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Während die Damen noch Toilette machten, um sich für die Fahrt nach der Stadt vorzubereiten, hatte der Detektiv Williams aufgesucht, dann auch noch Hannes herbeigeholt, und auf die Bitte Sharps schloß ihnen ein Diener ein Zimmerchen auf, in dem sie so lange verweilten, bis das Stampfen der Pferde verriet, daß angespannt worden war.
»Also es bleibt dabei, Mister Wood!« sagte Charles laut, als er über den Hof nach dem letzten Wagen schritt.
Ehe er ihn erreicht hatte, trat ihm Miß Thomson entgegen.
In den Wagen hatten je vier Platz genommen, und während auf der Herfahrt Miß Thomson zusammen mit Charles gesessen hatte, war der letzte Wagen schon von Hannes, Lord Hastings und Johanna besetzt, also nur noch ein Platz war frei, und den schien eben Charles einnehmen zu wollen.
Miß Thomson beachtete die Blicke nicht, welche die schon Eingestiegenen auf sie warfen, als sie ihrem Geliebten entgegentrat und ihn zurückzuhalten suchte.
»Aber was ist denn das?« flüsterte sie bestürzt. »Warum kommst du nicht zu mir Charles? Die ganze Ordnung ist ja eine andere geworden.«
Es war in der Tat so. Vorhin war der letzte Wagen von anderen Personen besetzt gewesen, aber die drei Genannten hatten diesen sofort bestiegen und ließen nur einen Platz für Williams offen.
»Es dauert ja nur eine halbe Stunde, Betty,« flüsterte Charles, »wir vier haben es so ausgemacht, daß wir zusammenfahren wollen, wir haben etwas miteinander zu besprechen.«
»Was denn?« fragte Betty neugierig. »Hast du Heimlichkeiten vor mir? Das ist nicht schön!«
»Ich erzähle es dir nachher. Geh' nur, Schatz, suche dir einen Platz, da im Wagen vor uns sitzt Mister Wood, ich habe ihm schon gesagt, daß ich ihn dir als Beschützer mitgebe.«
»Aber, Charles,« bat Miß Thomson, »wie sonderbar bist du mit einem Male! Laß doch Mister Wood in den letzten Wagen steigen. Ich habe mich schon so auf die schöne Fahrt gefreut, und nun verdirbst du sie mir mit deinem Eigensinn.«
Williams war schon in den Wagen gestiegen, und Miß Thomson blieb nichts anderes übrig, als im vorletzten Wagen neben Mister Wood Platz zu nehmen, denn die Pferde zogen schon an. Sie war sehr ärgerlich und beachtete die Höflichkeiten ihres Nachbars gar nicht, den sie wegen seiner spöttischen Fragen und Antworten schon in Batavia nicht hatte leiden mögen. Diesmal unterließ er solche zwar, er benahm sich freundlich und zuvorkommend gegen sie, aber ihr Vorurteil gegen diesen Mann ließ sie nicht fallen, sie blieb kalt und einsilbig.
Allein bald änderte sich ihre Stimmung. Mister Wood kam natürlich auf Charles zu sprechen, und da das ihnen gegenübersitzende Paar sich vollständig in ein Gespräch vertieft hatte und kein Ohr für andere hatte, so ging Betty auf die neue Unterhaltung ein, sie hatte für das Mädchen natürlich das größte oder vielmehr das einzige Interesse.
»Sie sind mit Sir Williams eng befreundet, nichts wahr?« sagte sie.
»Ja, wir sind von Jugend an Freunde gewesen, erst mit dem eintretenden Mannesalter sind wir voneinander getrennt worden, aber die Freundschaft haben wir uns bis jetzt bewahrt. Ich kenne Sir Williams fast ebenso, wie mich selbst.
»Er soll eine etwas wilde Jugend hinter sich haben?« fragte wiederum Betty, ohne einen Grund zu diesem Argwohn zu finden. Aber von Charles konnte sie nie etwas derartiges erfahren, sie wußte nicht, ob er Spaß oder Ernst mache, doch hoffte sie, von Mister Wood, seinem Freunde, etwas Näheres über ihn zu erfahren. Schön ist zwar eine solche Neugierde nicht, sagte Betty sich selbst, aber du lieber Gott, sie ist verzeihlich, und außerdem glaube ich auch nicht, was Mister Wood etwa Ungünstiges über ihn spricht.
