Langsam entfernten sich die drei nach der Stadt zu, aber noch geraume Zeit hörte man die unfreiwilligen Töne der Jungfer Lisbeth durch die Abendstille hindurch.
»Whipp!« – dann verklangen die Schlickser.
Über dem Hause von Grades Mesdag stand friedlich der Abendstern.