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Der kleine, dicke, verliebte Schao-tschin hatte sich mit vieler Mühe durch seine Diener von dem Reis, den Korinthen und Rosinen reinigen lassen, die Gesicht, Hals und Kleider bedeckten, aber er war durchaus nicht erzürnt über den schlechten Spaß, welchen die mehr wilde und leicht reizbare, als übermütige Miß Sargent mit ihm vorgenommen hatte, als er ihr einen Kuß geben wollte.
Die Mädchen waren von einem Diener in ein anderes, sehr niedlich ausgestattetes Zimmer geführt worden, welchem man sofort ansah, daß es als ihr zukünftiger Aufenthaltsort bestimmt war. Es befanden sich darin auch zwei niedrige Betten, durch Vorhänge voneinander geschieden.
Dieses Zimmer lag nicht, wie das erste, im Parterre, sondern in der ersten Etage, und die Fenster führten nach dem Hofe hinaus. Es kam Miß Nikkerson gleich beim Eintritt so vor, als wenn die Tür hinter ihnen zugeschlossen würde, und als sie dieselbe untersuchte, fand sie dies bestätigt.
»Man hat uns eingeschlossen,« sagte sie zu ihrer Freundin, »also behandelt man uns doch als Gefangene.«
»Nun, diese Gefangenschaft kann man ja vorläufig noch aushalten,« scherzte Miß Sargent. »Essen, Trinken und ein weiches Bett, was können wir denn noch mehr verlangen, und außerdem noch ab und zu eine interessante Unterhaltung mit dem lustigen, alten Chinesen, der uns so liebenswürdig behandelt – gar manche würden uns um dieses Los beneiden.« »Seien Sie ernsthaft,« bat ihre Freundin, »was denken Sie von unserer Lage?«
»Ich bin fest überzeugt, daß unsere Gefährtinnen und die englischen Herren bald auf unserer Spur sein werden,« antwortete bestimmt das junge Mädchen, »und sollten wir zu lange in dieser Haft schmachten müssen, dann wird eben ein Fluchtversuch gemacht, oder nein, kein Fluchtversuch, wir brechen diese schwache Tür einfach ein und spazieren Arm in Arm zum Hause hinaus, in der freien Hand jede ein Stuhlbein, und wehe dem, der uns am Gehen hindern will.«
Miß Nikkerson mußte über ihre couragierte Freundin lachen. Sie wußte aber, daß das sonst stille Mädchen in der Tat zu einem solchen Unternehmen fähig war.
»Die Fenster führen nach dem Hofe hinaus,« meinte sie, als ihre Freundin ausgeredet hatte. »Sollte ein heimlicher Fluchtversuch nötig sein, so können wir ja die Decken hier zerschneiden, die Streifen zusammenbinden und uns daran herunterlassen. Auch habe ich ziemlich viel Geld bei mir, sodaß wir eventuelle Wächter bestechen können. Geld vermag in China sehr viel.«
Unter solchen Beratungen verstrich der Morgen, Schao-tschin ließ sich nicht wieder sehen, die Bestrafung für den Versuch, einen Kuß zu rauben, schien ihn doch etwas entmutigt zu haben. Er kam auch nicht, um mit seinen zukünftigen Frauen das Mittagsessen zu teilen, welches ein Chinese den beiden auf silbernen Platten ins Zimmer trug.
Es mußte wirklich ein sehr reiches Haus sein, in dem sie sich befanden, denn die Speisen waren von ausgesuchtester Art; das feinste Fleisch, das zarteste Gemüse wurde ihnen vorgesetzt, eine Unmenge von Nebenspeisen begleiteten das Hauptgericht, dem süßes Konfekt und die herrlichsten Früchte folgten.
»Mister Schao-tschin scheint uns mästen zu wollen,« sagte Miß Sargent und schob gesättigt die Platten mit den Ueberresten der Mahlzeit zurück. »Gewiß,« stimmte ihre Freundin ihr bei, »bei den chinesischen Frauen gilt Fettleibigkeit als die größte Schönheit, und so lange wir eine schlanke Taille besitzen, sind wir in den Augen unseres zukünftigen Gatten noch nicht vollkommen. Das ist wahrscheinlich der Grund, warum er uns nicht besucht. Ich habe wirklich außerordentliche Sehnsucht nach ihm.«
Wieder verging der Nachmittag, ohne daß sich ein Mensch sehen ließ, die Zeit wurde ihnen bald lang, ihre muntere Unterhaltung verstummte, sie blickten auf den Hof hinaus, auf dem sich ab und zu Chinesen sehen ließen, beobachteten das Treiben der Hausvögel und gaben sich mit dem Papagei ab, der in einem vergoldeten Käfig im Zimmer hing.
Die Sonne ging zur Neige, beide Mädchen saßen stumm am Fenster und blickten noch immer hinaus nach dem Horizont, der im Abendrot widerstrahlte.
Miß Nikkerson sah ihre Freundin an, beider Augen begegneten sich.
»Ist es nicht lächerlich, daß wir uns hier wie ungezogene Kinder einsperren lassen?« fragte sie. »Wir wollen uns jetzt ernstlich überlegen, was wir beginnen! Wir müssen uns ja schämen, wenn wir uns aus den Händen dieses kindischen Alten erst durch unsere Freundinnen befreien lassen müssen.«
Miß Sargent war aufgesprungen.
»Ich halte es überhaupt nicht mehr aus,« rief sie erregt. »Wie kann man es wagen, uns freie Amerikanerinnen mit Gewalt zum Bleiben zu nötigen? Ich versprach mir noch ein hübsches Abenteuer, sonst hätte ich schon längst Skandal gemacht. Mittag haben wir um zwölf Uhr gegessen, jetzt ist es bereits acht Uhr, und noch hat sich niemand bei uns wieder sehen lassen. Ich verlange nun, Schao-tschin zu sprechen, und verweigert er, mir Rede zu stehen, so zünde ich das Haus an, Feuerzeug habe ich bei mir. Wollen doch sehen, was er dazu sagt.« Miß Nikkerson erschrak über die plötzlich hervorbrechende, furchtbare Heftigkeit ihrer Freundin, die schon stundenlang über dem grübelte, was sie jetzt aussprach. Miß Nikkerson bat sie, vorläufig noch nicht das Aeußerste zu wagen, lieber es erst noch einmal in Güte zu versuchen, sie konnte aber nicht hindern, daß das leidenschaftliche Mädchen einen hölzernen Schemel nahm und mit diesem so heftig gegen die hölzerne Tür hämmerte, daß sie von oben bis unten einen Sprung bekam.