»Ein wilder Junge ist er allerdings immer gewesen,« bestätigte Mister Wood, »und ist dann auch etwas flatterhaft geworden. Wie soll es denn anders sein, reich, jung und hübsch und ohne Aufsicht, dafür ist er ja aber jetzt ein braver, solider Mann.«
Das Gespräch versprach ja recht interessant zu werden. Dieser Mister Wood war übrigens ein schlechter Mensch, so etwas von seinem Freunde zu sprechen, und noch dazu zu derjenigen, von der er doch ganz sicher wußte, daß Williams ihr nicht gleichgültig war. Aber Betty war ein Weib, sie konnte das Weiterforschen nicht lassen, doch immer mit dem festen Entschlüsse, etwas Schlechtes nicht zu glauben.
»Flatterhaft,« sagte sie unschuldig. »Wie meinen Sie das?«
»Nun, mein Gott, er soll früher etwas gefährlich gewesen sein, manches zarte Herz soll an seinen Augen Feuer gefangen haben. Doch das ist jetzt vorbei, er hat mir oft erklärt, daß er dies völlig hinter sich habe, und daß er überhaupt der Liebe nicht mehr zugänglich sei, wenigstens soweit sich dies überblicken lasse.«
»Wann hat er ihnen dies gesagt?«
»Erst vorhin, als wir zusammen im Garten spazieren gingen.«
Also wußte Mister Wood noch nicht, daß Charles sie liebe. Natürlich, sie hatte in dem Mann an ihrer Seite schon lange eine ganz nüchterne, prosaische Natur erkannt, die über alles Schöne lachen konnte. Wie sollte dieser Mensch das entdeckt haben, was zwischen ihnen beiden ganz heimlich vorging? Charles verriet ihm sicher nichts, wenn er auch sein Freund war. Jetzt durfte sie schon offener fragen.
»So meinen Sie, daß er für keine der Damen der ›Vesta‹ ein tieferes Interesse hegt?«
»Ein tieferes Interesse? Soviel ich weiß, nein,« sagte Mister Wood langsam, und Betty merkte, daß er sichtlich zögernd sprach.
»Sprechen Sie sich offen aus!« meinte Betty scherzhaft, »Sie wissen, wir Mädchen, sind etwas neugierig und hören solche Geheimnisse gern. Seien Sie versichert, daß ich darüber reinen Mund halten werde. Aber ich bin wirklich neugierig, zu erfahren, für wen dieser Sir Williams, der über alles scherzt, eine Neigung besitzen soll.« »Wie ich Ihnen schon sagte, Charles hat mir selbst erklärt, daß er sich keiner Liebe mehr für fähig hält.«
»Aus Ihrer Antwort vorhin schloß ich das Gegenteil.«
Mister Wood blickte lange sinnend vor sich hin, dann sah er dem Mädchen fest in die Augen und nahm plötzlich dessen Hand in die seine.
»Miß Thomson,« sagte er leise, und es schien dem Mädchen, als ob seine Stimme zitterte, »haben Sie noch nicht gemerkt, daß ich, daß ich –«
Er konnte vor Verlegenheit nicht weiter.
»Was?« fragte Betty, die nicht wußte, wohinaus Wood wollte, von dem folgenden hatte sie keine Ahnung.
»... daß ich Sie liebe.«
Betty saß vor Staunen starr da, sie glaubte zu träumen. Dieser Mister Wood, der sie noch fast gar nicht angesehen hatte, behauptete mit einem Male, er liebe sie.
Hastig zog sie die Hand zurück.
»Seien Sie mir nicht böse,« sagte er mit weicher Stimme, »ich weiß, ich bin Ihrer nicht wert, ich verlange keine Gegenliebe von Ihnen, ich bin schon froh, wenn ich Sie lieben darf. Aber ich flehe Sie an, hören Sie auf mich, glauben Sie meinen Worten, die ich an Sie richten muß, und wenn es mich den besten Freund kosten sollte. Ich kann nicht mehr mit ansehen, daß Sie das Opfer eines Leichtsinnigen werden, das Herz blutet mir, wenn ich dem Spiele zusehe, das mit Ihnen getrieben wird.«
»Was sagen Sie?« fragte Betty gedehnt.
