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John Davids stand an Deck des ›Amor‹ und ließ unter seiner Aufsicht von den mitgenommenen Arbeitern die Masten scheuern. Es war ein heißer Nachmittag, so daß alle übrigen Herren sich im gutventilierten Salon des Zwischendecks befanden und sich dort mit Plaudern, Spielen, Lesen und Schreiben die Zeit vertrieben.
Bekanntlich war Davids zum zweiten Steuermann ernannt worden, und da Lord Harrlington, wie auch der erste Steuermann, Lord Hastings, abwesend waren, so hatte er während dieser Zeit die Rolle des Kapitäns zu übernehmen.
John Davids war ein stiller, nüchterner Mensch, der einzige, der eigentlich zu der lebenslustigen Besatzung des ›Amor‹ gar nicht passen wollte, aber gerade wegen dieser Eigenschaft erfreute er sich unter den Herren einer besonderen Gunst. Er war der zweite Sohn eines Lords, konnte also nicht den Titel eines solchen führen, sondern nur den eines ›Honourable‹, und es wurde gesagt, daß er dem Schicksal darum grolle, weil er, der begabte und geistvolle Mann, später nicht die Würden seines Vaters erben könne, sondern sein älterer Bruder, ein oberflächlicher, charakterloser Mensch.
Wer ihn aber näher kannte, der wußte, daß Davids einer solchen Kleinlichkeit nicht fähig war, sondern, daß ihm diese ernste, aber nicht finstere Schweigsamkeit entweder angeboren war, oder daß sie ihren Grund in irgend etwas anderem, vielleicht in trüben Erfahrungen hatte. Wie schon gesagt, er paßte nicht zu den Herren, welche nur zu gern ihrem Uebermut die Zügel schießen ließen, wenn sie nicht Lord Harrlington in Schranken zu halten gewußt hätte, aber dennoch war Davids der erste gewesen, der seine Beistimmung zu der Weltreise gegeben und England verlassen hatte, ohne einen Blick nach der verschwindenden Insel zurückzusenden.
Die Lippen fest zusammengepreßt, die Hände auf den Rücken gelegt, wanderte er auf Deck hin und her, der heißen Sonnenstrahlen nicht achtend, und ließ nur manchmal einen der sechs Arbeiter, die sich in Schlingen befestigt hatten und am Mast hingen, tiefer hinab oder zog ihn höher hinauf, je nachdem ihm von oben zugerufen wurde.
Jedesmal, wenn ihn sein Gang an das Heck des ›Amor‹ führte, blieb er für eine Minute stehen und beobachtete die in einiger Entfernung liegende ›Vesta‹, auf welcher ähnliche Reinigungsarbeiten von den amerikanischen Mädchen selbst ausgeführt werden mußten, sie kletterten unablässig in der Takelage herum, und er konnte sogar die Wassereimer sehen, wenn sie in die Höhe gehißt wurden. Auf der ›Vesta‹ mußte es sehr lustig hergehen, denn ab und zu scholl ein fröhliches Lachen an das Ohr des Beobachters, und dann zogen sich stets dessen Brauen finster zusammen, er drehte sich kurz um und nahm seine schweigsame Wanderung wieder auf.
Als er einmal länger als sonst, in der Beobachtung der ›Vesta‹ versunken, am Heck gestanden hatte, hörte er plötzlich einen Schritt hinter sich, und wie er sich schnell umwandte, sah er einen Herrn auf sich zukommen. Er hatte gar nicht bemerkt, wie vom Quai aus ein Boot abgestoßen war und diesen Herrn auf den ›Amor‹ abgesetzt hatte.
»Mister Davids – Kapitän des ›Amor‹?« fragte der Mann im hellgrauen Anzug und lüftete, sich leicht verbeugend, den Strohhut.
Davids machte eine zustimmende Verbeugung.
»Mister Huxlay – Richard Huxlay,« stellte sich der Angekommene, ein schöner Mann, mittleren Alters, mit glänzend schwarzem Haar und großem Schnurrbarte, vor. »Verzeihen Sie mir die Freiheit, daß ich, ohne mich vorher angemeldet zu haben, an Bord komme; aber der Auftrag, den ich von einer ihnen befreundeten oder doch gut bekannten Dame auszurichten bekommen habe, drängte, und das entschuldigt mich.«
Davids deutete mit einer einladenden Bewegung nach dem Kartenhaus, welches inmitten an Deck jedes größeren Schiffes steht und zum Aufbewahrungsort der Karten und nötigsten Instrumente, wie auch als Sprechzimmer des Kapitäns dient.