»Halten wollen sie uns hier?« lachte Miß Sargent. »Himmel und Hölle! Wir werden ihnen zeigen, wie eine freie Yankee behandelt sein will. Kümmert man sich nicht um mich, da will ich sie lehren, wie man einen Besuch behandelt.«
Wirklich öffnete sich sofort die Tür, und ein Chinese steckte sein ängstliches Gesicht herein, zog es aber schnell wieder zurück, als er sah, wie Miß Sargent nach einem anderen Stuhle griff – der erste lag mit zerbrochenen Beinen vor der Tür.
»Um Gottes willen,« lachte Miß Nikkerson, »lassen Sie die Leute nur wenigstens hereinkommen, sonst bekommen wir schließlich noch die Zwangsjacke an!«
Jetzt trat ein großer, starker Chinese herein, hinter ihm zwei andere, welche Präsentierbretter mit Tee und Backwerk trugen.
»Wollen die Damen den Tee einnehmen?« fragte der große Chinese in fließendem Englisch – er war wahrscheinlich früher Diener bei einer englischen Herrschaft gewesen, er benahm sich sehr lakaienhaft. »Mister Schao-tschin wird den Damen gleich Gesellschaft leisten.«
»Sehr angenehm,« antworteten die beiden Mädchen ironisch und setzten sich an das Tischchen, auf welchem der Tee serviert worden war.
Der Chinese verließ das Zimmer wieder, der Schlüssel wurde draußen abermals im Schlosse gedreht.
»Es ist doch merkwürdig,« meinte Miß Nikkerson, »daß wir keinen Menschen zum Bedienen hier behalten haben. Sonst ist man doch in China gewöhnt, sich die kleinste Handreichung, wie das Einschenken des Tees, das Reichen des Zuckers, das Anbieten von Backwerk und so weiter von Eingeborenen besorgen zu lassen. Sollte dahinter vielleicht eine besondere Absicht stecken?«
»Ich glaube nicht,« entgegnete Miß Sargent, »der verliebte Alte will uns ja dann besuchen, und da ist es ganz natürlich, daß er die Gegenwart von anderen nicht wünscht, ebenso wie er heute beim Frühstück keine Diener ins Zimmer ließ, während uns beim Mittagsessen welche bedienten. Wie finden Sie übrigens den Tee, Miß Nikkerson?«
»Ungeheuer stark,« sagte das Mädchen, den Tee kostend, »ich meinte, der Chinese tränke ihn nicht so stark. Der feine Geschmack geht dadurch jedenfalls verloren.«
»Für Beleuchtung könnte auch gesorgt werden,« murrte Miß Sargent, »man kann ja kaum noch den Mund finden.«
Das Mahl verlief schweigsam, ohne daß sich Schao-tschin hätte sehen lassen. Die beiden Mädchen erhoben sich bald und traten wieder an das Fenster, in die Dunkelheit hinausblickend, welche kaum die Gegenstände auf dem Hofe erkennen ließ.
Eine Viertelstunde war so vergangen, als Miß Sargent plötzlich eine merkwürdige Unruhe zu zeigen begann. Sie ging in dem Zimmer auf und ab, blieb mit einem Male stehen, murmelte etwas vor sich hin, schüttelte energisch den Kopf und setzte dann ihre Wanderung durch das dunkle Zimmer fort, hier und da heftig an ein Möbel stoßend, ohne darauf Rücksicht zu nehmen.
Auch Miß Nikkerson, am Fenster stehend, zeigte eine gleiche Unruhe, nur daß sie nicht hin- und herging. Ihr Busen hob und senkte sich heftig, ihre Augen blitzten, und ihre Wangen waren tiefgerötet.
Eine Zeitlang war Miß Sargent so im Zimmer umhergewandelt, als sie plötzlich vor ihrer Freundin stehen blieb und deren Hände ergriff, sie waren wie die ihren feucht und heiß. Sie näherte ihr Gesicht dem ihrer Freundin und blickte ihr in das glühende Auge.
»Wie fühlen Sie sich?« flüsterte Miß Sargent dem Mädchen ins Ohr.
Statt aller Antwort brach die Gefragte in ein Weinen aus, ließ sich auf einen Stuhl fallen, bedeckte das Gesicht mit beiden Händen und schluchzte.
Wieder ging Miß Sargent einige Male im Zimmer auf und ab und blieb dann abermals vor ihrer Freundin stehen.
»Warum sollen wir uns genieren?« sagte sie mit zitternder Stimme. »In unserer Lage wäre dies eine unverzeihliche Torheit. Wissen Sie, was uns beiden fehlt? In jenem Tee ist Opium oder sonst ein Mittel gewesen, welches die Sinnlichkeit erregt. Aber dieses Scheusal soll sich getäuscht haben,« fuhr sie plötzlich wütend auf und stampfte mit dem Fuße auf den Boden, »lebendig verläßt er dieses Zimmer nicht!«
Draußen ward ein Schritt hörbar, Miß Sargent riß den Dolch aus dem Busen und verbarg ihn in der Tasche. Ihre Freundin, das Gefühl der Schwäche abschüttelnd, tat das Gleiche. Beide waren fest entschlossen, lieber ihre Hände mit Blut zu beflecken, ehe sie sich, durch erhitzende Mittel entflammt, zu einer schändlichen Handlung gebrauchen ließen.
Aber nicht der erwartete Schao-tschin trat herein, sondern ein Diener, welcher die von der Decke herabhängende Ampel anbrannte. Die roten Gläser verbreiteten in dem Zimmer ein angenehmes Licht.
»Wir haben uns in dem Alten getäuscht,« flüsterte Miß Nikkerson, als der Eingeborene sich wieder entfernt hatte, »er ist doch nicht so kindisch, wie wir glaubten.«
»Kindisch ist er nicht,« sagte Miß Sargent, »aber bösartig. Miß Nikkerson, lieber den Tod, als so etwas dulden. Betritt er das Zimmer, so stoße ich ihm den Dolch ins Herz!« »Noch nicht,« bat die andere, »warten Sie wenigstens erst ab, was er vorhat! Zum Aeußersten zu schreiten, ist noch immer Zeit.«
Die Freundin ließ sich beruhigen.
Bald darauf betrat auch Schao-tschin das Zimmer, äußerst kostbar, aber bequem gekleidet. Man sah ihm an, daß er sich Mühe gegeben hatte, sein Aeußeres in ein möglichst günstiges Licht zu setzen, um das Wohlgefallen der Damen zu erregen.
Die Wunden, die ihm von der kräftigen Hand des Mädchens im Gesicht beigebracht worden waren, konnte man nicht mehr sehen, Puder und Schminke verdeckten sie, desgleichen hatte die kolbige Nase die rote Färbung verloren, auch die Wangen waren hübsch gefärbt, so daß der alte Mann einen viel jüngeren Eindruck machte. Der Zopf glänzte von Oel, dessen starkes Parfüm das ganze Zimmer durchströmte, und ebenso ging von der Kleidung ein starker Moschusgeruch aus, den die Chinesen sehr lieben.
