Joseph von Lauff
Kärrekiek
Joseph von Lauff

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266 XVIII Von der Kanzel

»Bruder Jakob, schläfst Du noch,
Es. läutet in die Mette –
Bim, bam, bom . . .!«

Unsanft rissen meine Worte den noch immer in höheren Regionen schwebenden Barden aus seiner freiheitssängerlichen Begeisterung und stellten ihn wieder auf den realen Boden des Alltäglichen.

»Bim, bam, bom . . .«

Es war keine Zeit zu verlieren – wir mußten ins Hochamt. Der Zug hatte sich allmählich verlaufen; er war bis in Höhe des Mesdagschen Hauses gekommen. Meyer Markus Spier zog die Flagge ein, schulterte das Billardkö und humpelte in dem seligen Bewußtsein, sein patriotisches Glaubensbekenntnis öffentlich betätigt zu haben, nach der Wirtschaft von Dores Küppers, um dort den entflaggten Stock seiner ursprünglichen Bestimmung zurückzugeben. Bevor er sich aber von uns verabschiedete, drückte er dem Lateiner tiefsinnig die Hand und meinte: »Junger Mann, fahren Sie so fort mit's Dichten – es wird schon. Haben Sie doch heute, wie 267 ich schon sagte, gedichtet wie Jeremias un die anderen Propheten un gesungen wie David mit's Harfenspiel . . . Ich will sein meschugge, junger Mann, wenn Sie nich werden ein Schiller oder so was . . . Der Gott Abrahams erquicke Sie.«

»Ich danke, Herr Spier,« sagte der Lateiner und blickte bewegt dem Manne nach, der mit geschultertem Kö und gefolgt von der noch immer singenden Jugend seines Weges zog.

»Solch ein jüdischer Mann,« meditierte mein Freund, »mit dieser Gesinnung und mit dieser Klarheit des Blickes – und da gibt es noch Antisemiten mit ihrer erbärmlichen Theorie?! – Schmachvoll.«

»Richtig bemerkt,« bestätigte Pittje Pittjewitt, der sich uns angeschlossen hatte. »Aber alles was recht ist,« setzte er kräftig hinzu, »Du hast großartig gesprochen. Gottdomie! –

Drum bist Du auch beim alten König Fritzen
m Paradies . . .

Großartig.«

Pittje Pittjewitt brachte den Zeigefinger wie zum militärischen Gruß an den Rand des Zylinders.

»Bim, bam, bom . . .!«

Ich mahnte zum Aufbruch. Wir gingen und kamen am Hause von Grades Mesdag vorüber. Herrlich duftete der Phlox im Garten, und die Malven standen wie Grenadiere im Gliede. Blauschwarz, krapprot und violettgeflammt trugen sie ihren blühenden Ordensschmuck auf 268 der grünen Montur und strahlten so recht mit ihren bunten Farben in das heitere Sonnenlicht des Sonntagmorgens hinein. Vor uns klapperte der Bas in seinen frischgescheuerten Holzschuhen zur Kirche. Selbst an Sonn- und Festtagen schmückte ihn diese Fußbekleidung, erstens, weil er sie für schön hielt, und zweitens, weil er hierdurch als praktischer Geschäftsmann eine kostenlose Reklame machen konnte. Die Schirmmütze trug er schief übers rechte Ohr gezogen, und das knappe Kamisol gab dem starkknochigen, wenn auch etwas engbrüstigen Mann einen noch immer jugendlichen Anstrich. Mutter und Tochter hatten sich schon vor ihm auf den Kirchweg begeben.

»Klipper, klapper!«

Donnerwetter, was war das?! – Das war doch kein Holzschuhgeklapper.

Wir drehten uns um.