Als beide Herren in demselben sich gegenüber Platz genommen und der fremde Herr einige Zeit vergebens gewartet hatte, daß Davids seinen Mund öffnen würde, begann er wieder:
»Ich hatte diese Nacht in Hughenden das Vergnügen, mit einigen Herren vom ›Amor‹ zusammenzutreffen, und zwar mit Lord Harrlington, Lord Hastings und Sir Williams – letzteren kannte ich übrigens schon von früher her – welche in Begleitung von einigen Damen nach Norden fuhren. In Hughenden hatten sie eine Stunde Aufenthalt, ich desgleichen, und stellen Sie sich mein Erstaunen vor, als ich in einer der Damen eine gute Bekannte, ich möchte fast sagen, Freundin, wiederfand. Es war Miß Petersen, welche eben auf dem Wege war, eine alte Jugendfreundin, Mistreß Turner, auf deren Farm Blackskin aufzusuchen.«
Der Herr hatte in leicht erzählendem Tone gesprochen, sich bequem in den Stuhl gelehnt, die Beine übereinander geschlagen und fixierte fortwährend scharf den ihm Gegenübersitzenden, der aber nicht den Blick von der Schere aufhob, mit der er nachdenkend auf dem Tische spielte.
»Hat Ihnen Miß Petersen vielleicht von dieser Freundin erzählt?« fragte der Herr lächelnd.
Davids schüttelte leicht den Kopf.
»Ich weiß nur, habe zufällig erfahren, daß Miß Petersen eine Freundin aufsuchen wollte, und jetzt fällt mir allerdings ein, daß deren Name Mistreß Turner war,« sagte er und hob zum ersten Male die Augen, den Fremden musternd.
»Nun, diese Freundin ist eine geborene Huxlay und war meine Cousine,« fuhr der Herr fort. »Dann haben Sie vielleicht auch gehört, daß ich vor etwa drei Jahren, als sich meine Cousine an Mister Turner verheiratete, mit ihr nach Australien zog und mein Vermögen mit in der Farm Blackskin anlegte?«
»Nein,« entgegnete Davids, »ich bin in diese Familienangelegenheiten vollkommen uneingeweiht.«
»Es wurde damals in Louisiana viel davon gesprochen, daß sich die Farmen in Australien besser rentierten, daß man besonders durch die Schafzucht ein reicher Mann werden könnte; ich sah mich damals nach einer Farm um und zog, als meine Cousine nach Australien reiste, mit dieser – doch,« unterbrach sich Huxlay, »dies alles interessiert Sie ja nicht. In Hughenden traf ich also Miß Petersen, welche oft auf der Plantage meines Vaters in Louisiana verkehrt hatte, um fröhliche Stunden mit meiner Cousine zu verbringen, und wie war ich überrascht, als ich erfuhr, daß ihre Reise unserer Farm Blackskin galt! Die Stunde der Wartezeit verging uns in heiteren Erinnerungen wie im Fluge, und erst in der letzten Minute besann sich Miß Petersen darauf, was eigentlich der Zweck ihrer Reise sei, und daß es ein glücklicher Zufall war, daß ich, dessen Heimat Blackskin ist und der nach Townville fuhr, ihr begegnete. Sie fragte mich, ob es uns möglich wäre, etwa achtundzwanzig Herren und fünfundzwanzig Damen für einige Tage auf Blackskin zu beherbergen, eventuell mit Pferden zu versehen, und war äußerst erfreut, als ich ihr sagte, die dreifache Zahl solch lieber Gäste, die sie uns zuführe, wären wir zu beherbergen in der Lage. Um es kurz zu machen, Mister Davids, Miß Petersen bat mich, an Bord des ›Amor‹, wie auf der ›Vesta‹ vorzusprechen, und die Herren und Damen zu einem Ausflug nach Blackskin einzuladen.«
Davids hatte dem Fremden aufmerksam zugehört und nichts gefunden, was etwa den Verdacht gegen eine Unwahrheit in ihm rege gemacht hätte. Er wußte, daß Miß Petersen allerdings nur darum nach Blackskin gereist war, um dort auszukundschaften, ob die Herren und ihre Freundinnen Unterkommen finden könnten. Wäre dies der Fall, so würde sie oder Lord Harrlington telegraphieren und sie zum Nachkommen auffordern.
Die Einladung kam zwar überraschend schnell, aber so, wie es dieser Herr erzählte, war alles möglich. Davids fand keinen Grund, dem Mister Huxlay zu mißtrauen. Derselbe war kein Engländer, er sprach das Englisch mit dem eigentümlichen Nasenton der Amerikaner, und leicht möglich war es, daß er der Cousin der Mistreß Turner und Mitbesitzer der Farm war. Davids hatte darüber weiter nichts erfahren.
