Joseph von Lauff
Kärrekiek
Joseph von Lauff

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281 XIX Der Volksredner

Der Bienenspint war zwischen die Bienen gefahren. Am Immenstocke surrte und summte es, und das gescheuchte Volk irrte und tollte wirr auseinander. Nach ornithologischen Begriffen ist der Bienenspint ein bunter, schnellflüchtiger Gesell, ein Mittelding zwischen Uferschwalbe und Eisvogel, ein schlechter Gänger, aber ein Beherrscher der Luft mit reißendem Flug und den Bienen gefährlich. Und unser Bienenspint?! – Keine Spur von einem bunten Gewand, kein Flieger, kein schlechter Fußgänger, sondern ein veritabler Schwarzrock im Chorhemd und mit der Gewalt der Rede mehr als gewöhnlich ausgestattet.

Der Bienenspint hatte die Kanzel verlassen. Alles drängte mit dem Bewußtsein, daß etwas Ungeheuerliches in der Kirche geschehen sei, dem Ausgang zu. Die Männer machten ernste Gesichter, die Kinder johlten, und die Weiber steckten die Köpfe zusammen und ließen die Begebenheiten noch einmal Revue passieren. Erregte Gruppen bildeten sich vor den Portalen. Meyer Markus Spier, der einen neuen Rundgang in Anregung brachte, fand keine Gegenliebe. Selbst der nationale Dichter und Freiheitsbarde winkte ab, als der jüdische Mann ihn für eine 282 neue patriotische Szene erwärmen wollte. Der Lateiner hatte genug für heute. Die miterlebten Ereignisse bedrängten ihn derart, daß er keine Worte mehr zu finden vermochte. Vor lauter Aufregung hatte er den oberen Knopf an seinem Sonntagswams abgedreht. – Wir gingen dem Markte zu. Um den Herrn Polizeidiener Brill, der auch Ohren- und Augenzeuge gewesen war, bildete sich ein großes Menschenknäuel, um die Ansicht des rechtskundigen Mannes in Erfahrung zu bringen. Herr Iwan Kasimir Brill blitzte hierhin und dorthin, zog sein Notizbuch, feuchtete den Bleistift an und trug etliche Gedanken zu Papier, wobei er geheimnisvolle Andeutungen, wie: »Krimineller Fall . . . verzweifelte Sachlage . . . Beleidigung und Gefährdung der Standesehre . . .« unter die Leute verstreute. Das war alles, aber immerhin genug, um die Köpfe noch mehr zu verdrehen. Vornehmlich zog das hingeworfene Wort ›kriminell‹ immer weitere Kreise. Wie ein scheugemachtes Karnickel mit angelegten Ohren purzelte und kapriolte es in erregter Weise durch die Menschenmenge, emsig bemüht, Unterschlupf zu gewinnen, aber es konnte sein Loch nicht mehr finden, und so war es denn gezwungen, offenkundig seine Sprünge zu machen. Alle Welt bemerkte das kriminelle Karnickel, das schließlich zu einem stattlichen Assisenhasen heranwuchs.

Als letzter hatte Pittje Pittjewitt die Kirche verlassen. Sein Hut stand auf Krakeel, wie denn überhaupt dieser Zylinder den vorzüglichsten Barometer für die Stimmung und den Gemütszustand seines rechtlichen Besitzers abgab. 283 Gerader Sitz war gleichbedeutend mit herzerquickender Lebensfreude, innerer Zufriedenheit und ruhiger Geistesverfassung; Neigung des Hutes unter fünfundvierzig Grad nach links bedeutete Selbstbewußtsein, Schätzung der eigenen Person und richtige Wertung seiner Eigenschaften als Barbier, Leichenbitter und Schweinestecher; dieselbe Neigung nach rechts, aber rücklings, so daß eine gute Portion des Stirnhaares unter der Zylinderkrempe hervorsah, deutete auf Zerwürfnis mit sich und den Menschen, auf aufsteigende Krakeelsucht, elektrische Überladung und drohenden Sturm. Beim Verlassen der Kirche hatte Pittje Pittjewitt den zuletzt angegebenen Hutsitz gewählt – also war Krakeel zu erwarten, und mit dieser Krakeelsucht im Busen, die rechte Hand zwischen Weste und Chemisettchen geschoben, schritt Pittje Pittjewitt durch die zusammengewürfelten und diskutierenden Menschengruppen nach der großen Linde, wo in der Regel Polizeiverordnungen und Bestimmungen des Gemeinderats nach dem Hochamt zur allgemeinen Kenntnis gebracht wurden. Langsam folgten die Kirchengänger dem angeärgerten Meister, der weder rechts noch links sah und gerades Weges auf sein Ziel lossteuerte.