»Na, nu,« sagte Pittje Pittjewitt und zeigte nach der Mesdagschen Wohnung, »was will denn der da? Da werden doch keine Kinderwickeln gestrickt. Na – so was!«

Pittje Pittjewitt lachte über seinen eigenen Witz und freute sich über das gesetzte und patriarchalische Wesen des Storches, der würdevoll und mit eingezogenem Hals, den langen Schnabel nach unten gerichtet, über den First des Daches einherstolzierte. Dabei klapperte er in allen Takt- und Tonarten, als gälte es, noch vor seinem Abfluge ein verheißungsvolles Wiegenlied zu singen. Immer 269 eifriger und lustiger klangen die Klapperstrophen, dann spreizte er die breiten Schwingen, streckte Hals und Beine von sich und drehte sich in prächtigen Schraubenlinien gen Himmel.

»Der zieht bald,« meinte Pittje Pittjewitt, »die Tage kürzen schon. – Langbein, viel Glück auf die Reise . . .!«

»Bim, bam, bom . . . .«

In den Straßen der kleinen Stadt wehten schon verschiedene Fahnen, die infolge der Husarenmeldung Elkan Josephis ans Licht des Tages gezogen waren. Unter ihrem Bauschen und Flattern gingen fromme und gläubige Menschen zur Kirche.

Am Südportale stand eine hohe Gestalt, die scheinbar mit sich im Zweifel war, ob sie das Gotteshaus betreten solle oder nicht. Das Gesicht war fahl und zeigte die Spuren großer Erregung.

»Da steht ja . . .« meinte der lateinische Heinrich. »Nicht möglich! – Ich dachte, der junge Heerohme wäre in Munster . . .«

»Ferien,« erwiderte Pittje Pittjewitt.

»Ach, wo . . .!«

Schnellen Schrittes näherte sich der Herr Dechant van Bebber dem Südportal. Er kam von dem Pastorat. Er hatte die Augen zu Boden geschlagen und hielt die schwarzeingebundene Bibel mit der linken Hand auf die Brust gedrückt. Die Schuhschnallen blitzten auf dem blankgewichsten Schuhwerk, und die seidene Leibschärpe flatterte mit ihren Fransen im Winde. Hochwürden hatte es eilig.

270 In diesem Augenblick schlug Wilm Verhage die Arme übereinander und lehnte sich unbeweglich an die Säule hinter ihm. Düsteren Auges sah er den Pastor an, dessen Gewand fast das seine berührte. Die Blicke begegneten sich.

Wir waren in Hörweite gekommen.

»Sie gedenken doch nicht die Feier und den Frieden des Gotteshauses zu stören?«

Fast raunend hatte der Herr Dechant gesprochen.

Wilm Verhage stand regungslos und gab keine Antwort. Nur unter seinen Brauen zuckte es auf.

Wiederum raunte der Dechant: »Für einen Häretiker steigt kein Weihrauch gen Himmel.«

Wilm Verhage rührte sich nicht.

»Keinem Apostaten ist der Eintritt verstattet.«

»Das findet sich . . .«

»Ja – das wird sich finden,« entgegnete Hochwürden und rauschte an Wilm Verhage vorüber.

Uns wollte das Blut in den Adern stocken bei diesem kurzen aber verhängnisvollen Auftritt.

»Was gibt's hier – was soll das?« fragte Pittje Pittjewitt, dann sah er uns sprachlos an. »Hier wird gesägt und gehobelt,« fuhr er fort, »Späne fallen unter die Werkbank . . .«

Unsere Blicke richteten sich scheu und verstohlen auf Wilm Verhage, der immer noch mit blutleerem Gesicht und gekniffenen Lippen bei der Säule stand. Wir wagten es nicht, ihn anzusprechen – aber eine Art von 271 Bewunderung stieg in unseren Herzen für den jungen Mann auf, der es gewagt hatte, sich gegen den Dechanten aufzulehnen, und wer solches über sich zu bringen vermochte, der mußte kaltes Blut unter der Weste haben und ein starres Rückgrat besitzen. – Schon wollten wir uns vorbeidrücken, als sich der junge Heerohme straff aufrichtete, den Kopf ins Genick warf und kurzerhand über die Schwelle trat.