Seine Kleidung war von der feinsten Seide, der weite Ueberwurf schillerte in dem roten Licht der Ampel in allen Regenbogenfarben, und die kleinen Füße steckten in niedlichen Lederpantöffelchen.
An seinen Augen bemerkten die beiden Mädchen sofort, daß er entweder starke Spirituosen im Uebermaß oder ebenfalls ein sinneberauschendes Mittel zu sich genommen hatte, denn sie strahlten in schimmerndem Glanze und verliehen ihm dadurch ein jugendliches Aussehen.
Der kleine Chinese mußte sich vollkommen bewußt sein, daß er jung oder vielleicht sogar schön aussah, oder er hielt sich vielleicht überhaupt in derartiger Toilette für unwiderstehlich, oder er glaubte, das den Mädchen beigebrachte Opiat hätte sie nachgiebig und für seine Männerschönheit empfänglicher gemacht, kurz und gut, er tänzelte mit anmutigem Schritte auf die beiden Freundinnen zu und lud sie mit graziöser Handbewegung ein, neben ihm auf dem Diwan Platz zu nehmen.
»Ich habe euch lange warten lassen, Kinderchen,« kicherte er mit seiner unangenehmen Stimme, »aber ich mußte mich erst schmücken lassen, natürlich nur für euch. Ach, wenn ihr wüßtet, wie sehr sich meine anderen Frauen nach mir sehnen, und wie sie euch beneiden, meine Täubchen. Aber ich gehe nicht zu ihnen, nein, ich komme nur zu euch, denn ich liebe euch Engländerinnen viel mehr als meine eigenen ...«
Wer weiß, wie lange er noch in dieser mit schmeichelnder Stimme gesprochenen Vorrede fortgefahren hätte, immer erwartend, daß sich die Mädchen neben ihn auf den Diwan setzen möchten. Aber sie fand einen ihm recht unliebsamen Abschluß.
Miß Sargent, sowieso schon durch das Opium furchtbar erregt, war eine reizbare Natur; der Zorn über den frivolen Chinesen, der seiner Sache so sicher war, übermannte sie, und ehe er seinen Empfindungen für die Engländerinnen vollen Ausdruck geben konnte, empfing er von dem Mädchen einen Schlag ins Gesicht, der ihn vom Diwan herab der Länge nach auf den Boden warf.
Diesmal behielt der Chinese aber nicht seine naive Kindlichkeit bei, die über Schläge hinwegsah, seine Nerven waren durch den Genuß des Opiums andere geworden.
Schnell hatte er sich wieder emporgerafft und stand, an allen Gliedern zitternd, vor den beiden Mädchen.
»So,« kreischte er, »glaubt ihr etwa, ihr könnt mich auf diese Weise behandeln, ihr dummen Dinger? Wartet, ich will euch zeigen, daß ich die Macht habe, euch zu meinen Weibern zu machen. Ihr seid Eindringlinge in diesem Land, also gehört ihr uns. Aber recht so, sträubt euch nur, um so besser gefallt ihr mir, um so süßer ist die Umarmung, wenn sie erzwungen ist.«
Rasend und blind vor sinnlicher Lust wollte er sich auf eins der beiden Mädchen stürzen, aber er schreckte doch zurück, als ihm zwei Dolche entgegenblitzten.
»Zurück!« rief ihm Miß Nikkerson in drohendem Tone zu, dabei den Arm ihrer Freundin fassend, um diese von einer voreiligen Tat abzuhalten. »Wage es, Elender, uns anzufassen, und du bist eine Leiche!«
Der erst wie versteinerte Chinese wich rückwärts bis zur Tür zurück, die Augen mit entsetztem Ausdruck auf die Mädchen gerichtet, blieb dort stehen und klatschte dann dreimal in die Hände. Sofort stürzten hinter seinem Rücken mehrere eingeborene Diener hervor und ins Zimmer auf die Mädchen zu. Jetzt wuchs auch wieder der Mut des Chinesen.
»Fangt sie, die Kanaillen,« kreischte er. »Sie wollen beißen, die Katzen; hahaha, ich will sie schon zahm machen. Wartet nur, ihr sollt schon durch Hunger kuriert werden, gute Kost schlägt bei euch nicht an. So fangt sie doch, ihr Kaninchen, oder ich lasse euch zum Hofe hinauspeitschen.«
Der letzte Ausdruck galt den Chinesen, welche wohl auf die Mädchen losgesprungen waren, aber wie Hunde vor Katzen plötzlich stehen blieben.
»Der erste, der uns anfaßt, ist eine Leiche,« hatte das Mädchen gerufen, und hatten jene die englischen Worte auch nicht verstanden, die erhobenen Dolche und die blitzenden Augen gaben den Sinn getreu wieder.
Plötzlich entstand unten im Hof ein heftiger Lärm, mitten in der Nacht, ein Wagen war angerollt gekommen, Stimmen erschollen, Fragen und Antworten wechselten, dann fluchte ein Mann, und dann wieder erscholl das silberhelle Lachen einer Mädchenstimme.
Schon beim ersten Klang dieser Männerstimme wurde die Aufmerksamkeit der Bedrohten geteilt zwischen dem Chinesen und dem Vorgang da draußen, als aber das Lachen der Mädchenstimme in ihr Ohr drang, da stürzten sie beide gleichzeitig ans Fenster – die Rettung war nahe.
Im selben Moment aber, ehe sie noch einen Hilfeschrei hatten ausstoßen können, wurden sie von hinten erfaßt, ihnen die Dolche aus den Händen gewunden, sie zu Boden gerissen und ihnen der Mund verstopft.
»Schao-tschin, Schao-tschin,« rief jemand die Treppe hinauf, ein Chinese sprang ins Zimmer, die Mädchen sahen noch, wie der Hausherr sehr bestürzt wurde, als der Diener ihm etwas auf chinesisch mitteilte, sie hörten ihn heftig antworten, ihn an diejenigen, welche sie hielten, Befehle erteilen, dann verließ er das Zimmer. Ihm nach wurden die Mädchen geschleppt. – – – – – –
Auf derselben Landstraße, welche gestern der Wagen mit den geraubten Mädchen zurückgelegt hatte, rollte am Abend ein anderes, leichtes Gefährt.
Die zwei kleinen, häßlichen, aber flinken, chinesischen Ponys wurden von einem nach Matrosenart gekleideten Manne angetrieben, und seine beiden Gefährten machten ebenfalls den Eindruck von Seeleuten. Es war nichts Auffälliges, drei solche Personen selbst die Zügel führen zu sehen, im Auslande kann man dies in den Küstengegenden oft beobachten.