Ein leichter Wind spielte mit den Zweigen der stattlichen Lindenkrone. Dem Stamme zu hatten die herzförmigen Blätter schon eine gelbliche Färbung angenommen. Die duftige Blüte war schon längst dahin, aber über und über bedeckten die blaßgrünen Kugelfrüchtchen das Laubwerk, von dem sich ab und zu vereinzelte 284 Blätter lösten und langsam über den Marktplatz hinwegschwebten.

Unter großer Beklemmung scharten sich die Leute an dieser Stelle zusammen. Wie ein Ungewitter hing es in der Luft. Die verschiedenen Ansichten und Meinungen schwirrten wie das Gesurre der Brummelfliegen durcheinander. Dieser nahm für den Herrn Pastor, jener für Wilm Verhage Partei, aber im allgemeinen neigte sich die Schale zugunsten des in seiner Ehre gekränkten und öffentlich gemaßregelten Mannes, wenngleich auch Fritz van Dornick, der Schneidermeister Schmitz und andere den Standpunkt der Kirche vertraten. Jener in seiner Eigenschaft als Mitglied des Kirchenvorstandes, dieser, weil er die abgelebten Bekeidungsstücke der geistlichen Herren mit Nadel und Zwirnsfaden über Wasser zu halten hatte und sich rühmen konnte, eine noch immer stattliche Frau zu besitzen, die noch vor wenigen Jahren das Amt einer Pfarrersköchin bekleidet hatte, aber wegen nicht kanonischen Alters sich genötigt sah, eine anderweitige Pfründe in Tausch und Nießbrauch zu nehmen. Diese Gründe waren ausschlaggebend für die Ansicht des Herrn Schneidermeisters Schmitz. Er hatte sich auf die klerikale Seite geworfen und war eifrig bemüht, seine nicht ganz einwandfreie Ausnahmestellung durch allerlei nichtige Argumente zu stützen. Vor allen Dingen suchte er Meyer Markus Spier, dem die Vorgänge in der Kirche nicht unbekannt geblieben waren, auf seine Seite zu ziehen. Dieser hingegen, als aufgeklärter und 285 fortschrittlicher Mann, war liberaler Gesinnung und wies die Anfechtungen kurzerhand mit den Worten zurück: »Is Herr Wilhelm Verhage nich for die bestehenden Zustände, is er for's Schisma – nü, kann er werden Schismatiker. Mich kümmert's nich; is er doch ein braver Mann un ein gelehrter Mann. Hat er sich doch immer geärgert, wenn sie hier geschrieen haben: Hep, hep! – weil er der Ansicht war, auch die Juden sind Menschen. Er hat nich gemacht in Antisemitismus. Ich hab's ihm angekreidet un finde es schimpflich, daß sie ihn haben schimpfiert in die Kirche. Un wäre er geworden ein Archimandrill – keiner hat ßu schimpfieren die Leute, un das is meine Meinung, Herr Schmitz. Ich habe die Ehre. – Un dann noch die Verhöhnung von's Mädchen . . .«

»Hoho!«

»Ich habe die Ehre, Herr Schmitz.«

Immer lauter wurde das Summeln und Surren. Herr Polizeidiener Brill gab sich alle erdenkliche Mühe, die Gemüter zu beschwichtigen. Meinung und Gegenmeinung platzten immer heftiger aufeinander.

»Die Sache ist kriminell!« rief Dores Küppers, und Heinrich Hübbers überlegte schon, ob es nicht zweckmäßig sei, sich mit dem Schleppsäbel aus den Freiheitskriegen zu gürten, blankzuziehen und das Pfarrhaus zu stürmen. Andere hingegen hielten die öffentliche Maßregelung zwar für sehr hart, aber dennoch zu Recht bestehend und für geboten.

