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»Onkel Eduard ist da.«
Mit diesen Worten stürzte ein etwa siebenjähriges Mädchen in das Arbeitszimmer von Jones Flexan und umklammerte die Kniee des noch immer schönen Mannes.
»Eduard?« fragte Mister Flexan erstaunt und hob die Augen von dem Zeitungsblatt, in dem er eben las: »Du irrst wohl, Kind!«
»Nein, nein, eben ist er aus dem Wagen gestiegen und ins Haus gekommen. Er hat einen ganz großen Koffer mit. Ob er mir wohl wieder etwas mitgebracht hat?«
»Gehe zu der Tante, Martha, und laß mich allein,« sagte Flexan kurz aber nicht unfreundlich. »Wenn es wirklich so ist, so kannst du zu Eduard nachher guten Tag sagen.«
»Mister Flexan,« meldete in diesem Augenblick ein Diener.
Der Herr gab ihm einen Wink, das Kind durch eine Seitentür mit hinauszunehmen und erwartete sichtlich unruhig den Eintretenden. Schnell musterte er noch einmal im Spiegel sein Gesicht und fuhr mit dem Taschentuch über die Backen, als könne er damit eine brennende Röte verwischen, die plötzlich darauf entstanden war.
War Eduard schon früher eine interessante Erscheinung gewesen, so hatte er sich nun zur männlichen Schönheit entwickelt, er besaß jetzt dasselbe Aussehen seines Onkels, welches einst das Herz der Mistreß Petersen zu betören vermocht hatte, dem unbekannten Fremdling die Hand zum ewigen Bunde vor dem Altar zu reichen.
Der schwarze Anzug saß wie angegossen an dem schlanken Körper, man hätte es nicht für möglich gehalten, daß eine solche breite Brust zu diesen schmalen Hüften passe, wenn man nicht die ganze Erscheinung vor sich sah, an welcher alles Harmonie zu sein schien. Das edle Gesicht war von der langen Fahrt auf sonnigem Wege etwas gerötet, aber diese Farbe harmonierte umso besser mit dem langen, schwarzen Schnurrbart, der dem jungen Mann einen noch kühneren Ausdruck verlieh.
Erst jetzt nahm er mit einer nachlässigen Bewegung den Hut vom Kopf, wischte sich mit dem Tuch über die Stirn, und nur, wer ihn ganz scharf betrachtete, konnte bemerken, mit welch seltsamem Ausdruck dabei seine grauen Augen den vor ihm Stehenden streiften, welcher noch immer wortlos den Eingetretenen betrachtete.
»Eduard,« begann er endlich und schob ihm einen Stuhl zu, auf welchem sich dieser niederließ, »was führt dich hierher? Ohne Nachricht, ohne Anmeldung? Es sind schon Jahre vergangen, seitdem du mir keinen Brief von dir zukommen ließest, es sei denn, daß dir die bewilligten Wechsel nicht genügten. Wo hältst du dich auf? Was treibst du? Bist du fortwährend auf Reisen?«
»Du stellst viele Fragen mit einem Male, Onkel,« erwiderte der Gefragte lächelnd. »Erlaube mir vor allen Dingen, mich nach deiner Gesundheit zu erkundigen. Steht noch alles beim alten?«
Es erfolgten einige allgemeine Fragen und Antworten, wie sie nach langjähriger Trennung erklärlich sind, hauptsächlich die Plantage betreffend.
»Und nun Onkel,« begann Eduard nach kurzer Pause, »eine Frage, welche mich hauptsächlich hierhergeführt hat.«
Mister Flexans Züge nahmen mit einem Male einen gespannten, unruhigen Ausdruck an, es war, als fürchte er eine bestimmte Frage.
»Nun, welche?«
»Hast du schon von Ellen gehört?«
Wieder warf der ältere Herr seinem Neffen einen unsicheren Blick zu, als er erwiderte:
»Soeben lese ich in der ›Times‹ den neuesten Bericht über das Mädchen, es hat sich vollkommen emanzipiert, Freundinnen gewonnen und verleitet diese nun zu den tollsten Streichen.«
»So weißt du von den Vestalinnen?«
Es entging dem Ohre des Mister Flexan Senior nicht, daß die Frage etwas höhnisch klang.