Es ist eine Eigentümlichkeit der Seeleute, daß sie eine Vorliebe für Wagenfahrten und Reiten haben. Können sie im fremden Hafen Geld erheben, oder werden sie gar abbezahlt, so kann man sie sicher, ist Gelegenheit dazu vorhanden, bald in der Stadt herumkutschieren oder hoch zu Roß oder Esel durch die Straßen reiten sehen, dabei allerdings eine sehr unvorteilhafte Rolle spielend. Selbst tagelange Partieen ins Innere des Landes hinein werden häufig von ganzen Schiffsbesatzungen unternommen, besonders der deutsche Seemann zeichnet sich hierin aus.
Also war es auch von Nick Sharp nicht unklug gewesen, als er für sich und seine Gefährten den Anzug von Seeleuten gewählt hatte, als solche konnten sie bedeutend ungenierter auftreten, und der Detektiv betrachtete die ganze Affäre mehr als ein Vergnügen, welches er den beiden jungen Leuten bereiten wollte, denn als ein gefahrvolles Unternehmen.
Er hatte schon vor einiger Zeit Instruktionen erteilt, wie sich die beiden anderen verhalten sollten, nämlich meistenteils immer seinem Beispiele folgen, das tun, was er tat, das essen, was er aß und so weiter, und im übrigen nur recht dreist auftreten, wozu er eigentlich weder Hannes noch Hope zu ermahnen nötig hatte.
Je mehr sie sich der Villa näherten, welche in früheren Jahren Marys Delight, Mariens Lust, genannt wurde, desto heiterer wurden die drei, sie konnten gar nicht erwarten, daß sie dort eintrafen und die Komödie, anfing, wie Sharp scherzend das Unternehmen genannt hatte.
Es war nur zu befürchten, daß Schao-tschin, der Besitzer der Villa, die geraubten Mädchen nicht bei sich hatte, sondern irgendwo anders versteckt hielt, vielleicht weit entfernt, so daß noch Tage vergehen konnten, ehe sie ihre Freiheit wieder erhielten. Denn gewiß hofften die beiden Mädchen sehnlichst auf das Herbeieilen ihrer Freundinnen, sie hatten ja keine Ahnung, daß diese auf eine ganz falsche Spur geleitet worden waren.
»Aber wie wollen Sie sich mit dem Chinesen verständigen?« fragte Hannes den Detektiven.
»Schao-tschin spricht vollkommen englisch.«
»Und wenn er nun nicht da ist und die anderen Chinesen kein Englisch sprechen?«
»Geld und Hiebe sind meine Dolmetscher,« entgegnete der Detektiv, »mit denen kann ich mich in der ganzen Welt verständlich machen.«
Nick Sharp war heute ausgezeichnet gestimmt, er erzählte fortwährend aus seinem bewegten Leben Anekdoten und Schwänke, welche man für erfunden gehalten hätte, wenn man nicht die Person des Detektiven selbst kannte und wußte, daß er zu dergleichen gefahrvollen Unternehmungen, denen er immer eine humoristische Seite abzugewinnen wußte, wirklich der geeignete Mann war.
Die jungen Leute kamen aus dem Lachen gar nicht heraus; selbst die Pferde schienen von der allgemeinen Fröhlichkeit angesteckt worden zu sein, sie schüttelten lustig die flatternden Mähnen, als zweifelten sie doch manchmal an der Wahrheitsliebe des Erzählers, wieherten wie lachend auf, ließen aber in ihrem schnellen Lauf niemals nach.
Da tauchte vor ihnen ein Haus auf, in dem einige Fenster hell erleuchtet waren.
»Villa Marys Delight,« sagte der Rosselenker und deutete mit der Peitsche nach dem Gebäude, »die Lage ist für uns eine sehr günstige, weit und breit ist kein anderes Haus zu sehen. Abweisen lassen wir uns also auf keinen Fall.«
»Was hätten Sie getan, wenn mehrere Häuser zusammengestanden hätten?« fragte Hope.
»Dann hätte dicht vor dieser Villa ein Rad des Wagens abgehen müssen, oder sonst etwas hätte unsere Weiterfahrt unterbrochen. So aber ist dies nicht nötig.«
Der Weg, bis jetzt auf die Villa zuführend, machte eine starke Biegung, so daß auch der Detektiv, wie vordem schon die Damen getan, glaubte, er führe daran vorbei, und ohne weiteres Besinnen gab er den Pferden die Peitsche, ließ sie über den kleinen Graben setzen, so daß der Wagen hoch emporgeschleudert wurde, und lenkte sie mitten über das Mohnfeld hinweg, welches die Villa umgab.
»Der alte Sünder scheint seinen Opium selbst zu bereiten,« meinte Sharp, »er züchtet Mohnblumen.«
Opium wird aus dem Samen der Mohnblume gewonnen, deren Kultur besonders in Indien und China betrieben wird.
Der Wagen hielt vor dem eisernen Gittertor, welches den Hof der Villa abschloß.
»Halloh!« rief Sharp in den völlig verödeten Hof hinein. »Aufgemacht!«
Einige Hunde schlugen an, ein Chinese kam herbei, aber nicht bis an das Tor, und sagte etwas in seiner Sprache, er fragte wahrscheinlich nach dem Begehr der späten Besucher.
»Tschau-tschou-tschu-tchori,« rief Sharp, »ich kann von deinem Geplapper nichts verstehen. Mach auf, oder wir öffnen die Tür selbst!«
Er sprang vom Wagen herab, warf die Zügel Hannes zu und trat an das Tor, welches er so kräftig rüttelte, daß es in allen Angeln krachte.
Der Chinese lief, über diese Barschheit erschrocken, ins Haus zurück, und bald darauf erschien ein anderer, ein großer, breitschultriger Mann, der in der einen Hand eine Laterne trug, mit der anderen einen mächtigen Bluthund an der Leine führte.
»Was wünschen Sie?« fragte er auf englisch den Detektiven, dicht vor dem Tore stehen bleibend und die Störenfriede mit finsterem Gesicht musternd.
»Einlaß wollen wir,« antwortete der Detektiv, »wir haben uns verirrt und können den Weg nicht wiederfinden.«
»Dieses Haus ist keine Herberge,« gab der Chinese zornig zurück, »wir können Sie nicht aufnehmen.«
»Was, Herberge! Wir haben uns verirrt, sind müde, die Pferde auch, und bitten, diese Nacht hierbleiben zu dürfen.«
»Es geht nicht. Fahrt dort die Landstraße weiter! In einer halben Stunde kommt ihr in ein Dorf, dort findet ihr Nachtquartier und Stallung für die Pferde.«
»Teufel noch einmal, Mann,« brauste Sharp auf, »Sie werden uns als Fremden nicht zumuten, in dieser Nacht, wo keine Lampe am Himmel steht, weiterzufahren. Wir sind froh, endlich ein Haus gefunden zu haben, wir irren schon drei Stunden umher. Mach' auf, wir bezahlen alles, was wir verzehren, und auf ein Trinkgeld kommt es uns auch nicht an.«
»Der Herr ist nicht zu Hause, ich kann euch wahrhaftig nicht einlassen,« entschuldigte sich der Chinese.