286 »Ordnung in der Kirchengemeinde muß sein!«

»Der Herr Dechant hat recht!«

»Unrecht . . .!«

»Ruhe! – Ruhe!«

»Gefährdung der Standesehre!«

»Es lebe der Dechant . . .«

»Hoch Wilm Verhage . . .!« – also tumultuierte die erregte Bürgerschaft unter dem Laubdach der großen Linde, deren Krone sich ruhig im Winde bewegte, flüsterte und raunte und von Zeit zu Zeit einzelne Blätter verstreute.

Während dieser Vorgänge hatte Pittje Pittjewitt die verschiedenen Gruppen wiederholt in einer großen Kreislinie umschritten. Sitz und Haltung des Zylinders waren nachgerade beängstigend geworden. Die innere Aufregung, die die Seele des im Kreise schreitenden Mannes beherrschte, schien ganz und gar in die spiegelblanke Angströhre gefahren zu sein, und zwar in so einschneidender Weise, daß sie jeden Augenblick vom Kopfe zu purzeln drohte. Auf seinem Rundgang war Pittje an die Gruppe gekommen, in der Schneidermeister Schmitz mit beredter Zunge seine klerikale Voreingenommenheit anderen aufzupfropfen gedachte.

»Ordnung muß sein,« sagte er mit pfiffigem Augenblinzeln, »sonst haben wir die ganze preußische Heidenwirtschaft am Halse . . .«

»Richtig! – Ordnung muß sein.«

Mit einem dumpfen Schlage legte sich die Rechte Pittje Pittjewitts auf die Kopfbedeckung des Sprechers, 287 der infolge der handfesten Begrüßung unwirsch zur Seite taumelte.

»Gottdomie . . .!«

»Was Gottdomie?!« – funkelte ihn Pittje Pittjewitt an. »Richtig! – Ordnung muß sein, aber mit Rücksicht auf die Kehrseite der Medaille.«

»Oho!«

»Mitbürger . . .!«

Pittje Pittjewitt war mit einem kühnen Satz auf die Steinbank gesprungen, die den Stamm der Linde in weiter Hegung umkreiste.

»Hoch, Pittje!«

»Nieder mit Pittje!«

»Pittje will reden!«

»Mitbürger . . .!«

Mit einem raschen Griff hatte er den Zylinder gefaßt, schwenkte ihn wie zum Gruße und brachte ihn alsdann wieder in den Krakeelsitz zurück. Man sah es dem Hut an, was unter ihm gärte und kochte. Wie Napoleon auf seiner erhöhten Stellung bei Austerlitz, über sich die strahlende Sonne, den linken Fuß vorgestellt, die Brauen düster gesenkt, die Unterlippe wie beim Karpfen etwas vorgeschoben und die Rechte theatralisch zwischen Hemd und Weste versenkt, so stand auch Pittje und beherrschte die Situation. Nur fehlte der Ordensstern.

»Mitbürger! – Wir haben heute morgen die Rede unseres gefeierten Freiheitsdichters vernommen. Bescheiden, wie alle bedeutenden Männer und Jünglinge, nannte er 288 sich kurzweg: Schüler. Ja, er sagte sogar: Ich bin nur ein schlichter und einfacher Schüler. Mitbürger, bei dieser Leistung nur ein einfacher Schüler?! – Ich gestehe offen, ich habe ihn zuweilen verkannt. Das war ein Irrtum von mir, und ich bin willens, ihm seine große Bedeutung auf einem Stempelbogen zu beurkunden. Seine Bescheidenheit weist nicht allein auf einen bedeutenden, sondern auch auf einen edeldenkenden Jüngling hin.«

Nach diesen Worten winkte er dem Lateiner zu und machte ihm eine tiefe Verbeugung.

»Meine Herren! – Ich bin auch ein bescheidener Mann und ein einfacher Bürger . . .«

»Bravo!«

»Gut so!«

»Renommage!« rief jemand dazwischen.