Sie ward immer bestürzter. Wollte dieser Mann sie etwa ihrem Verlobten abspenstig machen, wollte er ihr überhaupt etwas von ihm erzählen? Nein, das war ja gar nicht möglich.
»Ich sage, daß mit Ihnen einen frevelhaftes Spiel getrieben wird. Eben, weil ich Sie anbete, wenn auch nur aus der Ferne, warne ich Sie vor meinem Freunde, vor Charles. Er selbst hat es mir gesagt, wie er sich aus Uebermut mit Ihnen in eine Liebelei eingelassen habe, um bei der Reise doch etwas Vergnügen zu haben – das waren seine eigenen Worte – aber es ist mir unmöglich, Sie das Opfer eines solchen Betruges ...«
Er konnte nicht weitersprechen, Betty unterbrach ihn.
Sie hatte während dieser Worte die Augen starr auf ihn gerichtet gehabt, als könne sie ihn nicht verstehen, dann fiel ihr Blick auf Charles, den sie trotz der Dunkelheit im letzten Wagen noch erkennen konnte, und plötzlich sprang sie auf, die Hände zusammengeballt.
»Mein Herr,« stieß sie leise, aber in furchtbar aufgeregtem Tone hervor, »ich verbitte mir ein für allemal, in solcher Weise von Sir Williams zu reden. Wenn ich wüßte, daß Sie ihn böswillig zu verleumden suchen, so würde ich, bin ich auch nur ein Mädchen, Ihnen in anderer Weise antworten.«
Eine nähere Erklärung fand nicht statt, auch die beiden anderen Insassen beachteten diese Worte, welche sie gehört hatten, nicht weiter. Aller Augen richteten sich auf den letzten Wagen, auf dem sich eben eine seltsame Szene abspielte.
Betty hatte während ihrer hervorgeschleuderten Worte nach Charles geblickt, und kaum hatte sie geendet, als sie laut aufschrie, sie sah, wie plötzlich Charles, so glaubte sie wenigstens, rücklings über die Lehne vom Wagen herabstürzte, wie Johanna dem die Pferde lenkenden Chinesen in die Zügel fiel, und wie gleichzeitig Lord Hastings und Hannes aus dem Wagen sprangen.
»Charles!« schrie Betty entsetzt auf, und mit einem Satze war sie von dem hohen Sitz herunter und an dem letzten Wagen.
Sie konnte in der Dunkelheit nur erkennen, wie einige Männer in einer aufwirbelnden Staubwolke am Boden rangen. –
Wo Charles Williams war, mußte es immer lustig hergehen, und wenn er auch nur mit solchen Personen zusammen gewesen wäre, wie es der phlegmatische Hastings und die stille, ernste Johanna waren, Charles duldete keine ernsthafte Miene und keine traurigen Gespräche.
Ebenso war Hannes bekanntlich kein Kopfhänger, ihm konnte es nicht so leicht zu toll werden, und so kam es, daß es in dem letzten Wagen ungeheuer heiter zuging, zum geheimen Kummer von Miß Betty, welche wünschte, statt neben Mister Wood im anderen Wagen zu sitzen.
Sonderbarerweise hatten aber auch heute abend Lord Hastings und Johanna ihre sonstigen Naturen abgelegt, auch sie waren ungewöhnlich aufgeräumt und lachten fortwährend über die Gespräche und Witze, mit denen Charles, wie auch Hannes, um sich herumwarfen, taten sogar selbst ihr bestes, die gute Stimmung nicht einschlummern zu lassen.
Hannes und Williams saßen auf dem Hintersitz, das Gesicht also nach den Pferden zu gerichtet und lehnten sich bequem hintenüber, während Johanna und Lord Hastings den Vordersitz einnahmen.
Charles zog ein Etui hervor und steckte sich eine Zigarre an, stand dann auf und klopfte dem chinesischen Kutscher auf die Schulter.
»Willst du eine Zigarre rauchen, mein Bursche?« fragte er ihn. Der Rosselenker wandte den Kopf und zeigte dem Frager grinsend die Zähne, er hatte ihn nicht verstanden.
