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Die Flamme war niedergebrannt, mit Gewalt zum Verlöschen gebracht, allein unter der Asche glutete noch ein unheimlicher Funke. Wilm Verhage – Du bist bestimmt, übers Jahr die Würde des Priesters zu tragen! – Das Verhängnis hat Dich hierzu ausersehen. – Du bist ein Gezeichneter! – Wilm Verhage zertritt diesen glutenden Funken mit Deinem Schuh! – Es ist besser so, besser für Dich und Hannecke Mesdag.
Aber Wilm Verhage fachte den Funken – er zertrat ihn nicht. – – –
Schon während der verflossenen Ostervakanz war es ihm wie Schuppen von den Augen gefallen. Schon damals bedrängte ein unbestimmtes Sehnen und Fühlen sein Herz. Unwiderstehlich zog es ihn in den Bannkreis von Hannecke Mesdag, während der Flieder schwellte und der Obstbaum sich anschickte, seine saftigen Knospen zu brechen. Alles lockte und liebte um ihn. Die ganze Natur bereitete sich geheimnisvoll auf den süßen Rausch des Genießens vor; auch die kleinsten Halme streckten sich sehnend aus, und die Lerche stieg jubelnd in den Himmel hinein. Und 108 er? – Mit dem ganzen Ungestüm seines verlangenden Geistes suchte er das heiße, pulsende Leben in sich aufzunehmen, und dennoch fehlte ihm auch damals der Mut, die letzten Konsequenzen zu ziehen. Fröstelnd war er ins Seminar zurückgekehrt. Mit unersättlicher Gier versenkte er sich in die Tiefen der Mystik und suchte Trost und Heil in den Schriften des heiligen Franz von Assisi. Dann waren die jetzigen Vakanzen gekommen, und wieder war ihm der Versucher erschienen, der ihm gebot, die hemmenden Fesseln abzustreifen und in das goldene Sonnenlicht einer hoffnungsfreudigen Zukunft unterzutauchen. Mit dem ganzen Aufgebot seiner Willenskraft hatte er den Versucher niedergeschlagen. Er glaubte ihn niedergeschlagen zu haben, und eine siegesfrohe Zerknirschung war über ihn gekommen. Und dennoch, die Kraft seines Wesens war gebrochen, der Keil der Zwiespältigkeit hatte sich dazwischen getrieben, und, er mochte es sich selber eingestehen oder nicht, unter der zusammengefallenen Asche der Leidenschaft lauerte noch immer der verräterische Funke, gewillt und bereit, bei nächster Gelegenheit sich in eine verzehrende Flamme zu wandeln. Warum aber warf Wilm Verhage die verhaßte Galeerenkugel nicht von sich, die quälende Kette, die unsichtbar, dafür aber um so schmerzlicher und schneidender seine Fußgelenke umspannte; warum sprang er nicht hinein in das lachende Leben, in die Arme des lieben Mädchens, die sich ihm sicher geöffnet hätten, wäre er Mannes genug gewesen, den stürmischen Folgen herzhaft ins Auge zu sehen?! – Vorderhand trug er erst die Tonsur und die 109 Soutane der Seminaristen – sie verpflichteten zu nichts. Noch hatte er nicht die höheren Weihen empfangen, noch war er nicht der Gewalt der Kirche verfallen, noch hätte er sagen können: »Hier bin ich, gebt mir meine Freiheit wieder, ich kann nicht anders – Gott helfe mir, Amen!« – und doch, wie er auch knirschen und sich im Geiste aufbäumen mochte, die Macht der obwaltenden Umstände war derart, daß sie ihm die Kehle verschnürte, die Willenskraft lähmte und ihn zwang, den Leidenskelch des ihm aufgezwungenen Berufes bis zur bitteren Hefe zu kosten. Wie sollte es auch anders sein?! Es war eben sein Los und seine Bestimmung. – Wilm Verhage war in engen und drückenden Verhältnissen aufgewachsen, und er mußte schon froh sein, daß frömmelnde Menschen ihm ein Stückchen Krafterde hinschoben, damit die Wurzelfäserchen seines Geistes sich irgendwo anzuklammern vermochten. Er ergriff dieses Stückchen Erde mit Gier, und er wurzelte darauf, ohne sich zu fragen und klar zu machen, welches brutale Äquivalent sich mit dieser Vergünstigung, mit dieser Guttat mildherziger, aber beschränkter Seelen verknüpfte. Er durchlief das Gymnasial-Alumnat einer benachbarten Provinzialstadt unter den herkömmlichen Formen und Gewohnheiten. Die Wände wurden ihm zu eng. Die Lebenssonne, das allbefreiende Licht der Erkenntnis, fehlte ihm in diesem Institut, das speziell nur solche Zöglinge aufnahm, die sich bereit erklärt hatten, nach bestandenem Maturitätsexamen ihre fernere Bildung aus dem Dogma der Kirchenlehrer zu schöpfen.