»Herr Schneidermeister Schmitz,« trumpfte Pittje Pittjewitt auf, »wenn Sie mich für einen Renommisten betrachten, so sage ich Ihnen, daß ich Sie für zu dumm estimiere, um mich beleidigen zu können. Ja, meine Herren, ich bin nur ein einfacher Bürger, aber, meine Herren« – und seine Stimme nahm einen ingrimmigen Ton an – »wenn so etwas passiert, wie soeben in der Kirche passiert ist, dann muß ich doch sagen, das geht über meinen Zylinder, dann tret' ich aus meiner einfachen Bürgerschaft heraus und schwinge mich zum Volksredner empor, denn das ist mein Recht, und eine gute Rede zu halten, ist hier zur Pflicht geworden.«

289 »Stechen Sie lieber Ihre Ferkel ab, und barbieren Sie Ihre poweren Kunden!«

»Gerne – und Sie sind der erste, Herr Schneidermeister Schmitz, den ich über den ungewaschenen Löffel barbiere. Sie natürlich haben keine Courage, das haben Sie beim letzten großen Wasser bewiesen – aber ich habe welche und spreche frei von der Leber. Verstehen Sie mir?«

Zum größeren Nachdruck der Worte rückte er den Zylinder noch um einige Zoll weiter nach hinten.

»Mitbürger!« fuhr Pittje erregter fort und schlug sich dabei überzeugungstreu auf das steife Chemisettchen, »ich bin ein christkatholischer Bürger und bin willens, auch als ein christkatholischer Bürger zu leben und gottselig zu sterben, aber gegen die ultramarinen Machenschaften muß ich mich denn doch ernstlich verwahren. Man kann ein christkatholischer Mensch sein und dennoch die Ultramarinen vom liberalen Standpunkt aus betrachten, und ich brauche mir nicht gefallen zu lassen, daß meine patriotische Gesinnung von der Kanzel aus sozusagen in die Gosse gedrückt wird.«

»Lieb Vaterland, kannst ruhig sein . . .!« wurde dazwischen gerufen.

Es war die Stimme des Schneiders.

»Herr!« donnerte Pittjewitt los, »verschimpfieren Sie das erhabene Lied nicht. – Mitbürger, ich sage – unser nationales Empfinden ist vergewaltätigt worden, und der Herr Dechant hat es gewagt, einen ehrlichen Jüngling, 290 dessen Schwarzes unter dem Nagel noch für rein anzusprechen ist, in den Augen seiner Brüder und Mitmenschen zu entblößen und nackt hinzustellen. Ich protestiere dagegen.«

»Auch wir protestieren dagegen!«

»Auch wir – und wir – und wir . . .« kam es von allen Seiten gefahren. Nur der Schneider und seine Gesinnungsgenossen, unter denen sich auch solche Männer befanden, von denen Wilm Verhage die zweifelhafte Wohltat der Stipendien empfangen hatte, machten ihre gegnerischen Ansichten durch Johlen und heftige Zwischenrufe bemerkbar. Herr Schmitz steckte sogar Zeige- und Goldfinger in den Mund und ließ einen gellenden Pfiff seinem Zahngehege entschlüpfen, daß die Scheiben in der Wirtschaft von Dores Küppers leise zu klirren begannen.

»Nieder mit Pittje . . .!«

»Weiter reden!«

»Mitbürger!– Ich protestiere dagegen. – Wir befinden uns im Zeitalter der Aufklärung. – Wir leben in Preußen und nicht bei den Spanjards, wo sie erwiesenermaßen noch heutzutage die Freimaurers verbrennen. Und dem Jüngling Wilm Verhage wurde noch schlimmer mitgespielt – man hat ihm sein unschuldsvolles Gewand der Ehre genommen. Mitbürger – wir leben in Preußen!«

»Pittje, das kostet Dir den Kragen und die ewige Seligkeit!«

291 »Und der Leichenbitter ist alle!«

»Ruhe! – Ruhe . . .!«

»Ich lasse bei Ihnen keine Schweine mehr stechen!« rief der Blechschläger Fritz van Dornick.

»Und Du wirst auf dem Judenkirchhof begraben!« zeterte eine andere Stimme aus dem Hinterhalt.