»Haben Sie auch mit Lord Harrlington darüber gesprochen?« fragte er.
»Gewiß, der Lord bat mich, Ihnen zu sagen, Sie möchten sofort alle Herren dazu bewegen, sich der Tour anzuschließen! Die Farm Blackskin liegt idyllisch, ihre Umgebung wimmelt von Känguruhs, und so werden Sie Tage erleben, wie sie Ihrer Jagdlust nie wieder geboten werden.«
»Alle Herren sollen sich anschließen?« fragte Davids, ohne durch den Ausdruck des Tones ein plötzlich aufsteigendes Mißtrauen merken zu lassen.
»Lord Harrlingtons eigene Worte waren: ›Bitten Sie Mister Davids, darüber bestimmen zu wollen, ob er auf dem ›Amor‹ Herren zurücklassen will oder nicht; er ist jetzt Kapitän der Brigg, und ich will ihm daher keine Vorschriften machen.‹«
Davids Mißtrauen war verschwunden.
»Wie steht es mit der Fahrgelegenheit nach Blackskin?« fragte er.
»Als ich Ihnen vorhin sagte, daß ich die Gesellschaft in Hughenden traf, entsprach dies eigentlich nicht ganz der Wahrheit, denn es war nur eine Nebenstation dieser Stadt, Klein-Hughenden genannt, vier Stunden davon entfernt. Die Damen und Herren fuhren nicht über Hughenden, wo die Bahn endet, sondern stiegen auf dieser Nebenstation um. Allerdings ist dieser Weg bedeutend näher, als über Hughenden, aber der Zug, den sie benutzt haben, geht nur aller zwei Tage, wir könnten also erst morgen abend von hier abfahren, aber Miß Petersen hofft, daß Sie sofort nachkommen.«
»Und wie wäre dann der Weg?«
»Wir steigen auf der Station nicht um, sondern fahren vier Stunden weiter direkt bis nach Hughenden.«
»Und dann?«
»Dorthin werden uns Pferde von der Farm entgegengeschickt, mit denen wir dann Blackskin nur einige Stunden später erreichen, aber jedenfalls bedeutend eher, als wenn wir den anderen Weg einschlagen und bis morgen abend warten würden. Bitte, überzeugen Sie sich auf einer Karte!«
»So geht der Zug nach Hughenden jeden Tag?«
»Jeden Abend acht Uhr, aber von der Zwischenstation zweigt sich nur aller zwei Tage ein Zug nach Burketown ab.«
»Well, so werde ich Ihre freundliche Einladung annehmen und heute abend nach Blackskin abreisen,« sagte Davids, »verzeihen Sie mir, daß ich mich so genau erkundigte, aber –«
»Ich weiß,« unterbrach ihn Mister Huxlay lächelnd, »Miß Petersen hat mir schon einige ihrer Abenteuer erzählt, und Sie haben allerdings Grund, vorsichtig zu sein. Werden alle Herren bei der Partie sein?«
»Nein,« sagte Davids entschieden, »das Los wird über einige der Herren entscheiden, die zurückbleiben, wenn sich freiwillig niemand ausschließt.«
Huxlay zog eine bedauernde Miene.
»Das ist sehr schade.«
»Aber es geht nicht anders, der ›Amor‹ kann nicht nur unter Aufsicht der Heizer zurückbleiben. Und wie ist es mit der ›Vesta‹? Haben Sie für die Damen denselben Auftrag?«
»Allerdings und zwar wollte ich Sie ersuchen, meine Bitten durch die Ihren zu unterstützen, damit ich nicht soviel Zeit gebrauche, sie zu der Reise zu überreden,« sagte Huxlay lächelnd.
Auch Davids lächelte, als er erwiderte: »Ich glaube kaum, daß Sie bei den Damen viel Ueberredungskunst anzuwenden haben. An wen hat Sie Miß Petersen gewiesen?«
»An Miß Nikkerson, als die stellvertretende Kapitänin.«
Davids unterhielt sich noch einige Minuten mit dem Herrn und stellte ihn dann den übrigen Engländern vor. Nachdem Mister Huxlay ihnen einige Komplimente über den ›Amor‹ gesagt hatte, lenkte er das Gespräch auf etwas anderes.
»Und nun noch eins, meine Herren. Haben Sie schon einmal einer Känguruhjagd beigewohnt?«
Nur einer der Herren war schon einmal in Australien gewesen, hatte aber auch noch nicht Gelegenheit gehabt, einer solchen Jagd beizuwohnen.