»Donnerwetter noch mal!« sagte Pittje Pittjewitt, »er tut's doch. Das imponiert mir – kommt.«

Eine Dämmerhelle empfing uns. Geheimnisvoll huschte sie durch den gotischen Hallenbau, dessen Rundpfeiler mit ihren zierlichen Kapitälen lustig und frei zum Sterngewölbe emporstiegen. Fünfundzwanzig langschäftige Wachskerzen standen auf dem Hochaltar im Mittelschiff, und fünfundzwanzig bläuliche Flämmchen schwebten fast unbeweglich, wie scharfumgrenzte leuchtende Punkte, über den Schäften. Zwischen den Messingleuchtern erhoben sich in Porzellanvasen hohe Lilienstengel, von denen wechselständige Tüll- und Gazekelche mit schwefelgelben Staubfäden herabhingen. Weithin leuchteten die künstlichen Blumen. Sie waren ein Geschenk von Hannecke Mesdag. Noch um die verflossene Osterzeit hatte sie dieselben der Kirche geopfert. Sie entsprachen dem Geschmack der damaligen Zeit und fehlten bei keinem Altarschmuck. Das lichte Weiß der Blütenkelche stand effektvoll auf dem dunklen Schnitzwerk der Predella und repräsentierte gewissermaßen die versinnbildlichte Unschuld im Gotteshause. Ohne die Lilien von 272 Hannecke Mesdag wäre für uns Jungens keine richtige Andacht möglich gewesen.

Ein Räuspern, ein Hüsteln und ein Knistern der umgeschlagenen Gebetbuchblätter mischte sich den leisen Schritten der Nachzügler. Hin und wieder klappte eine Tür in den Kirchenstühlen. Die frischgestärkten und mit Bändern verzierten Hauben der Frauen und Mädchen schwammen wie weiße Enten über dem dunklen Gewoge der Männerröcke. Ab und zu tauchte ein modischer Hut auf. Dicht bei der Kanzel drängte sich ein blauer Fleck aus dem Einerlei der grauen und düsteren Umgebung. – Heinrich Hübbers! – Nicht weit von ihm stand der Bas. Pittje Pittjewitt hatte sich von uns getrennt. Ich suchte ihn mit den Blicken – und richtig! wie gewöhnlich, so stand auch heute wieder sein spiegelblanker Zylinder auf dem Postament der allerseligsten Jungfrau Maria. Mutter und Hannecke Mesdag knieten nicht weit von der Orgel. Auf den Flechten der letzteren, die sie wie ein Kränzlein um den Kopf geschlungen hatte, lag ein goldiger Widerschein der lieben Morgensonne – und über alles schwebte der prächtig illuminierte Muttergottesleuchter, in dessen Rankenwerk der Stamm Jesse sich zeigte. Umgeben von einer strahlenden Sonne, erhob sich inmitten des Leuchters die hohe Gestalt der jungfräulichen Mutter mit dem Jesuskinde. Offenbar hatte hier der Künstler die Worte der Offenbarung veranschaulicht, die da lauten: Und ein großes Zeichen erschien am Himmel – ein Weib, umkleidet mit der Sonne, und der Mond unter ihren Füßen, und auf 273 ihrem Haupte eine Krone von zwölf Sternen. – Die silberlichte Mandorla leuchtete wie geschlagenes Silber.

Jetzt mußte das Glöcklein an der Sakristei ertönen, das, wie gebräuchlich, den Beginn des Hochamtes anzeigte. Allein es schwieg noch immer. Aber zwei Ministranten erschienen, bestiegen die Stufen des Hochaltars und nahmen die Lilien aus den Porzellanvasen – dann gingen sie. Schmucklos bot sich nunmehr die Altartafel den Blicken der gläubigen Menge. Ein Flüstern ging durch den weiten Kirchenraum.

»Was war das?«

»Was bedeutete das?«

»Es soll doch keine Totenmesse gelesen werden?«

Alle Augen richteten sich auf Hannecke Mesdag, die ebenfalls den sonderbaren Vorfall bemerkt haben mußte, denn sie hatte den Kopf nach vorne geneigt, und man gewahrte, wie sich ihr schmaler Körper krampfhaft bewegte. Auch über das Antlitz vom Bas flog ein nervöses und hastiges Zucken. Ein verlegenes Tuscheln und Raunen lief von Kopf zu Kopf. Keine Frage – hier unter dem hohen Sterngewölbe bereitete sich ein Ungewisses vor, das schon jetzt seine lähmenden Schatten vorauswarf. Mir war's, als ob mich ein scharfer Peitschenschlag berührte, und ich hatte das Gefühl, daß sich hier an geweihter Stätte der Beginn eines Trauerspiels vorbereitete, dessen verwickelte Fäden auf das Ravelin zurückliefen.