110 Wie oft hatte er sich hier zwischen den kahlen Wänden und auf den harten Bänken demütigen müssen, wie oft mußte er sich verleugnen und zu Kreuze kriechen, um die spärlichen Brosamen nicht zu verlieren, die man ihm gläubigen Herzens bewilligt hatte, allein, er biß die Zähne zusammen und beugte den Nacken. So gingen Jahre um Jahre – und Wilm Verhage hatte das Seminar in Münster bezogen. Sein Vater schwelgte in heiligen Zukunftsplänen, und die Reitertrompete schickte an diesem Tage einen feierlichen Choral über die roten Ziegeldächer der Stadt hin. Trotz seiner bitteren Armut war Jakob Verhage durch dieses Ereignis der reichste Mann der ganzen Gegend geworden. In damaliger Zeit besaß der junge Seminarist noch kein tieferes Interesse für Hannecke Mesdag. Das änderte sich im Laufe der Jahre, allein der zum Cölibat Verurteilte war seiner eigenen Machtsphäre entwachsen. Stück um Stück von Kraft und Willen bröckelten ab unter der konsequenten Strenge der geistlichen Oberen. Zwar packte ihn zuweilen ein wahrer Heißhunger nach bunten und süßen Lebensreizen, allein diese Stimmungen und Neigungen verflüchtigten sich wieder unter dem Druck der Verhältnisse. Wilm Verhage kämpfte einen ständigen Kampf, aber ihm fehlten zurzeit noch die kräftigen Ellenbogen, sich Platz für seine innere Neigung zu schaffen und sich dem heißersehnten Leben wiederzugeben. Außerdem war er seinen Wohltätern verpflichtet, und ferner, wäre er in diesem Punkte wortbrüchig geworden, er hätte die Bretter zum Sarge seines Vaters geschnitten 111 – das wußte er, und so schwankte denn seine unglückliche Natur zwischen Willensstärke und Schwäche, die sich nicht dazu aufraffen konnte, einen bestimmten Entschluß zu fassen. Er unterdrückte die Flamme, um sie alsbald wieder anzufachen, er löschte die Glut, ohne den letzten Funken zu tilgen. Wilm Verhage, zertritt ihn mit Deinem Schuh! – aber er tat es nicht. –
Der Sankt Nikolasabend war längst vorübergegangen. In stiller Zurückgezogenheit verlebte der junge Heerohme die Weihnachtsferien bei seinem Vater im Altmännerhaus. So viel wie eben angängig, vermied er den Verkehr im Mesdagschen Hause. Ziellos und in sich gekehrt irrte er häufig über die verschneiten Felder der nächsten Umgebung. Er sprach laut mit sich selbst und gab sein entblößtes Haupt auf diesen Spaziergängen den eisigen Winden preis. Je schärfer es pfiff, um so lieber schien es dem einsamen Menschen zu sein. Dabei flatterte seine Soutane wie Fledermausflügel über die weiße Schneedecke einher. Die hohe Gestalt fühlte nicht den Antast des Wetters. Waren die Stürme in der Seele des stillen Mannes vorüber? Grenzenlos nüchtern und kahl schien das Leben vor seinen Blicken zu liegen. Immer dasselbe mechanische Wesen, immer dieselbe Kälte, Ruhe und Teilnahmlosigkeit. Sein Blut war tot, und die dürren Blätter der Resignationsphilosophie raschelten um die Stirn des einsamen Wallers. Die Leute mieden ihn, und diejenigen, die Mitleid mit ihm fühlten und ihn ansprachen, erhielten keine Antwort. 112 Da ließen auch diese den jungen Sonderling seines Weges gehen. Selbst Pittje Pittjewitt, der sonst große Stücke auf Wilm Verhage gehalten hatte, schüttelte den Kopf und gab ihn für das bürgerliche Leben verloren. Aber allen fehlte die Erkenntnis dessen, was die Seele des angehenden Geistlichen bewegte. Keiner wußte es, niemand ahnte es – ein mystisches Dunkel legte sich um die Erscheinung des jungen Verhage, das nur vier Augen zu durchdringen vermochten, und zwar die von Hannecke Mesdag und mir, aber wir schwiegen, und ich persönlich achtete so recht aus tiefster Seele die lähmende Gewalt, die sich des Ärmsten in bedrohlicher Weise bemächtigt hatte.