»Es ist wegen der Waffen, Sie haben jedenfalls sehr schwere Gewehre mitgenommen?«
»Durchaus nicht,« entgegnete Davids, »wir haben allerdings großkalibrige Büchsen, aber auch leichte, lange Vogelflinten.«
»Ich dachte es mir. Zur Känguruhjagd können nur kleinkalibrige und sehr weittragende Kugelbüchsen verwendet werden.
»Die haben wir allerdings nicht. Aber warum soll man nicht ebensogut mit großer Kugel das Känguruh schießen können?« fragte einer der Herren.
»Der Unterschied läßt sich schwer erklären,« meinte Huxlay. »Sie werden aber später bei der Jagd selbst empfinden, welchen Vorteil eine Kugelbüchse gewährt. Ich wollte Ihnen nur den Vorschlag machen, die Jagdwaffen an Bord zu lassen, da wir Sie auf der Farm vollständig mit Gewehren geeigneten Kalibers versehen können. Im Busch kommen nur Büchsen ganz besonderer Konstruktion zur Anwendung.«
Da das Gespräch einmal auf Gewehre und andere Jagdwaffen gekommen war, bei Sportsleuten ein sehr wichtiges und unerschöpfliches Thema, so wurde im Salon noch längere Zeit darüber gesprochen, während welcher John Davids in seiner Kabine einen Brief an Miß Nikkerson schrieb. Er bat sie, dem Ueberbringer desselben Glauben zu schenken und, wenn sie und die anderen Damen einwilligten, heute abend acht Uhr am Bahnhof zu sein.
Nachdem er dem Herrn das Schreiben eingehändigt, verabschiedete sich dieser mit dem Versprechen, ebenfalls abends am Bahnhof zu sein, um die Gäste persönlich nach Blackskin zu begleiten. Sein Geschäft hier in Townville nähme nur eine halbe Stunde in Anspruch, und er verschmähe jeden weiteren Aufenthalt in dieser Stadt, da er die Reise in so angenehmer Gesellschaft zurücklegen könnte.
»Also auf Wiedersehen, um acht Uhr, meine Herren!« rief er, als er das Fallreep hinabstieg.
»Fahren Sie direkt nach der ›Vesta‹?« fragte ihn Hendricks.
Huxlay bejahte.
»Dann müssen Sie aber die Unterhaltung außerbords führen.«
»Warum denn?«
»Keines Mannes Fuß darf die Planken der ›Vesta‹ betreten.«
»Auch nicht, wenn ich als Abgesandter ›Amors‹ komme?« lachte Huxlay zurück.
»Dann erst recht nicht,« klang es dem Abfahrenden nach.
»Ein angenehmer Mensch, dieser Mister Huxlay,« sagte Chaushilm zu Hendricks.
Alle Herren hatten sich an Deck begeben.
»Das scheint er zu sein. Ich freue mich riesig auf die Känguruhjagd,« meinte Hendricks, »ich habe einmal gelesen, wie einer bei einer solchen Hetzjagd drei Pferde totgeritten hat.«
»Wir wollen sie aber schießen.«
»Natürlich, wenn das Pferd unter dem Reiter zusammenbricht, früher nicht,« behauptete Hendricks, ein passionierter Pferdedandy.
»Mir gefällt der Vorschlag übrigens nicht,« begann einer der jungen Herren, »daß wir unsere Gewehre nicht mitnehmen sollen. Vielleicht haben wir schon unterwegs Gelegenheit, eine kleine Jagd zu arrangieren.«
»Zum Eisenbahnfenster hinaus?«
»Wer weiß? Ich nehme jedenfalls mein Gewehr mit.«
Auch die übrigen Herren einigten sich dahin, ihre Gewehre doch mitzunehmen und wollten ihren Entschluß eben John Davids mitteilen, der wieder am Heck des Schiffes stand, und beobachtete, wie Huxlay sich nach der ›Vesta‹ rudern ließ, dann aber den Blicken entschwand, weil das Boot um das Schiff bog.
Jetzt wandte er sich um, sah nach der Uhr und sagte:
»Meine Herren, es ist drei Uhr, wir haben also noch fünf Stunden Zeit, bis wir auf dem Bahnhof sein müssen. Machen Sie unterdes aus, wer zurückbleiben will, es müssen wenigstens fünf Herren sein. Finden sich diese nicht, dann muß das Los geworfen werden. Auch bitte ich Sie, während dieser Zeit Ihre Gewehre in Ordnung zu bringen, wir nehmen sie mit.«
»Die Vogelflinten natürlich,« sagte Chaushilm. »In Australien gibt es ja keine großen Tiere zu schießen.«
»Nein, die Kugelbüchsen,« antwortete Davids, ging unter Deck und gab auch Hannes die Erlaubnis, an der Fahrt teilzunehmen. – –
»Es ist so,« sagte der Stationsvorsteher zu John Davids, der mit einem Fuß schon auf dem Trittbrett des Wagens stehend, noch zögerte einzusteigen, weil er erst von dem Beamten etwas Näheres über den Inhalt eines Telegramms erfahren wollte, das eben aus Hughenden eingetroffen war, »es ist so, wie ich Ihnen sagte, mehr weiß ich auch noch nicht. Das Telegramm lautet: Linie zwischen Klein-Hughenden und Burketown geschlossen, Schienenkreuz zerstört. Steigen Sie ein, der Zug setzt sich schon in Bewegung!«
»Wann ist dies geschehen?« konnte Davids aber noch zum Fenster herausrufen.