In diesem Augenblick tönte das Sakristeiglöckchen.

Ein schon bejahrter Konfrater des Herrn Dechanten 274 aus der Nachbargemeinde zelebrierte unter der Beihilfe von zwei hiesigen Kaplänen das Hochamt. Die Feier war ernst und würdig. Der Weihrauch stieg und durchwölkte mit seinem Wohlgeruch die weiten Hallen. Feierlich zogen die Responsorien über die Gläubigen – dann wurde das ›Ite missa‹ gesungen. Die Geistlichen bedeckten sich mit ihren Baretten und verließen das Hohe Chor unter Weihrauchgewölk.

Und wieder ertönte das helle Glöckchen.

Der Dechant van Bebber hatte die Kanzel bestiegen. Er streifte mit einer raschen Bewegung die überhängenden Ärmel des Chorhemdes zurück und umspannte mit beiden Händen die Kanzellehne. Kaum merklich wiegte sich Hochwürden in den Hüften. Seine Augenlider waren gesenkt, nur ein schmaler Schlitz gewährte dem Blick freien Durchlaß, aber dieser Blick hatte etwas Stechendes und Suchendes und huschte blitzartig über das sanfte Gewoge der tausendköpfigen Menge. Nichts entging ihm. Die große Heerschau erstreckte sich von den vordersten Bänken bis zum Halbdunkel der Orgel, unter deren Vorbau die Junggesellen in der Regel Aufstellung nahmen. Länger als gewöhnlich blieben die forschenden Blicke dort haften. Dann kniff er sie völlig ein, machte das Zeichen des heiligen Kreuzes, blinzelte wieder und begann mit hallender Stimme: »Geliebte im Herrn. – Und Petrus gedachte der Worte: Ehe der Hahn zweimal krähet, wirst Du mich dreimal verleugnen. Und Petrus ging hinaus und weinte bitterlich. An diesen Hahnenschrei hat der heilige Petrus bis 275 an sein Lebensende gedacht; aber heutzutage – ach, Du Herr Jerum! – würden sich heutzutage viele um einen krähenden Hahnen in einem ähnlichen Falle bekümmern?! – Prosit die Mahlzeit, Geliebte in Christo! – Sie würden ihn greifen und rupfen und ihn, gebraten in einer Buttersauce, verzehren – aber ich sage Euch, derlei Leute haben ihren eigenen Gewissenshahnen verschlungen und sind taub geworden und abgestumpft gegen ehrlichen Zuspruch und die mahnende Stimme da drinnen. – Aber sie haben hierdurch einen anderen Hahnen beschworen. Der ist feuerfalb, und sein Kamm brennt wie glühender Zunder. Seine Halskrause ist wie ein zischender Eisenring, seine Federn sind feurige Spulen, und er hinkt wie der Satan – denn er ist ja selber der Satan. Ja, Geliebte in Christo, ihnen sitzt der Satan im Nacken.

Stille! – Hört! – Vernehmt Ihr nichts?! – Hört Ihr's nicht krähen vom Giebel?! – Nein, Ihr seid taub, denn Ihr habt Eure Ohren mit Harzen und Baumwolle verstopft und ein Tüchlein um die Hörorgane gebunden – oder sollte etwa das unleidliche Kriegsgeknalle Eure Sinne betäuben?! Ja, ja, ja – leider Gottes, die Kriegsfurie ist los! – Möglich, daß Euch diese benebelt! Übertönen doch selbst die Trommelwirbel das Geläut der Glocken in Rom, die das gnadenbringende Dogma der Unfehlbarkeit über den Erdkreis hinausjubeln. Ja – das gefällt Euch, Ihr laßt Euch hineinduseln in das nationale Empfinden, schmückt Euch in patriotischer Gefühlsmeierei wie die halbwüchsigen Jungen mit Eichenlaub, schreit 276 ›Hurra‹ und ›Bravo‹ und schleppt Kind und Kegel in echtpreußischer Begeisterung