Unter Flüstern und Heimlichtun waren die Tage der Weihnacht gekommen. Auf dem Monreberg wurden die jungen Fichten geschlagen, und die Axt rief vom frühen Morgen bis zum späten Abend über die sanften und verschneiten Höhen des bewaldeten Rückens, der die kleine Stadt halbmondförmig umkreiste. Bei uns zu Hause wurde auch für die Weihnacht gerüstet. Heinrich Hübbers hatte zu diesem Zwecke seine warme Otterfellmütze über die Ohren gestülpt und war zu Wald gegangen. Abends kehrte er mit einer jungen Fichte zurück. Sein verstoppeltes Gesicht war von der Kälte gerötet wie das Röcklein einer überreifen Hagebutte. Als er mit dem Bäumchen den langen Korridor meines elterlichen Hauses passierte, hörte ich ihn den alten Weihnachtssang leise pfeifen:
113 »Als ich bei meinen Schafen wacht',
Ein Engel mir gut Zeitung bracht',
Des bin ich fröhlich – oh, oh, oh. –
Dann war der lichterklare Abend gekommen. Im Fichtengrün glänzte der Stern von Bethlehem, mein Vater war gut und lieb wie immer, und meine Mutter schloß mich zärtlich in ihre Arme. Feierlich hallten die Glocken über die Erde, und als ich mit meinem Freunde die Frühmesse besuchte, sang der das ›Gloria in excelsis Deo!‹ mit so wundervoller Betonung und Inbrunst, daß mir weich und weh ums Herz wurde. Dicht neben uns kniete der junge Verhage. Er hatte die Hände gefaltet, und ich bemerkte, wie er die Fingernägel tief ins Fleisch drückte. – Am Tage der heiligen drei Könige flammte zum letzten Male der Weihnachtsbaum auf. Dann kam Heinrich Hübbers, trug ihn hinaus und zerhackte das Stämmchen, daß die Späne flogen. Der Stern von Bethlehem wanderte in die Pappschachtel zurück, und mit dem Verschwinden desselben wurde der junge Heerohme auch zum letzten Male auf den verschneiten Feldern gesehen. Er war ins Seminar nach Münster zurückgekehrt. Hannecke Mesdag weinte ihm bittere Tränen nach. Bald darauf war das alltägliche Leben wieder in seine Rechte getreten. – – –
Für uns aber stieg eine selige und goldige Zeit herauf. Wilm Verhage wurde vergessen, und die Vorbereitungen und Proben für die Komödie begannen. 114 Während der Freistunden wurde mit einer fieberhaften Tätigkeit gearbeitet. Kein Verschlag blieb ungeöffnet, in allen Schränken und Truhen suchte das spähende Auge; Flitterkram und bunte Fetzen mußten herhalten, um unter der flinken Nadel von Hannecke Mesdag verarbeitet zu werden, und selbst das weiße Kaninchen vom langen Dores verfiel den Brettern, welche die Welt bedeuten. Dem ingeniösen Einfall des Lateiners war es zu danken, daß auch die rosaroten Ohren bei der Kostümfrage in würdiger Art herangezogen wurden. Sie dienten als Quasten, und als ich eines Tages im Mesdagschen Hause vorsprach, um mich über den Fortgang der Arbeit zu überzeugen, baumelten sie gemeinsam mit der schneeweißen Karnickelblume auf dem himmelblauen Kleide der Donna Elvira. – Mimen und Komparsen hasteten geschäftig durcheinander, um die Vorbereitungen zu einem gedeihlichen Abschluß zu bringen. Der hannöversche Füsiliersäbel, dem auch die kühnste Phantasie keine Ähnlichkeit mit