»Wahrscheinlich heute morgen durch ausgebrochene Sträflinge,« war die Antwort, dann brauste der Zug davon.
Die Herren befanden sich alle in einem Wagen, ebenso die Damen, und John Davids erzählte ihnen, was er eben erfahren hatte. Er konnte wegen des herrschenden trüben Lichtes nicht bemerken, wie dem mitfahrenden Mister Huxlay bei dieser Mitteilung eine plötzliche Unruhe befiel.
»Dann sind auch unsere Freunde und die Damen davon betroffen worden,« sagte einer der Herren. »Haben Sie nicht erfahren können, Davids, ob ein Unglück passiert ist, ob der gestrige Zug die Stelle schon hinter sich hatte oder sonst etwas?«
»Nichts,« entgegnete Davids. »Was ich Ihnen sagte, ist alles, was ich erfahren konnte. Wir wollen hoffen, daß der Zug mit unseren Freunden bereits die Stelle passiert hatte.«
Sie erkundigten sich bei Mister Huxlay über jene Fahrverbindung, über die Lage der einzelnen Stationen und erfuhren von dem darüber sehr genau orientierten Herrn wenig Tröstliches.
»Ein Glück ist es nur,« begann Hendricks, »daß die Damen männliche Begleitung mitgenommen haben. Lord Hastings ist der Besonnenste der Herren und wird, wenn sie gezwungen wurden, den Zug zu verlassen, schon alle Maßregeln getroffen haben.«
»Also die Sträflinge sind doch ausgebrochen,« sagte ein anderer, »ich hörte heute morgen in einem Kaffeehaus etwas davon munkeln, aber das Gerücht war so unbestimmt, daß ich es nicht weiter zu verbreiten wagte. Haben Sie nichts davon erfahren, Mister Huxlay?«
»Nein,« sagte dieser, »wenn die Sträflinge wirklich ausgebrochen sind, so hütet sich das Gouvernement, die Tatsache sofort in die Welt zu posaunen, um die Umwohnenden nicht ängstlich zu machen, sondern sie versucht erst, die Verbrecher wieder einzufangen.«
»Und was werden die Sträflinge machen, wenn sie sich befreit haben?«
»Sie ziehen sich dann gewöhnlich in die Wälder zurück,« sagte Huxlay.
»Als Buschrähndscher,« ergänzte Davids,« und solche werden es gewesen sein, welche den Schienenstrang aufgerissen haben.«
»Ich denke eher an Eingeborene,« meinte Huxlay; »ich wüßte nicht, wo sich die Sträflinge befreit haben könnten. Die nächste Strafanstalt ist bei Hughenden, ein Steinbruch, aber dort werden die Arbeiter so streng bewacht, daß eine Meuterei gar nicht möglich ist.«
»Jedenfalls ist es gut, daß wir die Büchsen mitgenommen haben.« sagte Hendricks, »mag nun kommen, was will«.
Es trat eine Stille ein, jeder der Herren beschäftigte sich mit seinen eigenen Gedanken.
Als gegen zwei Uhr Klein-Hughenden passiert war, schlugen einige Herren vor, die Schlafbänke herunterzuschlagen und bis sechs Uhr zu schlafen, bis sie in Hughenden ankommen würden. Die Damen hatten es wahrscheinlich ebenso gemacht, denn in dem vorausfahrenden Wagen, aus dem bis jetzt immer fröhliches Lachen erschollen war, herrschte nun Ruhe.
Aber Davids bestand energisch darauf, daß alle wach blieben, und als Mister Huxlay in etwas spöttischem Tone fragte, ob er vielleicht einen Ueberfall von Buschrähndschern fürchte, entgegnete er:
»Das nicht, aber es könnte abermals eine Zerstörung der Schienen stattgefunden haben, eine Entgleisung eintreten, und da ist es besser, wach zu sein, als zu schlafen.«
Sein Rat ging durch, und die Herren begannen, sich durch Erzählen wachzuhalten.