»Er versteht nicht Englisch,« sagte Charles und setzte sich wieder, »es schadet also nichts, wenn wir Bemerkungen austauschen.«
Hannes begann wieder ein munteres Lied zu singen, und Hastings sagte, sich vorbeugend:
»Es scheint doch, als hätten Sie sich geirrt. Wir haben die Stadt bald erreicht, und noch ist uns nichts Auffälliges begegnet.«
»Ich habe mich nicht geirrt,« versicherte Charles, »außerdem haben wir noch eine gute Viertelstunde zu fahren, und unser Weg führt uns vorher durch ein Orangenwäldchen, in dem die Fahrstraße sehr schmal wird. Es sollte mich sehr wundern, wenn wir dieses ohne Störung passierten.«
»Haben Sie den Mann auch wirklich unter den Dienern des Mister Miller erkannt?« fragte nochmals Lord Hastings zweifelnd.
»Ganz sicher,« erwiderte Charles etwas heftig, »ich sah ihn noch zuletzt, als er uns beim Einsteigen beobachtete, natürlich nur, um sich über unsere Plätze zu orientieren. Dann rannte er uns voraus, und ich glaube sogar, ein höhnisches Lachen gehört zu haben. Der Kerl freute sich, uns im letzten Wagen zu sehen, denn dadurch hat er leichtere Arbeit.«
Charles fiel mit in den englischen Matrosensang ein, den Hannes angestimmt hatte, legte sich bequem an die hölzerne Lehne, beide Arme darauf stützend und führte ab und zu die Zigarre nach dem Mund.
»Das Orangenwäldchen in Sicht,« sagte er in einer Pause des Gesanges schnell.
Sein Blick war dabei auf Johanna gerichtet gewesen, und diese nickte bei diesen Worten leicht mit dem Kopfe, Ihre großen, braunen Augen erweiterten sich noch mehr und beobachteten, ohne daß sie es besonders merken ließ, die zurückgelegte Gegend unausgesetzt.
Das Wäldchen war erreicht, die Bäume rückten eng zusammen, die Straße war hier nur so breit, daß eben zwei sich begegnende Wagen sich hätten ausweichen können, und der Mond stand zu tief, daß er nur den Weg beleuchtete, sein Licht wurde von dem Walde zurückgehalten.
Keiner der Insassen des letzten Wagens verriet, daß sie alle ihre Sinne anstrengten, etwas Ungewöhnliches auf diesem Wege oder zur Seite im Walde zu bemerken, sie waren lustig und plauderten und lachten wie vordem.
Da huschte plötzlich ein dunkler Schatten aus dem Busche heraus und war im Nu hinter dem Wagen, wo er spurlos verschwand, jedenfalls mußte er sich hinter dem Sitzbrett versteckt halten.
Noch immer zeigte niemand Unruhe, nur Johanna brach plötzlich im Satze ab und ließ ein mahnendes, aber fast unmerkliches Zischen hören, und sofort nahm Charles die Zigarre aus dem Munde, legte die Hand auf die Lehne und drehte den Kopf etwas nach Hannes zu, mit diesem sprechend.
Weder Lord Hastings, noch Hannes sahen, wie sich mit einem Male blitzesschnell ein Arm erhob, einen langen Dolch in der Hand haltend, um ihn Charles in den Rücken zu stoßen, nur Johanna drehte sich um und riß dem Rosselenker die Zügel aus der Hand, in demselben Augenblick, da Charles sich mit der Gewandtheit eines Jongleurs über die Rückenlehne schwang, den erhobenen Arm mit der tödlichen Waffe am Handgelenk faßte und durch die Gewalt seines niederfallenden Körpers die Gestalt mit zu Boden riß.
Die sofort nachspringenden anderen beiden Männer sahen zwei Körper sich im Staube wälzen, ohne Besinnen warfen sie sich darauf, nach einigen Sekunden preßte die herkulische Kraft des Lord Hastings den am Boden mit Charles ringenden Chinesen die Arme wie in einem Schraubstock zusammen, und im nu war er von Hannes an Händen und Füßen gebunden.