»Um so eher könnt ihr uns einlassen. Aber nun, potz Klüver und Bramsegel, das Warten habe ich satt. Oeffnet das Tor, oder ich trete es ein.«
Der Detektiv faßte wieder das Gitter, als wollte er es aus den Angeln heben. Da sprang der Bluthund gegen die Tür auf den Detektiven zu, kam aber an den unrechten Mann, wie sein furchtbares Schmerzgeheul sofort bewies.
Im Nu hatte Sharp des Hundes Pfote erfaßt, sie durch die eisernen Stäbe zu sich herangezogen und drückte sie so, daß das Tier vor Schmerz heulte und winselte, ohne dem Manne selbst etwas tun zu können.
»Laßt den Hund los,« rief der Chinese in drohendem Tone und sprang selbst nach dem Gitter, aber im nächsten Augenblick schrie er genau so, wie der Hund heulte.
Sharp hatte die Hand des Mannes, mit der er den Hund befreien wollte, gleichfalls ergriffen und quetschte sie wie in einem Schraubstock zusammen, sie dabei so weit herausziehend, daß der Chinese mit der halben Schulter durch das Gitter kam.
»Ihr singt ja ein liebliches Duett,« lachte Sharp, ohne im Drucke nachzulassen. »Wartet, ich will euch lehren, auf einen Jankeematrosen erst den Hund zu hetzen und ihn dann noch grob anzufahren.«
»Lassen Sie mich los!« jammerte der Chinese und ließ die Laterne fallen. »Ich halte es nicht mehr aus.«
»Wollt Ihr den Herrn benachrichtigen?«
»Ja, ja, er soll gleich kommen,« Sharp ließ ihn, wie den Hund fahren, kaum aber war der Chinese frei, so raffte er die Laterne auf, schloß mit einem Schlüssel das Tor auf und wollte den Bluthund auf den frechen Eindringling hetzen.
Sharp wich nicht zurück, er trat vielmehr dem Tiere selbst entgegen und fixierte es scharf, dabei den Fuß zwischen die Tür setzend; der Hund wollte erst an ihm emporspringen, um ihn an der Kehle zu fassen, kaum aber begegnete sein Blick dem starren und in der Dunkelheit glühenden Auge des Detektiven, so stieß er ein klägliches Geheul aus und floh mit eingekniffenem Schwanze in das Haus zurück.
»Danke!« lachte Sharp und stieß das Tor mit einem Ruck auf, so daß der davon getroffene Chinese zurücktaumelte. »Ihr hättet Euch nicht so lange nötigen lassen sollen. Der Weg ist frei, Hannes, fahre herein!«
Auch der Chinese eilte jetzt ins Haus und schlug Lärm, die Diener waren alle noch wach, eilten zusammen und schrieen, und dann wurde mehrere Male der Name Schao-tschin gerufen.
»Siehst du, der Kerl hat gelogen,« flüsterte der Detektiv Hannes ins Ohr, »dieser Schao-tschin ist wohl zu Hause, und es ist anzunehmen, daß sich die beiden von ihm gekauften Mädchen hier befinden.«
Nicht lange dauerte es, so kam ein kleiner, dicker Chinese herausgelaufen, der Hausherr selbst, zur Vorsicht von einer großen Anzahl von Dienern umgeben. Er schien über den späten und zudringlichen Besuch sehr erbost, wie er überhaupt sein früheres, gutmütiges Wesen ganz abgelegt hatte. Seine Augen funkelten jetzt vor Wut, weil ihn diese Fremden in der Ausführung seines Vorhabens störten.
»Was wollt ihr?« fragte er zornig den Detektiven, der schon die Pferde abzuschirren begann. »Meine Villa ist kein Gasthaus, packt euch fort von hier, oder ich hetze euch mit Hunden hinaus! Verstanden?«
Sharp lachte laut auf, als er den kleinen, wie ein Puterhahn kollernden Chinesen betrachtete.
»Versucht es doch,« entgegnete er, noch immer lachend, »einmal ist der Versuch schon mißglückt! Und was wir wollen? Schlafen, Essen und Trinken für uns und Stallung für unsere Pferde. Wir bezahlen alles, darum braucht Ihr keine Sorge zu haben, Mister Tschin tschin-tschin terätäta.«
Die beiden jungen Leute mußten laut auflachen über das Chinesisch, welches Sharp sprach, doch dieses Gelächter reizte nur noch mehr den Zorn des kleinen Chinesen.
»Packt euch vom Hofe,« schrie er, »ich rate es euch noch einmal im guten.«
»Versucht doch etwas dagegen zu tun, daß ich hier die Pferde ausspanne und sie in den Stall führe. Hier, Bengel,« Sharp fiel aus seinem erst gemütlichen Tone plötzlich in einen groben und gab einem jungen Chinesen einen Schlag in den Nacken, daß er fast zu Boden stürzte, »steh' nicht da und halte Maulaffen feil! Greif' mit an, daß wir bald unter Dach und Fach kommen. Wir sind alle wie zerschlagen vom langen Fahren, Seeleute können das nicht lange aushalten.«
Schao-tschin wußte nicht, was er sagen sollte. Er sah kein Mittel, die unliebsamen Gäste von sich fernzuhalten. Die Hunde rissen vor ihnen aus, seine eigenen Diener schlugen sie und taten überhaupt, als wären sie hier Herren im Hause.
Die Begleiter Sharps waren schon vom Wagen herabgesprungen und halfen dem ersten Matrosen, die Pferde abzuschirren, brachten diese nach dem Stall und schoben dann auch den Wagen noch in eine leere Remise.
»Na, Mister Soundso,« sagte Sharp, als er zurückkam, und schlug dem kleinen Chinesen freundlich auf die Schulter, »nun gebt uns ein gutes Bett, etwas zu essen und ein paar Flaschen Wein oder einige Gläser Whisky. Braucht keine Angst zu haben, daß wir nicht bezahlen können, wir haben alle noch die ganze Tasche voll Silber, sieh her.«
Damit holte er eine Handvoll Silbermünzen hervor.
Schao-tschin hielt es für das beste, nachzugeben. Er hielt die Leute für ungefährlich. »Was seid ihr denn?« fragte er.
»Wir zwei sind Matrosen; der Kleine dort,« er deutete auf Hope, »ist unser Schiffsjunge.«
»Woher kommt ihr?«
Sharp nannte einen von Scha-tou ziemlich entfernt gelegenen, kleinen Hafen, damit der Chinese keinen Argwohn schöpfte.