Natürlich kam das Gespräch auch bald auf die Damen der ›Vesta‹ und da hatte man Stoff genug, denn fast alle die Mädchen waren frei und unabhängig, und in diese Lage waren sie nicht immer dadurch gekommen, daß ihre Eltern gestorben waren, vielmehr gab es manches verwickelte Schicksal darunter.
»Ich habe einst gehört,« sagte Chaushilm zu einem der Herren, »Sie wüßten, auf welche Weise Miß Nikkerson ihre Eltern verloren hat.«
Der Angeredete nickte.
»Durch meinen Vater, welcher die Mutter des Mister Nikkerson gekannt hatte und ihr herbes Schicksal, das sie nach kurzer Ehe traf, sehr bedauerte. Sie überlebte nicht lange den Tod ihres Gemahls.«
»Nahm sie sich denselben so sehr zu Herzen?« »Ihr Mann starb eines gewaltsamen Todes, er wurde ermordet.«
»So erzählen Sie doch, was Sie wissen! Natürlich nur, wenn es niemanden kompromittiert.«
»Durchaus nicht, und da wir gerade in dem Lande sind, wo Mister Rikkerson durch meuchlerische Hand fiel, so will ich Ihnen das mitteilen, was ich von meinem Vater darüber erfuhr. Viel ist es allerdings nicht. Mister Nikkerson machte alle zwei Jahre eine Geschäftsreise nach Sydney, und so befand er sich auch vor etwa neunzehn oder zwanzig Jahren in dieser Stadt. Er wollte damals gerade einen großen Kauf von Wolle abschließen, hatte in Sydney eine große Summe deponiert und begab sich gleich am ersten Tage nach seiner Ankunft auf die Bank, um dort das Geld abzuholen und dem Verkäufer einzuhändigen.
»Der Weg von diesem Bankgeschäft nach dem Hause, wo der Wollmakler sein Kontor hatte, führt durch einige ärmliche Straßen, man kann ihn aber abkürzen, wenn man mit den Durchgängen Bescheid weiß, welche die Gäßchen kreuzen.
»Einen solchen Durchgang muß nun Nikkerson benutzt haben, man hat ihn zum letzten Male in einer der Gassen gesehen, die Hand in der Brusttasche, wo er jedenfalls das Geld aufbewahrte – am Abend desselben Tages fand man ihn als Leiche, von einem Messerstich durchbohrt, im Treppenwinkel eines Durchganges liegen, natürlich des Geldes beraubt.«
»Und der Mörder? Hat man auf niemanden Verdacht gehabt?«
»Der Täter wurde noch in derselben Nacht ergriffen. Neben dem Toten lag ein Messer und ein blutgetränktes Taschentuch, und ein Matrose, welcher bei der Fortschaffung des Leichnams behilflich war, benahm sich beim Anblick der Gegenstände so sonderbar, daß man Verdacht gegen ihn faßte und ihn festnahm. Nach längerem Zögern gestand er denn auch, daß es das Messer und Tuch eines seiner Kameraden war, und als man diesem die Beweise vorhielt, soll er so erschrocken sein, daß er sofort als Mörder bezeichnet wurde.«
»Er wurde gehängt?«
»Ich glaube nicht. Der Kapitän, auf dessen Schiff er gerade war, stellte ihm das beste Zeugnis aus, bezeichnete ihn als einen Menschen, dem er getrost alles anvertrauen würde, was er besäße, und auch der Matrose selbst behauptete immer und immer seine Unschuld, aber natürlich – die Beweise waren da, und alles Bedauern half nichts. Mein Vater konnte mir auch nicht sagen, ob jener sein Leben als Sühne lassen mußte; oder ob seine Strafe gemildert worden ist.«
»Mister Nikkersons Gemahlin starb bald darauf?«
»Ja, ein Jahr nach dem Tode ihres Mannes. Sie hinterließ ein Kind von zwei Jahren, eben unsere Miß Nikkerson.«
Die Herren saßen wieder einige Zeit lang schweigend da, sich nur mit Zigarre oder Pfeife beschäftigend, als auf einmal eine helle Stimme laut schrie:
»Laß fallen die Anker! Verfluchter Schlingel, willst du von der Kette weg!«
»Allmächtiger Gott,« lief Hendricks, der ebenso zusammengefahren war, wie die übrigen Herren, »was hat der Bengel für eine Stimme, selbst wenn er schläft. He, Hannes,« sagte er zu dem bequem in einer Ecke lehnenden Leichtmatrosen und schüttelte ihn am Arm, »wach' auf, du träumst von Schiffen, und wir fahren auf der Eisenbahn.«
»Fort, sage ich dir, fasse mich nicht an!« brüllte der Träumende jedoch weiter.