»Charles!« schrie da eine Stimme, und eine weibliche Gestalt flog auf die Männer zu, welche sich eben aufrichteten.
Sie warf sich Charles an die Brust, seinen Kopf in beide Hände nehmend und ihn angstvoll anblickend, fuhr aber sofort mit einem Schreckensschrei zurück – wohl hatte der vor ihr Stehende die Kleidung und das sonstige Aussehen ihres Geliebten, aber sie sah in ein fremdes Gesicht, der vermeintliche Charles hatte plötzlich seinen blonden Schnurrbart verloren.
»Sir Williams hat sich soeben rasieren lassen,« sagte da neben ihr Mister Wood, der ebenfalls aus dem Wagen gesprungen war und legte vertraulich die Hand um die Taille des Mädchens, »sehen Sie, da liegt noch das Messer, mit dem ihn der Chinese bearbeitet hat.«
Betty wußte nicht, was sie denken sollte, nur soviel wurde ihr mit einem Male klar, daß der Mann im letzten Wagen, den sie bisher für Charles gehalten, gar nicht dieser war. Er kümmerte sich gar nicht um das Mädchen, sondern war nur damit beschäftigt, mit Hilfe von Hastings und Hannes die schwere Gestalt des riesigen Chinesen, der vor Angst am ganzen Körper zitterte, in den Wagen zu heben.
»Komm, Betty,« fuhr der Mann an ihrer Seite fort und zog das Mädchen nach seinem Wagen zurück, »dein Charles hat jetzt keine Zeit, er klopft sich den Puder aus den Sachen, mit dem ihm der Chinese zu sehr bedacht hat, aber nimm mich einstweilen für deinen Charles.«
Da ward es dem Mädchen plötzlich klar, wie sehr sie sich geirrt hatte – ihr Begleiter war niemand anders als ihr Geliebter selbst gewesen, und als sie sich noch immer nicht von ihrem Staunen erholen konnte, erklärte dieser:
»Ich sollte während der Fahrt mit einem Dolchstich bedroht werden, aber Mister Wood war so egoistisch, ihn mir abnehmen zu wollen, er liebt dergleichen Neckereien. Doch, was ist das?« unterbrach sich Charles, der frühere Mister Wood, und spähte nach vorn. »Wird da nicht schon wieder um Hilfe gerufen?«
Die eben geschilderte Szene war natürlich nicht unbemerkt geblieben, der Ruf, daß auf jemanden im letzten Wagen ein Mordversuch gemacht worden sei, pflanzte sich von Wagen zu Wagen fort, die Kutscher mußten halten, alle liefen nach hinten, und wie ein Gerücht immer mehr übertrieben wird, je weiter es dringt, so glaubten die zuletzt Angekommenen schon die Leiche des armen Williams vorzufinden, wunderten sich aber nicht wenig, diesen an der Seite Miß Thomsons von dem hohen Sitz herabschmunzeln zu sehen. Es blieb nicht lange Zeit, allen die Situation aufzuklären, denn plötzlich erschallten in weiter Ferne gellende Hilferufe, aus weiblichen Kehlen kommend, ein Schuß fiel, und sofort wurde konstatiert, daß der Wagen, welcher den Zug eröffnete, nicht gehalten hatte, sondern weitergefahren war.
»Wer war denn drin?« fragte man hastig von verschiedenen Seiten.
Die im zweiten Wagen Sitzenden erklärten noch, daß das erste Gefährt von Marquis Chaushilm, Miß Nikkerson und einer Miß Sargent besetzt gewesen sei, dann sprangen alle wieder auf ihre Sitze und ließen die Kutscher ihre Pferde zum schnellsten Tempo antreiben, allen voran der Wagen, welcher vorhin der letzte gewesen war, mit Mister Wood, dem jetzt Bartlosen, darin, der sofort nach Bergung des gebundenen Chinesen weitergefahren und so an die Spitze gekommen war.
Mister Wood, oder Nick Sharp, beugte sich weit über den Kutscherbock nach vorn, das Wäldchen hatte man hinter sich, und so wurde der Weg wieder vom Monde beleuchtet.