Herab, herum und quer und trumm
Durch allerlei Brimborium –

aber über dieses Brimborium, über diese nationale Gefühlsduselei vergeßt Ihr die mahnenden Glocken in Rom, den heiligen Vater, die Not in hiesiger Kirchengemeinde und den Hahn, der schon seit Wochen und Tagen schandmäßig über die Ziegelpfannen und Giebel unserer Stadt hinwegkräht. – Aber versteht mich wohl, versteht mich richtig, Geliebte in Christo! – Ich habe keinen genannt, ich will keinen genannt haben und bin auch nicht willens, Euch das patriotische Brimborium abdisputieren zu wollen. Bei Leibe nicht, Geliebte in Christo! – Sehe jeder, wie er's treibe, gebe jeder dem Kaiser, was des Kaisers, und Gott, was Gottes – aber suche jeder das Werg aus den Gehörgängen zu ziehen, daß er den krähenden Unhold vernehme, dessen Stimme Ärgernis kündet. Laßt die da drüben knallen und pulvern und sich mit klingendem Spiel für nichts und wieder nichts die begeisterten Köpfe einrennen – hier stehen ernstere Dinge auf dem Spiele. Ärgernis ist hiesiger Gemeinde gegeben, der böse Sämann ist in unsere Gärten und auf unsere Äcker gedrungen und hat Distelköpfe und Hederichgesäme zwischen den Weizen gestreut; gute Gewohnheit, verbriefte Rechte sind zum Hansnarren geworden, und kirchliche Einrichtungen wurden angetastet, als seien sie wurmstichiges Fallobst gewesen. – Ich will nicht aufwiegeln, denn Aufwiegelei ist vom Bösen, 277 aber ich frage Euch nur – könnt Ihr das dulden, wollt Ihr das dulden? Nein, Geliebte im Herrn, das dürft Ihr nicht dulden, denn geschrieben steht: Wenn Dich ein Auge ärgert, so reiße es aus. – Wahrlich ich sage Euch, das ist ein erhabenes Wort – drum folget dem Worte.«

Der Prediger schwieg für eine kurze Weile. Mit beiden Händen umgriff er die Kanzellehne und beugte sich rückwärts. Wiederum huschten die gekniffenen Blicke blitzartig über die Köpfe der Zuhörer. Eine tiefe Bewegung machte sich geltend. Der Lateiner sah mich an, als wollte er fragen: »Was bedeutet das alles?« Der Körper von Hannecke Mesdag war fast bis auf die Fersen gesunken, und ein heftiges Schluchzen erschütterte ihre Brust. Keiner wußte, wohin der Herr Dechant sein oratorisches Rößlein zu tummeln gedachte. Vorläufig sprang es noch wie ein ungezügeltes Füllen über Hecken und Gräben. Nur Einer kannte den Weg, wo der didaktische Reiter hinauswollte, und dieser Eine stand mit untergeschlagenen Armen im Halbdunkel der weitvorspringenden Orgel, bleich wie der Tod und vor sich hinstierend.