»Der balgt sich wieder einmal mit seinem Herrn herum,« lachte Hendricks. »Ein intimeres Verhältnis zwischen Herr und Diener habe ich noch nie gesehen, so etwas kann nur Charles Williams arrangieren.«
Da sprang Davids auf und sagte:
»Was ist denn das? Kommen wir noch einmal an eine Station, weil der Zug halten will?«
Alle Herren blickten durch die Fenster und bemerkten an den vom Mondschein schwach beleuchteten Gebüschen, wie langsam sie an diesen vorbeifuhren.
»Hannes hat kommandiert, daß die Anker fallen sollen, die Schaffner haben's gehört und sofort den Befehl ausgeführt,« meinte Hendricks lachend.
Noch immer war der Zug im Fahren, aber man merkte auch im Wagen, wie sich die Räder langsamer und langsamer drehten, dann ein Ruck, ein Schub nach vorn, und der Zug stand. Er war noch aus dem Busch herausgerollt und hatte jetzt zu beiden Seiten Gummiwald.
»Wer weiß, was los ist!« meinte ein Engländer. »Wäre irgend etwas Gefährliches passiert, so hätte die Lokomotive gepfiffen. Wir müssen eben ruhig warten.«
»Die Räder werden wahrscheinlich geschmiert,« bemerkte ein anderer.
Einige Minuten blieben die Herren auf den Plätzen sitzen, dann aber wurde Davids unruhig.
»Es ist so still,« sagte er, »kein Pfiff, kein Rufen der Beamten, kein Gehen über uns. Es ziemte sich für den Schaffner, uns wenigstens aufzuklären.«
Er stand auf, öffnete die Tür und stieg aus, hinter ihm Huxlay und gleich darauf auch Hendricks. Als letzterer außerhalb des Schienenstranges stand, blieb er ebenso erstarrt, wie Davids, stehen und blickte die Schienen entlang – der Wagen war abgekuppelt worden, er war der letzte gewesen, und von dem Zuge war nichts mehr zu sehen.
»In den Wagen,« schrie plötzlich Davids und sprang mit einem Satze hinein, Hendricks nach sich ziehend, er hatte ein leises Knacken von Gewehrschlössern gehört.
Es war die höchste Zeit gewesen, denn schon donnerte eine Salve, und die Kugeln schlugen gegen den Wagen, ohne glücklicherweise das starke, mit Blech besetzte Holz durchschlagen zu können.
»Von den Fenstern, stellt euch geschützt!« rief Davids, und als dieser Rat von den bestürzten Männern eiligst befolgt war, fragte er:
»Wo ist Huxlay?«
Ein Stillschweigen beantwortete ihm diese Frage.
»Also doch,« murmelte er zwischen den Zähnen.
Die Gewehre wurden heruntergeholt, mit Spannung erwartete man eine weitere Salve, aber sie blieb aus. Da riß Davids den Kolben an die Wange und feuerte zum Fenster hinaus, dabei in gesicherter Stellung bleibend; ein Schmerzgeheul erscholl, und wieder krachten die Gewehre und prasselten die Kugeln gegen die Wände.
»Nummer eins,« knirschte Davids, »möge es dieser Schuft gewesen sein.«
»Ist jemand verwundet?« fragte er dann laut.
»Niemand.«
Noch einmal knallte ein Schuß im Innern des Wagens, diesmal aber auf der anderen Seite, und wieder hörte man ein Wehegeschrei, aber keine Salve antwortete.
»Die Buschrähndscher,« flüsterten die Herren, als für längere Zeit nichts mehr im Walde vernehmbar war. »Wie still sich die Zugbeamten benehmen!«
»Losgekuppelt sind wir,« sagte Davids laut. »Unser Wagen steht verlassen auf den Schienen.«
Keiner konnte einen Ruf des Schreckens unterdrücken.
»Und die Damen?« fragte einer leise.
»Sind natürlich mit dem Zuge fort.«
Dicht gedrängt standen die Männer an den Fenstern, ohne sich selbst aber eine Blöße zu geben, die Büchsen schußbereit in den Händen, und beobachteten den Wald.
Aber kein Laut unterbrach mehr die Stille.
Nicht lange dauerte es, so begann der Tag zu dämmern, und Davids lehnte sich zum Fenster hinaus, um die Situation zu überschauen. Aber sofort blitzte im Busch ein Schuß auf, und eine Kugel riß dem Unvorsichtigen die Mütze vom Kopf.