»Wir wollten heute einen Wagenausflug unternehmen, haben uns aber tüchtig verfahren, sind einige Stunden umhergeirrt und waren herzlich froh, endlich dieses Haus zu finden. Deshalb könnt ihr es nicht übelnehmen, wenn ich etwas ungehalten darüber war, als mir vorhin der Torwächter den Eingang verweigerte; aber ich sehe, du bist ein Gentleman, der keine Verirrten von seiner Tür weist.«
Schao-tschin fühlte sich geschmeichelt, ein Gentleman genannt zu werden, sein erster Zorn hatte sich bald gelegt, und die gewöhnliche zudringliche Gutmütigkeit gewann die Oberhand. Das waren zwar grobe, aber sonst ganz ungefährliche Menschen, dachte er, die konnte er schon für eine Nacht beherbergen.
»So kommt mit ins Haus,« sagte er. »Ihr sollt nicht sagen, daß Schao-tschin ungastlich gegen euch gewesen ist. Ihr bekommt ein Zimmer, Essen und Trinken dazu, und zu bezahlen braucht Ihr auch nichts dafür. Ich bin reich, sehr reich, ihr sollt euch wundern, was ihr bei mir alles bekommt.«
Schmunzelnd führte er seine Gäste in ein Zimmer, welches wahrscheinlich erst kurz vorher von Dienern geräumt worden war, und sagte ihnen, gleich würde eine Mahlzeit und Wein aufgetragen werden. Dann verließ er sie.
Kaum war er hinaus, so rückte der Detektiv näher an seine beiden Begleiter heran und begann sich mit ihnen laut über allgemeine Dinge, das Haus betreffend, zu unterhalten, richtete es aber so ein, daß, während einer von ihnen auf seinen Wink laut sprechen mußte, er sich mit dem anderen flüsternd unterhielt.
»Die beiden Damen sind hier, daran ist kein Zweifel,« flüsterte Sharp Hope zu, »sonst hätte man sich nicht so gesträubt, uns aufzunehmen. Der Pförtner würde uns auf jeden Fall eingelassen haben, natürlich auf eigene Rechnung, um etwas dabei zu verdienen, weil er aber von dem geheimen Besuch seines Herrn wußte, durfte er das nicht tun.«
»Wie können wir nun die Damen befreien?« flüsterte Hope zurück.
»Jedenfalls sind sie irgendwo versteckt, und es gilt nun, diesen Winkel aufzuspüren.«
»Werden wir nicht mit Gewalt daran verhindert werden?«
Der Detektiv schnippte mit dem Finger.
»Daraus mache ich mir so viel,« sagte er verächtlich, »aber wir werden das Versteck nicht gleich finden, und während wir suchen – zusammen müssen wir uns dabei natürlich halten – werden die Damen wo anders hingeschleppt, vielleicht sogar aus dem Hause heraus, und wir haben das Nachsehen. Jetzt dagegen sind sie nur ganz flüchtig versteckt worden, der Chinese mißtraut uns nicht im geringsten, und so ist anzunehmen, daß er auch keine weiteren Sicherheitsmaßregeln trifft, um sich seine Geliebten nicht wieder nehmen zu lassen.«
»Aber wenn wir uns hier einschließen lassen, können wir auch nicht viel ausrichten.«
»Einschließen lassen gibt es bei mir überhaupt nicht. Doch, laßt nur, Kinder, ich habe schon einen Plan.«
Er wurde unterbrochen; ein Diener kam ins Zimmer und brachte den drei Gästen, welche sich auf Teppiche im Zimmer gelegt hatten – Tische und Stühle fehlten in diesem Bedientenzimmer – Abendbrot und eine Flasche Wein.
Als der Chinese wieder hinaus war, öffnete der Detektiv die Deckel der Schüsseln und kostete das Essen, zum größten Teil aus verschieden zubereitetem Reis bestehend, ohne etwas Verdächtiges daran zu bemerken.
Dieser Mann war daran gewöhnt, nicht die kleinste Auffälligkeit sich entgehen zu lassen, er beobachtete, durch seinen Beruf überhaupt schon mißtrauisch gemacht, alles, und so war es ihm nicht entgangen, daß der ihn empfangende Schao-tschin berauscht war.
Er wußte auch sofort, daß derselbe Opium eingenommen hatte, die glänzenden Augen verrieten es; wäre er durch Trinken von Spirituosen berauscht geworden, so wären die Augen gläsern und weniger lebhaft gewesen.
Also Vorsicht, dachte Sharp, Schao-tschin ist dem Opium ergeben, und es ist eine Leidenschaft aller Opiumsüchtigen, auch anderen dieses Mittel heimlich einzugeben, wie überhaupt fast jeder sittlich gefallene Mensch versucht, möglichst viele in das Laster hineinzuziehen.
Sharp goß aus der Flasche sein Weinglas voll, beroch aufmerksam die dunkelgelbe Flüssigkeit, und ein zufriedenes Lächeln huschte über seine Züge.
»Stimmt,« murmelte er vergnügt, »Opium ist es zwar nicht, aber ein sehr starkes Schlafmittel, was uns der Spitzbube da hineingemischt hat. Er muß also doch ein böses Gewissen haben, daß er uns in den Schlaf zu wiegen wünscht.«
Sharp blickte sich im Zimmer um.
Auf einem Sims standen verschiedene Vasen mit Blumen und noch einige Bedürfnisse für die Diener, so zum Beispiel eine gefüllte Wasserflasche.
Der Detektiv nahm eine Vase herab, goß den ganzen Inhalt der Weinflasche hinein und spülte sie mit Wasser noch gut nach. Dann nahm er aus einer Seitentasche eine große, aber platte Flasche, welche wohl einen halben Liter enthielt und ließ aus ihr in die geleerte Weinflasche eine dunkle Flüssigkeit laufen, die er mit Wasser stark verdünnte.
»So,« murmelte er, »da haben wir doch wenigstens etwas zu trinken, guten Jamaika-Rum und Wasser.«
Er stellte die Blumen in die Vase und alles wieder an Ort und Stelle.
»Die Diener werden sich beim Aufräumen nicht schlecht wundern, wenn sie dieses seltsame Blumenwasser bemerken,« kicherte Hope.
»Kommen sie hinter den Geschmack, dann trinken sie es sicher aus,« bemerkte Hannes.
»Und fallen dann in einen so tiefen Schlaf,« ergänzte der Detektiv, »daß alle Peitschenhiebe sie nicht zum Bewußtsein bringen können.«
Das Abendbrot verlief völlig schweigsam, die beiden jungen Leute versuchten zwar nochmals, an den Detektiven Fragen zu stellen, aber dieser war so sehr mit seinen Gedanken beschäftigt, daß er sie gar nicht beachtete und keine Antwort erteilte. Schließlich verbot er ihnen sogar, ihn vorderhand mit Fragen zu belästigen.