einem spanischen Galanteriedegen anzudichten vermochte, und der dennoch bestimmt war, das Wehrgehänge Don Juans zu schmücken, wurde von der Rumpelkammer geholt, eingeölt und mit Aufbietung aller Kräfte derartig geschmirgelt, daß selbst Pittje Pittjewitt mit seinem Lobe nicht kargte und gegen ihn die blanke Schneide eines Solinger Rasiermessers für eine verrostete Klinge erklärte. Dieses unbedingte Lob mußte uns zu Kopf steigen. Wir betrachteten das ganze Theaterunternehmen schon als eine gewonnene Sache. Franz Dewers hämmerte im Schweiße seines 115 Angesichtes schmale Latten und Bretterstücke als Rahmen für Kulissen und Soffiten zusammen, Jan Höfkens beklebte sie mit Tapetenresten, die unbedruckte Seite nach oben, und ich stand mit Pinsel und Leimfarbentopf auf der Leiter und malte Luft, Wasser, Wald und Interieurs, je nach Bedarf, und setzte dabei die Lichtdruckser mit einer solchen Virtuosität auf die Tapete, daß der lateinische Heinrich geraume Zeit zu Rate ging und darüber nachgrübelte, ob er mich für einen zweiten Zeuxis oder einen wiedererstandenen Parrhasios ansprechen sollte. Zur gewissenhaften Beurteilung der Sachlage stellte er sich mit gespreizten Beinen vor die bemalte Kulisse, legte den Kopf auf die Seite, kniff das linke Auge ein und blinzelte mit dem rechten durch die vorgeschobene Hand, der er mit einem gewissen Kennerinstinkt die Form einer Rolle gegeben hatte. Er stand in schwerer Erwägung. Am dritten Tage legte er los. »In Anbetracht der täuschenden Naturwahrheit, die verblüffend aus dem Rahmen schaut,« also begann er, »in Anbetracht ferner, daß die Behandlung der Farben im allgemeinen und die der Lichteffekte im speziellen eine geradezu meisterhafte genannt werden muß, will ich Dir mein gefundenes Urteil nicht länger vorenthalten.«
Gravitätisch trat er auf mich zu. Ich war gerade damit beschäftigt, eine neue Tapete mit einem fast unmöglichen Farbenrausch zu traktieren, als er mir geheimnisvoll einige Worte ins Ohr flüsterte. Dann schwieg er. Der Lateiner hatte sich für Zeuxis aus Herakleia entschieden. –
116 Nach weiteren vierzehn Tagen konnte mit dem Aufschlagen der Bühne begonnen werden. In einem Alkoven meines elterlichen Hauses. der mit einem geräumigen Wohnzimmer in Verbindung stand, wurde unter Zuhilfenahme des gefälligen Schreinermeisters Henseler das Schaugerüst nach allen Regeln der Kunst aufgestellt und zusammengezimmert. Alsbald prunkten auch Soffiten, Kulissen und Versatzstücke hinter dem Vorhang, der, in höchst sinnreicher Weise ins Leben gerufen, sein Dasein abgesetzten Fenstergardinen und schadhaften Rouleaux verdankte. Quasten, Litzen und sonstige Posamentierfragmente, die mit einer Art von künstlerischer Unverfrorenheit dekorativ zur Anwendung gekommen waren, vervollständigten den äußeren Aufputz der Bühne, die hinsichtlich ihrer Anlage das Prädikat ›wohlgelungen‹ verdiente. Stundenlang konnten wir in stiller Betrachtung vor unserem Machwerk sitzen, um uns von dem Geheimnisvollen der Szene überschauern zu lassen.
»Nun könnte es losgehen,« meinte Jan Höfkens.