»Aha,« sagte Davids, »wir sind ihnen wahrscheinlich etwas zu weit gefahren. Wären wir im Busch, der um zwanzig Meter hinter uns liegt, schon halten geblieben, so könnten sie uns wie auf dem Anstand einen nach dem anderen wegschießen, ohne daß wir sie vor die Mündungen der Gewehre bekämen, so aber ist der Wagen glücklicherweise weitergerollt, und wir befinden uns in einem durchsichtigen Wald von Gummibäumen, wodurch wir im Wagen den Vorteil auf unserer Seite haben. Wartet, Burschen, wir wollen euch das Blut noch heiß machen!«
»Was sollen wir nun tun?« wandte er sich an die Herren. »Mister Huxlay ist ein Schurke gewesen, der uns nur hierher gelockt hat, um uns vor die Gewehre der Buschrähndscher zu bringen.«
»Aus welchem Grunde aber? Wir haben doch keine Wertsachen bei uns?« meinte einer.
»Nein, nicht auf uns war es eigentlich abgesehen,« bestätigte Davids, »sondern auf die Damen. Gelang es der Bande, die uns schon öfters Hemmnisse in den Weg gelegt hat, bis jetzt nicht, sich eines der Mädchen zu bemächtigen, so wollen sie es jetzt einmal mit allen zugleich versuchen.«
Bestürzt hörten ihm die jungen Engländer zu.
»Was wollen wir nun tun, frage ich noch einmal?« wiederholte Davids.
Er hatte schon seinen Plan, aber er wollte erst die Ansichten der übrigen anhören.
Verschiedene Vorschläge wurden gemacht. Die wenigsten wollten warten, bis der Zug von Hughenden kam, was gegen Mittag der Fall sein mußte, einige schlugen vor, dorthin zu gehen, die meisten dagegen drangen darauf, die Buschrähndscher, welche sicher noch im Busch versteckt lagen, anzugreifen, und dies fand Davids Beifall.
»Augenblicklich ist es uns nicht möglich, uns um das Schicksal der Damen zu kümmern,« sagte er, »denn unser Leben ist selbst in großer Gefahr. Nach Hughenden zu laufen, wäre Tollheit, eher könnten wir auf den nächsten Zug warten, aber ich bin der Ansicht, daß die Buschrähndscher, welche bereits solche Uebung im Zerstören von Schienen und im Abkuppeln entwickelt haben, auch diesmal die Schienen wieder aufreißen, um uns der Möglichkeit des Entsatzes zu berauben. Das sind aber keine einfachen Buschrähndscher, welche einen Gentleman abschicken, um uns auf seine Farm einzuladen, sondern das Ganze ist ein abgekartetes Spiel, um sowohl die Mädchen zu entführen, als auch, um uns für immer unfähig zu einer Verfolgung zu machen. Gehen wir nicht aus dem Wagen, so werden sie schon Mittel und Wege finden, uns herauszubringen, wahrscheinlich werden sie Feuer daranlegen, daher ist auch mein Vorschlag, offensiv vorzugehen. Sie sollen bald sehen, daß wir im Vorteil sind.«
Alle Herren zollten ihm Beifall. »Gut,« fuhr Davids fort, »überzeugen wir uns erst, ob die Räuber noch im Busch sind und uns beobachten.«
Er zog seinen Rock aus, faltete ihn etwas zusammen und setzte einen Hut darauf.
Kaum hielt er die so gefertigte Puppe zum Fenster hinaus, als ein Schuß knallte und eine Kugel den Rock durchlöcherte.
Davids ging nach der Hinterwand des Wagens, drehte sein Gewehr um und schlug einige Male gegen den obersten Keil. Nach mehreren Schlägen fiel dieser aus der Oeffnung heraus.
Die Herren hatten verstanden, sie beteiligten sich an dieser Arbeit, und in kurzer Zeit war die hintere Wand Wagens gefallen.
»Der Salve nach zu urteilen, können es höchstens zwanzig bis dreißig Buschrähndscher sein, die sich dort festgesetzt haben,« sagte Davids, »und eine Schande wäre es für uns, wenn wir diese nicht zu Paaren trieben. Jetzt, meine Herren, auf mein Kommando alle zugleich hinten aus dem Wagen gesprungen, ihn mit den Händen angefaßt und dann mit einem Hurra vorwärtsgeschoben, bis wir den Busch erreicht haben, in den wir sofort hineinspringen. Dort sind wir vorläufig sicher.«
Die Kaltblütigkeit und Sicherheit, mit der Davids alles anordnete, hatte für die jungen Männer etwas Berauschendes. Mit leuchtenden Augen blickten sie auf den Führer, der eben die Hand aufhob, zum Zeichen, daß jetzt das Kommando käme.