»Davon erfuhr ich bereits vor etwa einem Monat, jetzt bringen die Zeitungen Berichte über das Abenteuer, welches die Vestalinnen mit dem Mädchenhändler bestanden haben.«
»So, hm, und was sagst du dazu?«
»Ellen wird sich schon noch die Hörner ablaufen und einst als ein vernünftiges Weib zurückkehren.«
»Ich glaube nicht.«
»Warum soll sie nicht? Es hat alles seine Zeit.«
»Warum nicht?« war die spöttische Antwort des Neffen. »Weil Ellen wahrscheinlich überhaupt nicht wieder von dieser Reise zurückkommt.«
Es entging dem Neffen nicht, wie der alte Herr zusammenzuckte.
»Ich verstehe dich nicht,« murmelte er, »allerdings ist eine solche Reise mit vielen Schwierigkeiten verknüpft, manche Gefahren drohen den Mädchen, aber das ist noch kein Grund, für Ellens Leben zu fürchten.«
»Du scheinst ja sehr besorgt um sie zu sein!«
»Bin ich das nicht immer gewesen?« klang es entrüstet zurück.
»Allerdings, so lange du hofftest, daß sie meine Frau werden könnte, aber nun ...«
»Aber nun?«
»Aber nun,« fuhr Eduard fort, ohne sich Mühe zu geben, den Spott der Stimme zu mildern, »aber nun, da du gemerkt hast, daß alle deine Pläne mißglückt sind, scheinst du nicht mehr so sonderlich besorgt um das Leben Ellens zu sein.«
»Wie kannst du so sprechen?« brauste jetzt der Onkel auf. »Lasse ich Ellen etwas abgehen, kann ich dafür, daß wir keine Verbindung miteinander haben?«
»Das ist etwas anderes; du weißt recht gut, daß Ellen hier über alles zu verfügen hat, daß du nur der Verwalter ihres Vermögens bist, und daß ich, sobald du stirbst, fast ein Bettler zu nennen bin. Das Vermögen, das du mir zufallen lassen kannst, reicht nicht einmal aus, meine Schulden zu decken.«
»Kann ich etwas dagegen tun?«
»Ich glaube, du hast schon etwas dagegen getan, lieber Onkel,« klang es ironisch aus dem Munde des Neffen, »ich muß wirklich sagen, daß du sehr bemüht bist, für meine Zukunft zu sorgen.«
»Du weißt recht gut, aus welchem Grunde.«
»Aber du fragst mich nicht erst, ob ich mit deinen Bemühungen einverstanden bin.«
»Ich verstehe dich nicht.«
»Nun denn, so will ich deutlicher sprechen. Wann warst du das letzte Mal in New-York?«
Diesmal gelang es Eduard nicht, trotz aller Aufmerksamkeit irgend eine Aenderung in den Zügen seines Onkels zu entdecken. Entweder war die Frage eine vollkommen unverfängliche, oder jener wußte sich zu beherrschen.
»Das letzte Mal?« klang es gleichgültig. »Etwa vor einem Monat.«
»Stimmt. Gerade während der Abreise der ›Vesta‹. Was hattest du damals in New-York zu tun?«
»Nichts weiter, Geschäfte.«
»Mit dem Seewolf?«
Wäre eine Bombe im Zimmer krepiert, eine andere Wirkung als diese Worte hätte sie auf Mister Flexan auch nicht ausgeübt.
Die gesunde Röte verließ sein Gesicht plötzlich; kreideweiß sprang er vom Stuhl und mußte sich mit beiden Händen an dem Tische festhalten. Starr waren die hervortretenden Augen auf den Sprecher geheftet.