»Pittje soll leben!«

»Hurra, Pittje!«

»Sie sind ein Freimaurer,« johlte der Schneidermeister, »und eine Blamation für die katholische Kirche!«

»Auch egal,« fuhr Pittje Pittjewitt unbeirrt fort, »ich sehe und schaue mit den Augen der Intelligenz und protestiere ferner dagegen, daß ein unbescholtenes Mädchen aus meiner Bekanntschaft, das noch mit ihrem schneeweißen Jungfernkranz einhergeht, sozusagen an den Schandpfahl geschmiedet wird und sich in die Lage versetzt sieht, vor der ganzen Stadt Spießruten laufen zu müssen. Mitbürger, das ist eine Infamheit! – Wenn das einer etwaigen Tochter von mir passiert wäre . . .«

»Sie habe ja keine . . .«

»Ich sage ja ›Wenn‹! – Mitbürger, wenn das meiner Tochter vor Jan und Allemann passiert wäre, ich schlüge den Ehrabschneider in Grund und Boden zusammen. Gottdomie noch mal! – Wir leben doch in einem gebildeten Staat und brauchen uns keine Übergriffe von Pastören und Kaplänen gefallen zu lassen. Wir sind alle, mit Ausnahme von Herrn Meyer Spier – Sie nehmen's mir doch nicht übel, Herr Spier? – christkatholische 292 Männer und wollen es bleiben, aber wir wollen auch unsere staatliche Freiheit behalten. Geht diese verloren, dann läutet die Totenglocke. Wir können uns begraben lassen. Das ist meine Meinung. Ich habe gesprochen.«

»Papier und Tinte her – ich unterschreibe die Sache!« rief Heinrich Hübbers. »Ich unterschreibe die Sache!« – Obgleich alle wußten, daß er weder lesen noch schreiben konnte und sich in notgedrungenen Fällen mit einem ungelenken Kreuzlein behalf, ging er dennoch zu jedem hin, klopfte ihm auf die Schulter und versicherte ihm auf Leben und Sterben diese Worte.

»Richtig!«

»Ganz meine Meinung!«

»Hurra!«

»Der Pittje soll leben!«

»Das ist ein Kerl!«

»Der hat noch Courage!«

»Nieder mit Pittje!«

»Pittje muß in den Stadtrat!«

»Ich unterschreibe die Sache!«

»Heil, heil, heil!«

Ein brausendes Stimmengewirr umtollte den Redner, Hüte und Mützen wurden geschwenkt, und nachdem Meyer Markus Spier die feierliche Versicherung an Eidesstatt abgegeben hatte, daß er gesonnen sei, Herrn Pittje Pittjewitt bei der nächsten Wahlkampagne als Kandidat für den preußischen Landtag aufzustellen, verließ dieser wie Napoleon nach gewonnener Schlacht, aber ohne 293 Ordensstern, seinen erhöhten Standort und mischte sich unter die teils jubelnde, teils murrende Menge. Sein Hut hatte wieder die Neigung unter fünfundvierzig Grad nach links vorwärts angenommen – also: Selbstbewußtsein, Schätzung der eigenen Person und richtige Wertung seiner Eigenschaften als Barbier, Leichenbitter, Schweinestecher – und Redner. Er wurde von seinen Freunden umdrängt, daß er sich kaum zu helfen wußte. Meyer Spier ergriff seine Hand, sah ihm so recht treuherzig mit seinen geschlitzten Augen bis in die innerste Seele und meinte: »Herr Pittjewitt, Sie sind eine Konifere von's Reden, Sie sind eine Konifere im deutschen Rednerwald.«

»Pittje hat Courage!«

»Gottdomie noch mal!«

»Hurra, Pittje!«

Während dieser Ovationen näherten sich zwei Männer der belebten Hälfte des Marktes. Der eine gestikulierte heftig, während der andere mit einem Gesicht, bleich wie die gekalkte Wand, und vorgebeugten Leibes neben ihm herschritt. Bei ihrem Näherkommen machte sich plötzlich eine Totenstille unter der Linde bemerkbar – dann tuschelten vereinzelte Stimmen.

»Grades Mesdag.«

»Der Bas.«

»Der Herr Pastor.«

»Nu geht's los!«

Die beiden Männer blieben stehen. Der Bas hob den Kopf; man hörte ihn deutlich sprechen. Der ganze Mann 294 zitterte vor Verzweiflung und innerer Erregung. »Herr Pastor,« stieß er hervor, »wenn es sich so verhält, wie Sie sagen, dann geschieht ein Unglück – Herr Pastor.«

»Seien Sie ruhig, Mesdag, ich will der Ärmsten in meinem Gebete gedenken. Niemand soll vorderhand einen Stein aufnehmen, um Rache zu üben. Das steht bei Gott – und Gott wird barmherzig sein.«