Auf seinen Befehl mußte der Chinese halten, der Detektiv hatte mitten auf der Landstraße einen dunklen Fleck bemerkt, und im nächsten Augenblick stand er wie noch einige andere Herren vor einer großen Blutlache.
»Chaushilm hat geschossen und jemanden verwundet,« erklärte der Detektiv hastig, »der Körper ist zu Boden gesunken – hier die Spur im Staube – von anderen aufgehoben und fortgetragen worden, aller Wahrscheinlichkeit nach liegt er im Wagen. »Fort,« rief er, war mit einem Satz neben dem Kutscher seines Wagens, riß diesem die Zügel aus der Hand und hieb mit der Peitsche auf die kleinen, mageren, aber sehnigen Pferde ein, daß sie in wilder Flucht dahinstoben, die anderen bald hinter sich zurücklassend. – – – – – – –
In der Tat hatten Marquis Chaushilm, Miß Nikkerson und deren Freundin, Miß Sargent sich in dem ersten Wagen befunden. In dem liebebedürftigen Herzen des Herzogs war seit heute morgen eine Neigung für letzteres Mädchen erwacht, es war sicher, daß sie nach seiner Liebe schmachte, hatte er doch ganz deutlich gefühlt, wie sie ihm, als er ihr in den Wagen steigen half, die Hand drückte, und gar zu gern hätte er an ihrer Seite Platz genommen, wenn nur ein solcher frei gewesen wäre.
Im Garten des Mister Miller war es ihm aber auch nicht gelungen, die hübsche Miß Sargent mit den nußbraunen Rehaugen und den schwarzen Locken allein zu sprechen, immer war sie gerade mit einer Dame zusammen, in deren Gegenwart er nicht gut von seinen Gefühlen sprechen konnte, weil er derselben schon Aehnliches zu verstehen gegeben, und so hoffte er nun, bei der Rückfahrt eine günstige Gelegenheit zu erspähen, und wenn er dabei Gewalt anwenden müsse, um mit Miß Sargent allein in einen Wagen zu kommen.
Der Marquis hatte auch wirklich Glück.
Miß Sargent war eine der ersten, welche Platz nahm, sofort sprang ihr Chaushilm nach, gab dem Kutscher ein Zeichen, und fort rollte der Wagen.
»Warten Sie,« rief Miß Sargent lachend, »können Sie es denn gar nicht erwarten, nach Hause zu kommen? Dort winkt mir Miß Nikkerson, sie will mit uns fahren.«
Es half dem Herzog nichts, daß er tat, als habe er das Mädchen nicht verstanden, sie selbst ließ den Kutscher wieder halten, und mit ärgerlich zusammengekniffenen Lippen mußte er sehen, wie Miß Nikkerson zu ihnen einstieg.
»O weh,« seufzte Chaushilm innerlich, »gerade die, jetzt bin ich der Esel zwischen zwei Heubündeln.«
Heute morgen, als ihm Miß Sargent seiner Meinung nach die Hand gedrückt hatte, war ihm plötzlich völlig zum Bewußtsein gekommen, daß die blonde Miß Nikkerson keine passende Partie für ihn war, und so leid sie ihm auch tat, die ihn sicher heiß liebte, sein Glück durfte er deshalb nicht opfern. Nein, die schwarze Miß Sargent war die einzige, welche ihn besitzen durfte, die braunen Augen des Mädchens hatten es ihm angetan.
Aber davon anfangen durfte er unmöglich, Miß Nikkerson hätte es gehört, und der Herzog besaß ein viel zu zartfühlendes Gemüt, als daß er durch ein Bekenntnis das Herz eines Mädchens hätte brechen können. Nein, das konnte er unmöglich, er mußte eine andere, günstigere Gelegenheit abwarten, mit Miß Sargent allein zu sprechen.
So verlief die Fahrt ziemlich schweigsam. Miß Sargent war überhaupt nicht sehr gesprächig, und wenn sie einmal eine Frage an Chaushilm richtete, so war ein Seufzen dessen einzige Antwort. Miß Nikkerson versuchte mehrmals, eine Unterhaltung in Fluß zu bringen, aber es gelang ihr nicht, die Freundin begnügte sich mit einer einfachen Antwort, und der Herzog war so zerstreut, daß er alle Fragen zu überhören schien.