»Nun, nun,« beruhigte dieser, »du brauchst nicht so zu erschrecken, das Geheimnis ist in guten Händen ...«
»Woher hast du das erfahren?« stammelte der alte Mann, »ich bin verloren.«
»Durchaus nicht. Niemand weiß, wer dem Seewolf den Auftrag gegeben hat, als ich allein, ein Zufall hat es mir verraten. In der Tat, es ist recht hübsch von dir, so für mich sorgen zu wollen, indem du die Erbin aus dem Wege räumst, aber du weißt doch, wie ich mit Ellen stehe. Oder hast du keine Ahnung davon gehabt? Hieltst du alles nur für eine Folge deiner kalt berechneten Pläne?«
Mit großen Schritten ging Mister Flexan im Zimmer auf und ab, um das aufgeregte Blut zu beruhigen, und bald war ihm dies gelungen.
Plötzlich blieb er vor seinem Neffen stehen.
»Ich sehe, du bist eingeweiht,« begann er mit heiserer Stimme, »ein Leugnen dir gegenüber würde mir nichts helfen; um Gottes willen, Eduard, sprich, von wem weißt du es?«
»Sei unbesorgt, es weiß niemand anders, als ich; ein wunderbarer Zufall hat mir dein Geheimnis verraten. Aber beantworte meine Frage! Weißt du, wie ich von Ellen denke, was sie mir ist?«
Jetzt sprang auch der junge Mann auf.
»Ob ich sie liebe?« rief er und streckte beide Arme aus, als wolle er ein Phantom umfangen, »mehr als mich selbst, und,« fuhr er, mit den Zähnen knirschend, fort, »sie muß noch mein werden, und würde sie von allen Engeln bewacht.«
Sein Gesicht hatte einen furchtbar leidenschaftlichen Ausdruck angenommen, jetzt brach erst seine wahre Natur durch, eine unbezähmbare Leidenschaft, welche keine Grenze, kein Gesetz kennt, welche sich auch nicht scheut, zum Verbrechen zu greifen.
Beide Männer standen sich gegenüber, der eine noch bebend vor wildem Entsetzen, der andere bebend vor wilder Aufregung; und in diesem Augenblick konnte man erkennen, wie ähnlich sich die beiden waren, Zug um Zug glichen sie sich.
»Aber wie kann ich die Sache ändern?« begann Mister Flexan wieder. »Der Auftrag ist gegeben, ich weiß nicht, wie ich ihn zurücknehmen soll, und dann, Eduard, bedenke, was auf dem Spiele steht! Du hast vorhin richtig geurteilt, als du sagtest, nach meinem Tode wärst du einem Bettler gleich zu achten. Ich habe mein möglichstes getan, du hast alles versucht, Ellen an dich zu fesseln. Das stolze Mädchen geht seinen eigenen Weg, jetzt ist es noch Zeit, hat es sich aber erst verheiratet, so ist alles verloren.«
»Dazu ist sie auf dem besten Wege,« kam es zischend von den Lippen Eduards.
Erschrocken fuhr der alte Mann zurück.
»Jetzt schon? Nicht möglich! Mit wem?«
»Mit einem jener Engländer, die hinter der ›Vesta‹ herfahren. Ein Narr, der lieber im Freien als im Bett schläft, mit einem Wort, ein spleeniger Engländer, aber schwer reich.«
»Geht das nicht zu vermeiden?«
Eduard zuckte ungeduldig mit den Achseln.
»Ja und nein, aber ich habe keine Macht und kein Geschick, solche Geschichten einzufädeln. Du scheinst dich ja besser dazu zu eignen.«
»Ich?«
»Gewiß, du hast Talent dazu, wie du bewiesen hast,« sagte Eduard spöttisch, die Augen fest auf seinen Onkel geheftet, der sich wieder niedergesetzt hatte und nicht wußte, wie er den Blicken seines Neffen ausweichen sollte.
»Was führt dich eigentlich hierher?« fragte er.
»Der Wunsch, mehr von dir über diese Sachen zu hören. Was gedenkst du zu tun, wenn Ellen wirklich zu den Toten gerechnet werden muß? Glaubst du etwa, das Mädchen wird uns in ihrem Testament bedacht haben, uns, die sie beide haßt?«
»Sie hat keine Verwandte mehr,« murmelte der Onkel.
»Das ist es eben, sie wird alles einer wohltätigen Stiftung vermachen.«
»Nein, sie hat doch jemanden, den sie liebt, dem ihr Vermögen zufallen wird, sollte sie sterben, ehe sie geheiratet hat.«
»Und das wäre?« fragte Eduard erstaunt.