Plötzlich hob er den Kopf und horchte.
»Pst,« flüsterte er, »legt euch schnell bequem hin, es kommt jemand. Stellt euch schlafend!«
Sofort ließ er sich so, wie er eben saß, umfallen, und die anderen folgten seinem Beispiel. Es galt, den Eintretenden davon zu überzeugen, daß das Schlafmittel seine Wirkung getan, und sie völlig besinnungslos waren.
Schao-tschin wollte sich nach dem Befinden seiner Gäste erkundigen. Ein hämisches Grinsen verzerrte sein Gesicht – Nick Sharp konnte es recht gut durch die zugekniffenen Augen bemerken – er murmelte einige chinesische Worte, stieß den ihm zunächst liegenden Hannes einige Male mit dem Fuße in die Seite, sogar sehr derb, ohne daß sich aber der Matrose gerührt hätte, und sagte dann wieder ein paar Worte, die übersetzt etwa soviel wie ›Schweine‹ bedeutet hätten.
Dann löschte er die von der Decke herabhängende Lampe aus und schloß von draußen die Tür hinter sich zu. Man hörte, wie er sich entfernte und zwei Treppen emporstieg, wenn letzteres auch nur für das Ohr des Detektiven vernehmbar war.
»Die Fußtritte sollst du wiederbekommen, verdammter Hund, so wahr ich Hannes Vogel heiße,« knirschte der Matrose durch die Zähne.
»Und Schweinigel hat er uns auch genannt,« meinte Sharp, »ich kenne das Wort. Na warte, alter Junge, du sollst unsere Stiefeln noch zu fühlen bekommen!«
Er stand auf, ging an die Tür und beschäftigte sich dort eine Sekunde mit dem Schloß.
»So, die Tür ist wieder auf,« sagte er dann, »nun aufgepaßt, was weiter folgt. Ich will ein Narr sein, wenn wir nicht in der nächsten Stunde den Aufenthalt der beiden Damen erfahren und sie aus den Händen dieses Chinesen befreit haben.«
Er wollte nach dem Fenster schleichen, um sich über die Lage des Zimmers zu orientieren, aber in der Mitte blieb er wie angewurzelt stehen, während Hope und Hannes erschrocken aufgesprungen waren.
Ein langgezogener Schrei gellte durch das Haus, der dumpf abbrach, als wäre dem Rufer der Mund verstopft oder zugehalten worden, da – noch einmal.
»Hope Staun-« gellte es wieder.
Es bedurfte keiner Aufforderung des Detektiven, mit einem Sprunge waren die beiden auf und stürzten Sharp nach, der hinaus und die Treppen hinaufstürmte, so schnell, daß sie ihm kaum folgen konnten.
Es war fast, als wüßte der Detektiv in diesem Hause Bescheid, so jagte er durch die Korridore, bog um Ecken und sprang dann wieder einige Stufen hinaus, aber es war nur ein Murmeln und Stöhnen, welches ihn leitete und ihn schließlich in den Türrahmen einer kleinen Kammer brachte.
Er übersah mit einem Blick, was hier vorging, ebenso Hope und Hannes. Sie selbst waren von den etwa acht Chinesen, welche die Kammer füllten, noch nicht gesehen worden. Unter ihnen befand sich auch Schao-tschin.
Auf einer Matratze lagen Miß Nikkerson und Miß Sargent, und rangen verzweifelt gegen die Kraft der Chinesen, welche sie zu binden suchten. Bei ersterer war es schon ziemlich gelungen, den Mund hielt man ihr zu, während letztere noch mit den zwei Chinesen rang, die sie überwältigen und binden wollten.
Schao-tschin selbst stand daneben und trieb die Leute an, sich zu beeilen. Der von Blut gerötete Dolch, den er in der Hand hielt, verriet ihnen, daß eines dieser Mädchen diese Waffe mit Erfolg angewendet hatte – wahrscheinlich hatte sie ihn einem der Männer aus dem Gürtel gerissen – denn einer der Chinesen lag röchelnd am Boden und wurde von einem anderen verbunden. Der Dolch hatte die rechte Brust getroffen.
Fast war auch schon Miß Sargent gebunden, des kleinen Chinesen Gesicht glühte dunkelrot, seine Augen funkelten vor Begierde, sein Atem rang sich stoßweise aus dem halbgeöffneten Mund; er wollte eben die beiden Diener fortdrängen, als diese plötzlich von hinten im Genick gepackt und ihre Köpfe mit fürchterlicher Gewalt zusammengeschmettert wurden. Bewußtlos, mit breitgeschlagenen Gesichtern, fielen sie auf den Boden.
Erschrocken drehte sich Schao-tschin um und fuhr, schreiend vor Wut, zurück – vor ihm standen die Matrosen, welche er im tiefsten Schlafe wähnte.
»Das sollst du büßen,« knirschte Sharp, die Hand nach ihm ausstreckend; »Hannes, an die Tür! Keiner verläßt lebendig dieses Zimmer.«
Hope war unterdessen zu ihren Freundinnen gesprungen, einige Schnitte mit dem Messer, und sie waren frei. Weinend lagen sie dem jungen Matrosen, den sie an der Stimme sofort als Hope erkannt hatten, im Arme.
Schao-tschin wand sich unter den eisernen Fäusten des Detektiven wie ein Aal; es half ihm nichts, in einer Sekunde lag er an der Erde und die übrigen, feigen Chinesen waren unterdes von Hannes mit dem Revolver in Schach gehalten worden, aber sie konnten nicht daran gehindert werden, laute Hilferufe und Pfiffe auszustoßen.
In kurzem war das ganze Haus alarmiert, von allen Seiten kamen die Chinesen herbeigeeilt, eiserne Stangen, Stücke, Messer und andere Waffen in der Hand, um ihren Herrn und ihre Kameraden aus den Händen dieser fremden Gäste zu befreien, über deren keckes Auftreten sie sich schon geärgert hatten.
»So ist es recht!« rief Sharp. »Trommelt das ganze Haus zusammen, damit man einmal alle Halunken beisammen hat! Halt,« rief er, als sie in das Zimmer eindringen wollten, »der erste, der den Fuß über die Schwelle setzt, hat meine Kugel im Kopf.«
Er hielt ihnen den Revolver entgegen, ein Zeichen, welches nicht mißzudeuten war. Dennoch wollte ein großer, herkulisch gebauter Mann mit einem Brecheisen auf ihn eindringen, doch Sharp verstand keinen Spaß. Der Schuß krachte, das Eisen fiel klirrend zu Boden, und lautlos sank der Mann in die Arme seiner Kameraden – die Kugel hatte ihm das Gehirn durchbohrt.