»Welches Gestirn suchen Sie am Himmel, Marquis?« scherzte sie. »Vielleicht die Venus? Ich habe Sie nun schon zweimal gefragt, wie es dem Mister Snatcher geht, aber Sie antworten mir nur immer mit angstvollem Stöhnen und wenden den Blick nicht vom Himmel.«
»Venus, Snatcher,« murmelte der Herzog, die Augen immer noch nach oben gewandt. »Was hat Snatcher mit der Venus zu tun?«
»Das weiß ich auch nicht,« lachte das Mädchen, »so hören Sie doch nur! Ich frage, ob Mister Snatcher sich auf dem Wege der Besserung befindet. Er war doch lange Zeit krank, die Ueberanstrengungen hatten seine Kräfte aufgerieben.«
»Ich bin noch nie krank gewesen,« meinte Chaushilm kopfschüttelnd, »Sie irren sich wohl. Meinen Sie vielleicht Lord Hastings? Der sitzt hinten mit Miß Sargent – Pardon, mit Miß Johanna im letzten Wagen.«
»So träumen Sie weiter,« sagte das Mädchen ärgerlich, »mit Ihnen ist heute nichts anzufangen.«
Auch sie ahmte das Beispiel ihres Gefährten nach, das heißt, sie öffnete den Mund nicht mehr und blickte träumend in die vom Mond beschienene Landschaft.
Plötzlich schreckte sie auf.
»Die Pferde gehen durch,« rief sie erschrocken.
Wirklich waren die Pferde aus dem bis jetzt beibehaltenen Trab mit einem Male in Karriere gefallen, aber Miß Nikkerson überzeugte sich sofort, daß sie es nicht freiwillig getan hatten, der Chinese im Vorderteil des Wagens hieb mit der Peitsche auf sie ein.
Jetzt erwachte auch Chaushilm aus seinem Brüten.
»Zum Teufel, Mann,« schrie er und packte den Kutscher beim Kragen, »wollen Sie uns umwerfen?«
Der Chinese antwortete nicht, Chaushilm mußte ihn loslassen, um sich festzuhalten, denn eben wurden die Pferde von der geschickten Hand des Kutschers, trotz ihres rasenden Laufes, so scharf um die Ecke gelenkt, daß sich der Wagen auf die Seite legte und die Insassen fast herausgefallen wären, hätten sie sich nicht an die Lehne geklammert.
Aber der Wagen fiel nicht um, gleich hatte er sich wieder aufgerichtet, und jetzt bemerkte Chaushilm, daß sie einen Seitenweg eingeschlagen hatten, den sie vorher nicht gefahren waren.
Wieder wollte er den Kutscher an der Schulter schütteln und ihn zur Rechenschaft über seine eigenmächtige Handlung ziehen, als plötzlich sich von allen Seiten dunkle Gestalten in den Wagen schwangen und sich auf die drei Personen stürzten.
Marquis Chaushilm war durchaus kein verzagter, energieloser Mensch, aber wie es in jeder Gesellschaft jemanden gibt, welcher den anderen zur Zielscheibe ihres Witzes dient, so hatte er auch diese Rolle übernehmen müssen, und er war gutmütig genug, sich die Neckereien seiner Freunde ruhig gefallen zu lassen. Aber er hatte auch schon oft bewiesen, daß im Falle der Gefahr auf ihn zu zählen war, und daß er seinen Mann stellen konnte.
Die Mädchen stießen gellende Hilferufe aus, als sie von den starken Armen der Unbekannten umschlungen wurden; Chaushilm gelang es, sich von dem würgenden Griff eines Chinesen wieder freizumachen, im nächsten Moment hatte er den Revolver in der Hand, ein Knall, und der vor ihm Stehende griff nach dem Herzen und fiel vom Wagen herab, der in seiner Fahrt anhielt.
Chaushilm kam nicht dazu, zum zweiten Male abzudrücken, seine Hände wurden von hinten gepackt, er sah noch, wie etwa sechs Chinesen die Mädchen überwältigten, und der Kutscher die Pferde zügelte, dann erhielt er mit einem harten Gegenstand einen Schlag über den Kopf, der ihn sofort bewußtlos auf den Boden des Wagens warf.