»Festina lente, lieber Johannes,« entgegnete ihm der lateinische Heinrich. Bedächtig kramte er dabei im Futter der linken Rocktasche, zog ein beschriebenes Papier hervor, entfaltete es und heftete es mit einigen Stecknadeln an die äußere Seite des Vorhanges. Dann trat er zurück. Aus dem groben Dütenpapier, das über und über mit Strohpartikeln durchsetzt war, blähte sich die lateinische Inschrift: ›Musis et artibus.‹
Jetzt erst hatte der Kirchturm seinen Hahn, und die 117 Proben konnten beginnen. In mühevoller Arbeit hatte der Lateiner die verschiedenen Rollen abgeschrieben. Es war eine Selbstverleugnung gewesen, wie er so da saß und die weißen Papierbogen mit seinen Hahnenfüßen beglückte. Gerne hätte ich für ihn die Kostümfrage erledigt. Auch Hannecke Mesdag hatte sich angeboten, einen tadellosen Leporelloanzug herzustellen, der sich sehen lassen konnte, allein der Lateiner hatte seine Heimlichkeiten, er verzichtete auf jegliche Beihilfe, und aus seinen zeitweiligen delphischen Andeutungen mußte geschlossen werden, daß er gewillt sei, in betreff seines Kostüms etwas nie Dagewesenes zu schaffen und einen grandiosen Trumpf auszuspielen. Selbstverständlich wurde unsere Wißbegierde bis zum Bersten gespannt, ein unerträglicher Zustand, der gebieterisch darauf hindrängte, sobald wie möglich den ersten Theaterabend steigen zu lassen. Die Proben begannen. Die Szenenfolge im Don Juan glückte über alle Maßen. Der lange Dores verkörperte die Donna Elvira mit Verve. Bei jeder Probe leerte er den Becher der Begeisterung und der dramatischen Kunst bis zur Nagelprobe. Er wußte derart zu erschüttern, daß sich Franz Dewers eines Abends in eine verschwiegene Ecke drückte und bitterlich weinte. Das war echte dramatische Kunst, himmelstürmende Kunst, das waren geistig-elektrische Funken, die befruchtend und anregend in unsre Mimenherzen fielen und den Erfolg garantierten. Die Don Juan-Proben wurden daher eingestellt. Das Stück klappte, und getrosten Mutes konnten wir mit dem zweiten dramatischen Werk 118 ›Jan Klaas als Porträtmaler‹ beginnen. Dieses Stück war ein Fastnachtsscherz, eine dramatisierte Hanswurstiade schlimmster Sorte, in der ich den Porträtmaler, Heinrich den Kommerzienrat und Franz und Jan abwechselnd den Polizeidiener zu geben hatten. Eine Kostümprobe war vom Lateiner für unnütz erklärt worden. Jan Höfkens ließ es sich aber nicht nehmen, den Polizeidiener schon während der Proben in der Husarenjacke seines Bruders zu kreieren. Er machte aber entschieden Fiasko. Nicht etwa des Bekleidungsstückes wegen – im Gegenteil, die grüne Schnürjacke war noch das Beste an ihm, aber sein Kopf war mit einer geradezu bewundernswerten Gedächtnisschwäche behaftet. Nur in einer einzigen Szene hatte der Schwerenotskerl aufzutreten und in dieser Szene nur die Worte zu sagen: »Ich bin gekommen, Sie zu arretieren,« und zwar unter dreimaligem Augenblitzen. Das Augenblitzen hatte er bald heraus, allein mit dem ›arretieren‹ stand er auf Kriegsfuß, denn immer und immer wieder platzte der Unglückswurm unter flammenden Augen auf die Szene: »Ich bin gekommen, Sie zu gratulieren.« Es war zum Rasendwerden! – Wie Rabengekrächze, wie der Ton von Unglücksposaunen klang uns das ominöse, mit prompter Sicherheit stets wiederkehrende ›gratulieren‹ zu Ohren. Der Lateiner machte ihm den Sinn des Wortes klar – es fruchtete nimmer. Er zählte ihm die einzelnen Buchstaben an den Fingern herunter – immer wieder kam die sinnentstellende Wendung zutage. Er beschwor ihn bei allen Himmeln und führte das schwere Rüstzeug 119 der Mnemotechnik ins Treffen – anderen Tages war dieselbe Misere. Die Langmut des Lateiners hatte ihr Ende erreicht.
»Und wenn der Husarenattilla zum Teufel geht,« schrie er ihn an, »so mag er zum Teufel gehen, aber Du kannst den Polizeidiener nicht spielen.«
»Und das könnte ich doch.«
»Niemals,« entgegnete ihm der lateinische Heinrich. Gleichzeitig zog er mit der Rechten einen markanten horizontalen Strich über das kategorische ›niemals‹. – »Franz Dewers wird Dich vertreten.«
Heinrich war eine originelle Persönlichkeit vom Scheitel bis zu den Sohlen seiner grünen Plüschpantoffeln, die Manipulation von Grades Mesdag aber hatte er sich zu eigen gemacht. Sie war zu imponierend für ihn gewesen.