»Das hilft mir nicht – meine bürgerliche Ehre, Herr Pastor.«

»Ich rede als Seelsorger zu Ihnen, Mesdag. Die bürgerliche Ehre fällt hier weniger ins Gewicht als die unsterbliche Seele. Diese muß vor allen Dingen gerettet werden.«

»Schön, Herr Pastor, aber vorderhand steht mir die bürgerliche Ehre am nächsten. Die ist beschmutzt und in die Gosse geworfen. Herr Pastor, ich will mit eigener Hand den beschmutzten und befleckten Tempel meiner Hausehre ausfegen . . .«

Grades Mesdag zog unter heiserem Lachen den horizontalen Strich. Seine Augen krochen aus den tiefliegenden Höhlen hervor.

»Sie haben die Rechnung aufgestellt – ich machte den Strich darunter. Himmel und Seligkeit! – es geschieht ein Unglück, das sage ich, Grades Mesdag – Herr Pastor . . .«

Mit der geballten Faust schlug er sich heftig auf die röchelnde Brust. »Na denn – adjüs!«

»Sie sollen mich hören, Mesdag!«

295 »Adjüs, Herr Pastor.«

Der Bas entfernte sich eiligen Schrittes.

Ein anschwellendes Murren kam von der Linde her. Mit gekniffenen Lippen, den silberbeknopften Bambus in der Rechten, trat Hochwürden unter die Männer.

»Was gibt's hier?! – Ich glaube, das murrt hier?! – Mir scheint es, als würden meine Schafe rebellisch . . .«

Pittje Pittjewitt trat vor.

»Mit Verlaub, Herr Pastor,« begann er unerschrocken, indem er den Zylinder um Zollbreite lüftete, »wir alle sind christkatholische Bürger, aber wir fühlen uns durch die heutige Predigt beleidigt – und das brauchen wir uns nicht gefallen zu lassen, Herr Pastor.«

»Und da haben Sie . . .?!«

»Ja, Herr Pastor, da habe ich so 'ne Art von Gegenrede gehalten.«

»Sie haben zu schweigen.«

Der Pastor trat auf ihn zu. »Wissen Sie, wer ich bin?« fragte er mit funkelnden Augen. »Ich bin der gute Hirt und hüte die Schafe – aber die räudigen und die mit der Drehkrankheit behafteten sollen verdammt sein. Die Angelegenheit wird noch ihr Nachspiel erhalten.«

Der Bambus stampfte auf. Erhobenen Hauptes verließ Hochwürden die gemaßregelte Herde. Die Hände auf dem Rücken ging Pittje Pittjewitt seiner Wohnung zu. Der Zylinder war wieder auf Krakeel geschoben. –

Die Menge verlief sich, nur der Lateiner und ich standen noch auf der Stätte, wo diese dramatische Szene 296 sich abgespielt hatte. Der ganze Marktplatz tanzte vor meinen Augen. Die alte Linde stellte sich auf den Kopf, der General Seydlitz stieg von seinem Postament und rasselte mit seinem schweren Reiterpallasch über das Pflaster, der Rathausturm nahm eine schiefe Stellung an, und die Brandglocke, die unter dem Schieferdache des Firstenreiters hing, kam in bedenkliche Schwingungen, so daß es mir war, als müßte sie jeden Augenblick von ihrer lustigen Warte herabtanzen, um mich niederzuschlagen. Ich wußte kaum, wo ich mich befand. Die ganze Wucht des Geheimnisses, das auf mir lastete, suchte mich zu Boden zu drücken. Sollte ich mich dem Lateiner offenbaren? – Ich hatte kein Recht dazu und schwieg beklommenen Herzens.

Der Lateiner aber sah mich mit geisterhaften Blicken an und sagte: »Veni, vidi, vici!. – Ich kam, sah und siegte. Ich habe über mich selbst gesiegt. – Und weißt Du, warum?«

»Na, warum denn, Heinrich?«

»Ich werde kein Heerohme.«

Große Tränen standen in seinen Augen.

Stumm drückte ich ihm die Hand. –

Drüben an der Schmalseite des Marktes stieß Meyer Markus Spier die grünen Jalousien an der Guten Stube seines Hauses auf. Dann legte er sich ins Fenster und nahm eine Prise. Meyer Markus Spier nickte uns freundlich zu, als wollte er sagen: »Der Frieden sei mit Euch.«


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