Entsetzt wichen die feigen Chinesen zurück. Diese Matrosen zögerten nicht lange, von ihren Waffen Gebrauch zu machen, und das Leben war doch zu kostbar, um es wegen der Mädchen aufs Spiel zu setzen, welche ihr Herr und Gebieter gern besitzen wollte.
Einer nach dem anderen entfernte sich, nur einige blieben draußen in dem dunklen Gange stehen und beobachteten, was das Schicksal ihres Herrn sein würde. Das Fluchen und Schelten des kleinen Chinesen folgte den mutlosen Ausreißern, aber es brachte keinen zurück.
Jetzt ging der Detektiv daran, auch die anderen im Zimmer befindlichen Chinesen zu binden, und diese ließen es sich ruhig gefallen, denn der Revolver von Hannes war beständig auf sie gerichtet, und sie hatten gemerkt, wie lose die Finger dieser Leute am Drücker ruhten – um den stöhnenden Verwundeten kümmerten sie sich nicht weiter, er hatte die gerechte Strafe empfangen. Mitleid war er, Sharps Ansicht nach, nicht wert.
»Nun zu dir, Scheusal!« wandte er sich an Schao-tschin. »Welche Strafe ziehst du vor? Soll ich dich der Justiz ausliefern, oder willst du, daß ich meine eigene Gerechtigkeit walten lasse? Sprich!«
Der Chinese sah sich verloren. Lieferten ihn diese Männer dem Gericht aus und traten Zeugen gegen ihn auf, die beiden Mädchen gar nicht gerechnet, so würde er ohne Gnade gehängt. Die Engländer hätten unbedingt darauf bestanden, ja, er wäre sogar unter Aufsicht des englischen Konsulats gekommen, damit seine Flucht durch Unterstützung von chinesischer Seite verhindert worden wäre.
Uebergab er sich diesem, sich als Richter aufwerfenden Matrosen, so empfing er allenfalls eine ordentliche Tracht Prügel – er kannte schon ungefähr die Sitte der europäischen Seeleute – dann aber war er frei. Die Damen würden natürlich sofort Anzeige machen, ehe sie aber unter dem Schutze der Matrosen die nächste Stadt erreichten, dann war er schon mit seinem schnell zusammengerafften Gelde über alle Berge.
Aber erst wollte er doch den Versuch machen, ob er diese Matrosen nicht durch herrisches Wesen einschüchtern konnte. Wahrscheinlich hatte das Schlafmittel bei den an starke Spirituosen gewöhnten Menschen zwar seine Wirkung verfehlt, sie aber sehr betrunken gemacht.
»Was fällt euch ein, mich in meinem eigenen Hause auf solche Weise zu behandeln?« fuhr er den Detektiven an. »Gebt mich frei, oder ihr werdet es zu bereuen haben.«
»Oho,« lachte Sharp, »aus diesem Loche willst du also pfeifen? Warte, alter Bursche, jetzt will ich einmal ein paar Fragen an dich richten! Wie kommst du dazu, diese beiden Damen zu binden?«
»Dies für deine Lüge,« und Sharp ohrfeigte den laut aufheulenden Chinesen links und rechts, aber anders, als es gestern um dieselbe Zeit Miß Sargent getan hatte.
»Geraubt hast du sie, nichtswürdiger Patron, überwältigen lassen wolltest du sie. Doch dein Maß ist voll, du bist nicht wert, daß dich die Sonne bescheint.«
»Ihr kommt gerade zur rechten Zeit,« flüsterte Miß Nikkerson Hope zu, »eine Minute später, und dieser Mann hätte uns entehrt.«
»Hörst du es, du Schurke,« rief der Detektiv, welcher die Worte verstanden hatte, »ich werde dir einen Vorschlag machen. Wir bringen dich für heute abend in Sicherheit, du schläfst in meinem Zimmer, und beim ersten Versuch, den du machst, zu entfliehen oder deine Leute gegen uns zu deiner Befreiung aufzufordern, schlage ich dich so lange, bis mir der Arm lahm wird, und das dauert bei mir etwas lange. Dasselbe gilt, wenn einem meiner Gefährten oder einer der Damen etwas Unrechtes geschieht, wenn ihnen nur ein Haar gekrümmt wird. Verstanden?«
»Ihr werdet es zu verantworten haben,« stöhnte Schao-tschin, der seine Lage noch gar nicht begreifen konnte.
»Meine Verantwortung habe ich in der Tasche, darum kümmere dich nicht. Ich werde dir zeigen, ob ein Kriminalbeamter das Recht hat oder nicht, einen Mädchenräuber dem Gericht auszuliefern. Komm, Schatz, wir wollen uns das beste Zimmer aussuchen und schlafen gehen! Gib deinen Leuten nur strengen Befehl, uns ja nicht etwa ermorden, betäuben oder vergiften zu wollen; der erste, der darunter zu leiden hat, bist du.«
Er nahm den Chinesen über die Schulter, warf noch einen nachdenkenden Blick auf die sechs gebundenen Chinesen und sagte dann:
»Diese mögen hier bleiben und sich von ihren Kameraden befreien lassen, es sind mir zu viele. Sollte jeder Spitzbube in China gefangen werden, dann würde das Land bald entvölkert sein. Kommen Sie, meine Damen, wir wollen uns die Schlafzimmer selbst aussuchen und uns zur Ruhe begeben.«
Er schritt voran, von den anderen gefolgt, und bald hatte er zwei nebeneinanderliegende Zimmer gewählt, in denen sie sich Schlafplätze zurechtmachten. In das eine gingen Sharp und Hannes, den Chinesen mit sich nehmend, in das andere schlossen sich die beiden Damen und Hope ein, nachdem sie von dem Detektiven ausdrücklich ermahnt worden waren, weder Essen, noch Trinken zu sich zu nehmen und bei der geringfügigsten Sache, die ihren Argwohn errege, sofort an die Seitentür zu pochen.
Am frühesten Morgen wollten sie alle zusammen nach der nächsten Bahnstation fahren, den Chinesen mit sich nach Scha-tou nehmen und ihn dort der Behörde zur Bestrafung ausliefern.
Auf die Frage, wo sich jetzt der ›Amor‹ und die ›Vesta‹ befänden, teilte Hope ihren Freundinnen mit, was sie selbst wußte, und sprach die Vermutung aus, daß wahrscheinlich beide Schiffe schon wieder im Hafen liegen würden.
Ueberglücklich von diesem Abenteuer, das sie beinahe mehr noch als das Leben gekostet hätte, mit heiler Haut davongekommen zu sein, legten sich die beiden Mädchen zum Schlafen nieder, vorher noch ein heißes Dankgebet zum Himmel aufsendend.