»Die Person, welche ich ihr geschenkt habe.«
»Wer?«
»Martha!«
»Ah, jetzt verstehe ich dich erst.«
Erregt war Eduard aufgesprungen.
»In der Tat, fein eingefädelt,« fuhr er fort, »Onkel, du bist ein Genie. Aber,« setzte er zögernd hinzu, »damit ist uns nicht geholfen.«
»Auch dafür ist gesorgt.«
Nun begann zwischen beiden ein längeres Gespräch, in flüsterndem Tone geführt, nach dessen Schluß sich Eduard erhob und seinem Onkel die Hand schüttelte.
»So wird es gehen, es kann uns nicht mißglücken.«
»Und du triffst zwei Fliegen auf einen Schlag,« lachte Mister Flexan; »nun, ich gönne es dir, Junge.
Also vergiß nicht, mir immer genaue Mitteilung zu machen, natürlich chiffriert, und dann: vorsichtig! Geldmittel brauchst du nicht zu scheuen, sie stehen dir immer zu Gebote, so viel du haben willst. Wie lange bleibst du noch hier?«
»Höchstens zwei Tage. Je eher ich reise, desto besser.«
»Richtig! Nun begrüße Martha und sei recht freundlich gegen sie, ich glaube, du hast schon jetzt einen Stein bei ihr im Brett. Hahaha.«
Onkel und Neffe trennten sich.
Wieder einige Monate später war es.
Unter der Dienerschaft auf Flexans Plantage herrschte große Aufregung; zischelnd steckten die Leute die Köpfe zusammen, und jedesmal, wenn ein Wagen durch die Einfahrt des Hofes kam, blieben die draußen Befindlichen stehen und die Fenster des Geschosses, in dem die Bedienten wohnten, waren stets dicht besetzt mit Köpfen, welche alle neugierig nach dem Fuhrwerk lugten.
Aber immer mußte die Aussteigende nicht die erwartete Person sein, denn mit einem bedauernden Gemurmel verließen die Neugierigen wieder die Fenster und gingen ihrer Arbeit nach.
Die Aufgeregteste aber von allen war Martha.
Bei jedem Wagengerassel schrak sie ängstlich zusammen und horchte, ob ein Schritt die Treppe heraufkam, und jedesmal huschte ein freudiges Lächeln über das hübsche Gesicht des kleinen Mädchens, wenn es nicht der Fall war.
Da, es war schon fast Abend, rollte wieder ein Fuhrwerk in den Vorhof, wieder flogen die Köpfe an die Fenster, und diesmal ging ein befriedigtes Murmeln durch die Reihen, denn in dem Wagen saß die Person, auf deren Erscheinen man auf der sonst von aller Welt abgeschlossenen Plantage schon seit Tagen gewartet hatte, eine Dame, die neue Gouvernante Marthas, denn die alte hatte ihre Stelle aufgegeben.
Es war eine stattliche Erscheinung, welche jetzt aus dem Wagen stieg, groß, schlank, aber wohlproportioniert gebaut. Sie war nicht hübsch zu nennen, hatte aber doch etwas Anziehendes in ihren Zügen, welches oft mehr wirkt, als eigentliche Schönheit, und ebensowenig, wie man etwas Bestimmtes von ihrem Gesicht sagen konnte, war auf ihr Alter zu schließen, es mochte etwa dreißig Jahr betragen.
Sie war sehr elegant gekleidet, vielleicht etwas zu auffallend; der durchbrochene Strohhut mit den wallenden Straußenfedern saß keck auf dem üppigen Haar, wie auch die übrige Toilette bunt genug war, aber das fällt im Süden nicht auf, man liebt dort grelle Farben, wenn ihre Zusammenstellung nur harmonisch ist.
Die Dame wurde von einem Diener nach den ihr zur Verfügung gestellten Zimmern geführt, um sich für die Vorstellung vor dem Hausherrn vorzubereiten, während ihr Gepäck ins Haus geschafft wurde.
Eine halbe Stunde später stand sie vor Mister Flexan.