Hochwürden atmete tief auf, dann ergriff er ein weißes Tüchlein, betupfte damit die feuchte Stirn und brachte es wieder mit einer schnellen Handbewegung in die Falten seines Spitzengewandes. Die wieder vorgefallenen Ärmel schlug er zurück, räusperte sich und begann abermals zu sprechen: »Sehet, Geliebte! – in meinem Hausgarten steht ein schlankgewachsenes und krauswipfeliges Apfelbäumchen. Rotwangige Früchte hängen zwischen dem Laub- 278 und Astwerk und locken mit ihrem prächtigen Aussehen das Herz. Das Bäumchen ist meine Kirchengemeinde, die Früchte zwischen den Blättern sind die mir anvertrauten Seelen in Christo. Da eines Tages seh' ich hinauf und bemerke zwei wurmstichige Äpfel. Ihr denkt nun wohl, ich ließe die hängen?! Nein und abermals nein! – Ich schüttle das Bäumchen; sie müssen herunter, herunter, auf daß der Wurm nicht zu den gesunden hinüberspringt – und sind sie gefallen, dann schneide ich den Wurm heraus, auf daß gerettet werde, was noch zu retten ist. – Sehet, also werden die kranken Seelen gerüttelt, auf daß sie gesunden vom Wurmstich. – Exempla sunt odiosa! – Gott behüte mich, ich will kein Exempel berichten, nur eine Art von Legende sei mir verstattet. Seht, da kommt so ein junges Herrlein gegangen, schmuck von Angesicht, nicht ohne Talent, aber bettelarm, arm wie die Kirchenmaus und die Assel unterm verrotteten Regenfaß. Ich sagte: nicht ohne Talent – und wie das offenkundig wird, seht, da kommen edeldenkende Menschen zusammen, schießen klingendes Geld in einen Beutel und verstatten dem blutarmen Männlein, der menschlichen Kirchenmaus, eine humanistische Bildung, auf daß es das Studium der Theologie ergreife. Das sind brave und edeldenkende Menschen, werdet Ihr sagen – gewiß, und sie bezahlten auch die Jahresrechnungen für Kost und Logis, für Studium und Bücher auf Heller und Pfennig. – Was ist nun Theologie? – Es ist die Krone aller Wissenschaft und die Fakultät aller Fakultäten. Und das blutarme 279 Männlein, so fraget Ihr, war glücklich in seinem Berufe? Ja wohl! – Prosit die Mahlzeit! – Das blutarme Männlein hat seine Wohltäter beschummelt, es ist hinweggesprungen über die kirchliche Satzung wie über einen Heckenzaun, es spielte den Großen, und was tiefernste Kirchenfürsten in einem langen Menschenalter durchforschten und als richtig erkannten, das verketzerte das bettelarme aber nunmehr humanistisch gebildete Männlein, gab seine eigene Meinung zum besten, fand mit einem Male, daß das Getrommel auf dem preußischen Kalbsfell ein angenehmes Geräusch sei und machte in sogenannter Vaterlandsliebe; seine Wohltäter, seine bisherigen Lehrer und Gönner hatten aber das Nachsehen.

Ein dumpfes Gemurmel unterlief das Kreuzgewölbe. Alle Blicke hatten sich in Richtung der Orgel gewendet.

»Aber, Geliebte, ich meine ja keinen, ich will niemand gemeint haben. Was murmelt Ihr denn und wendet die Blicke? Ich habe nur eine Art von Legende berichtet. – Und siehe da, das humanistisch gebildete Männlein gelüstete nach irdischen Freuden und den verbotenen Früchten der Liebe. Ein Weiblein gesellte sich ihm und tat schön mit ihm in verschwiegener Sommernacht, und das Männlein trug noch Tonsur und Soutane, und dieses, Geliebte im Herrn, ist mit Sakrileg in einem Atem zu nennen. Und darum . . . Nein, Geliebte in Christo, ich will keinen verdammen und keinen verfluchen. – Ich meine ja keinen. – Aber Ihr alle sollt mit mir beten und zu Gott schreien, daß er dem Sünder Einsicht schenke und sich seiner 280 erbarme hienieden. Herr, erbarme Dich seiner! salvavi animam meam. – Amen.«

Hochwürden verließ die Kanzel. Erst herrschte Totenstille, das Fallen einer Stecknadel wäre zu hören gewesen, dann entstand ein verhaltener Tumult. In den hinteren Bänken war eine Frauensperson ohnmächtig geworden. Dort eilten die Menschen zusammen.

Fast gleichzeitig mit dem Ohnmächtigwerden der jungen Person lief ein gellendes Gelächter über die verstörte Menge.

Es kam von der Orgel her.

Das Gelächter wiederholte sich. – Mit einem hippokratischen Gesicht, aber erhobenen Hauptes verließ Wilm Verhage die Kirche.


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