»Niemals,« wiederholte der lateinische Heinrich.
Die schöne Harmonie schien mißtönend ausklingen zu wollen. Jan hatte schon die Husarenjacke unter dem Arm und machte sich reisefertig.
»Dann könnte ich gehen,« meinte er leichthin.
Wie ein schönes Meteor wollte die Husarenjacke unserem Horizonte entschwinden. Unsere Herzen krampften sich. Der Lateiner ging in sich.
»Lieber Johannes,« sagte er kleinlaut, »Du hast den Erisapfel zwischen uns geworfen. Gib Frieden.«
»Den Erisapfel?! – den kennte ich nich; ich kennte nur Paradiesäpfel und Goldrenetten,« erwiderte Jan, 120 »und die hätte ich nich geworfen – und ich brauchte mir das nich gefallen zu lassen. Ich gehe.«
Jetzt war Holland in Not! – Den verhängnisvollen Burschen weiterspielen zu lassen, war gleichbedeutend mit Frevel, war ein Ding der Unmöglichkeit; die Weißverschnürte zu opfern, ging uns gegen den Strich und hätte uns um den äußeren Effekt des ganzen Abends bringen können – also: ein Ausweg mußte gefunden werden.
Ich fand ihn.
»Jan,« sagte ich nach einiger Überlegung, »Du bist nicht auf Theaterspielen gebaut, aber Du hast andere große Eigenschaften, die Dich uns lieb und teuer, ja fast unentbehrlich machen. Du wirst Meister am Vorhang. Du ziehst ihn auf, wenn die Sache losgeht, und läßt ihn fallen bei Aktschluß und bei jedesmaligem Ausgang des Stückes. Außerdem verteilst Du die Zettel und handhabst die Theaterschelle.«
»Ich bin mit dieser Ernennung einverstanden,« ergänzte der lateinische Heinrich. Dabei machte er ein Gesicht, als wenn er ein Herzogtum mit Szepter und Kurhut verschenkt hätte.
Nach langem Besinnen erklärte sich Jan mit dieser salomonischen Lösung einverstanden. Wir waren von einem drückenden Alp befreit. Der Frieden in der Truppe blieb gewahrt, dem drohenden Fiasko war somit vorgebeugt, und mit einem unbeschreiblichen Gefühl des Wohlbehagens fügten wir die Husarenjacke dem Inventar unserer Theatergarderobe hinzu.
121 Mit Riesenschritten näherte sich der Tag der ersten Aufführung.
»Ruhig Blut und warm angezogen,« sagte mein Freund. »Meinetwegen könnte jetzt Titus Maccius Plautus oder sonst wer noch kommen, um den Zuschauer abzugeben. Wir sind gewappnet.«
Und wir waren gewappnet.
Nur für den Beleuchtungsapparat hatte ich noch Sorge zu tragen. Mit peinlicher Gewissenhaftigkeit zwängte ich ein Dutzend Stearinkerzen in ebensoviele Flaschenhälse und plazierte sie hinter Kulissen und Rampe. Am Abend vor der ersten Ausführung wurde die Lichtprobe abgehalten. Der Effekt war überwältigend. Prospekt und Seitendekorationen leuchteten in gesättigten Farben. Rittlings auf einem Stuhle sitzend, das Kinn auf die Rückenlehne gestützt, sah ich in die neue Welt hinein, die sich vor meinen Blicken aufgetan hatte. Leise und geheimnisvoll raschelte es in den Tapeten. Meine Phantasie belebte die erleuchteten Bretter mit Akteurs und Aktricen. Im Geiste sah ich schon die Erfolge des morgigen Abends. Lorbeerkränze wuchsen vor meinen Augen auf wie die grünen Wedel auf der Spargelrabatte. Beifallssalven umtönten mein Ohr. Ein frenetischer Jubel trug mich zu olympischen Höhen. Sieg auf der ganzen Linie. Der Erfolg war unbestritten.
»Vorhang 'runter!«
Mein Bruder, der lange Dores, der mir bei der Beleuchtungsprobe behilflich gewesen war, ließ den Vorhang fallen.
122 Die lateinische Inschrift auf Dütenpapier kam in Sicht.
Ich zeigte darauf.
»Musis et artibus,« las ich in gehobener Stimmung.
»Grandios,« sagte der lange Dores.
Dann gingen wir schlafen.