Mister Jones Flexan war allgemein als ein großer Frauenverehrer bekannt, und man sagte, je besser ihm eine Dame gefiele, desto zuvorkommender sei er gegen sie.
War dies wirklich der Fall, so mußte diese Dame allerdings gleich beim ersten Anblick einen großen Eindruck auf ihn gemacht haben, denn er bewillkommnete sie ungemein höflich und bedauerte, daß sie den weiten Weg von New-Orleans, dem Hafenplatz von Louisiana, nach der Eisenbahnstation und von dieser nach hier allein zurückzulegen gezwungen gewesen wäre, aber er selbst hätte vor Geschäften nicht abkommen können, und so weiter, kurz, die Dame kam vor lauter Höflichkeitsphrasen anfangs gar nicht zum Sprechen.
»Doch nun zur Sache, Miß Kenworth,« sagte er endlich, als er seinen Schatz an Komplimenten erschöpft hatte, »Sie wissen, ich bin Witwer und daher immer in der fatalen Lage, mich nach Gouvernanten für das Kind umsehen zu müssen, welches ich angenommen habe. Sie verstehen, was ich damit meine,« unterbrach er sich, als er sah, daß die Dame flüchtig lächelte, »wenn ich sage, immer in der fatalen Lage. Ich meine nämlich damit, es hält so furchtbar schwer, jemanden zu finden, der länger als einen Monat aushält. Entweder glauben die Damen, einen besseren Platz bekommen zu können, und sie gehen fort, oder sie heiraten und werden fortgeholt.«
Mister Flexan erwartete, durch diese Worte der Dame wiederum ein Lächeln entlocken zu können, aber er hatte sich getäuscht, sie blieb ernst.
»Hoffentlich hat sie noch nicht gehört, warum ihre Vorgängerinnen immer wegliefen,« dachte er, und laut setzte er hinzu:
»Bei Ihnen wird dies nicht der Fall sein,« erwarte ich. »Sie werden sich sehr glücklich bei uns fühlen. Martha ist ein artiges Kind, und ich werde alles tun, um Ihnen den Aufenthalt auf dieser einsamen Plantage so angenehm als möglich zu machen.«
»Mister Flexan,« begann jetzt die neue Gouvernante mit wohltönender Stimme, »erlauben Sie erst, daß ich Ihnen den Brief gebe, welcher mich als diejenige legitimiert, für welche Sie mich halten.«
»Ach, das wäre ja gar nicht nötig, es sind ja schon genügend Empfehlungen eingegangen,« erwiderte Mister Flexan, nahm aber doch den dargebotenen Brief, erbrach ihn und las die wenigen Worte:
»Miß Kenworth ist die Ueberbringerin dieses Briefes. Vertrauen Sie ihr vollkommen, soweit Sie es für gut befinden!
E.«
Es war der Brief, den er mit Schmerzen erwartet hatte, oder vielmehr die Person, die ihn überbringen sollte.
Noch einmal schweiften seine Blicke über die Gestalt der vor ihm sitzenden Dame, welche nicht tat, als bemerke sie die begehrlich auf sie gehefteten Augen. Er war sehr zufrieden mit ihrer Erscheinung, sie hätte selbst weit weniger hübsch sein können.
»Wollen Sie mich nun mit meinen Pflichten bekannt machen?« fragte sie und wandte lächelnd den Blick vom Fenster ab auf ihn.
»Es sind die einer Erzieherin; Sie werden wenig Mühe mit Martha haben, sie ist ein gutes, williges Mädchen, weich wie Wachs ...«
»Das ist kein guter Charakter.«
»Hm, unter Umständen, nein! Sie haben meinen Neffen schon gesprochen?«
»Allerdings, in Baltimore hatte ich das Vergnügen, mit ihm für einige Stunden zusammen zu sein.«
»Haben Sie mit ihm über Martha gesprochen?«
»Unsere ganze Unterhaltung drehte sich nur um sie.«
»So wissen Sie ja also, um was es sich handelt. Sie verkehren natürlich in unserer Familie,« lenkte Mister Flexan ab, »bilden ein Mitglied derselben, und je enger befreundet Sie mit Martha sind, desto besser für uns.«
Das Gespräch drehte sich noch einige Zeit um gleichgültige Dinge, dann ward das Kind gerufen, mit seiner neuen Erzieherin bekannt gemacht, und schließlich ließ Mister Flexan beide allein.
Eine Stunde später wurde Martha von der Pflegemutter zum ersten Male ins Bett gebracht; darauf nahm der Hausherr mit einigen Gästen, welche von benachbarten Farmen auf Besuch gekommen waren, das Nachtessen ein, bei dem auch Miß Kenworth zugegen war, und als schließlich den Herren der Wein zu sehr zu Kopf stieg, entfernte sich letztere mit der Entschuldigung, von der Reise zu sehr ermüdet zu sein, um länger der Gesellschaft beiwohnen zu können.
Als Miß Kenworth in ihr Zimmer kam, riß sie förmlich das Spitzentuch, das ihren Hals verhüllte, ab, schleuderte es in einen Winkel und preßte beide Hände an die Schläfen.
Wie geistesabwesend starrte sie in den Spiegel, der im Scheine der Lichter ihr Bild wiedergab.
»Träume ich, oder wache ich?« flüsterte sie, unverwandt ihr Spiegelbild betrachtend.
»Bin ich denn nur verhext? Bin ich noch dieselbe, die ich früher war? Ich, eine Schauspielerin, eine Gouvernante, eine Spionin?«
Mit einem Male warf sie sich auf den Diwan und brach in ein lautes Lachen aus; es war, als könnte sie sich gar nicht wieder beruhigen.
Da schlug die kleine Stutzuhr auf dem Spiegel zwölf Uhr.
Sofort nahmen ihre Züge wieder einen ernsthaften Ausdruck an, sie erhob sich mechanisch, öffnete einen Koffer und entnahm daraus eine Schreibmappe, die sie auf den Tisch legte.
Sie setzte sich hin und schrieb einen langen Brief an eine Freundin nach New-York, so, wie ihn sich Bekannte zu schreiben pflegen, aber vorher hatte sie einige Worte, scheinbar ohne allen Zusammenhang, aufs Papier geworfen, jedes an einer anderen Stelle, und diese Lücken füllte sie nun aus.
Dann nahm sie ein Blatt Papier, brach es in einer merkwürdigen Weise zusammen, schnitt mit einer Schere an einigen Stellen ein Stückchen heraus und legte dann dieses Papier, nachdem sie es auseinandergefaltet hatte, auf den Briefbogen.
Jetzt war das Schreiben nicht mehr ein harmloser Brief an eine Freundin; setzte man die in den Lücken des Papiers sichtbaren Worte zusammen, so konnte man lesen:
»Bin ohne Argwohn engagiert. Er ist in Aus tra lien. Sein nächstes Ziel Ja va, dann Chi na.«
Alle Ländernamen waren dabei in weiten Zwischenräumen voneinander getrennt, so daß man sie im eigentlichen Brief nicht erkennen konnte.
Sie adressierte denselben wirklich an eine Dame in New-York und stützte dann den Kopf in beide Hände.
Lange Zeit blieb sie so sitzen, schließlich aber erhob sie sich mit einem tiefen Seufzer.
»Armes Kind,« murmelte sie, »was ich verbrochen haben mag, an dir will ich es wieder gut machen, das soll meine Sühne sein.«
Ein Tag verstrich nach dem anderen.
Miß Kenworth war eine gewissenhafte Erzieherin, sie gab sich mit Martha alle Mühe, und diese hing an ihr wie an einer Mutter. Ebenso war Mister Flexan mit ihr zufrieden; sie war zuvorkommend gegen ihn, soweit es sich für sie als Weib schickte, nie aber duldete sie einen Uebergriff über seine Rechte.
Oftmals neckte er sie wegen ihres immensen Briefwechsels, den sie mit ihrer Freundin in New-York unterhielt; er spottete über diese Liebhaberei der Frauen, wußte aber nicht, wie gut es der Gouvernante bekannt war, daß einige der für sie angekommenen, wie von ihr abgesandten Briefe von ihm geschickt erbrochen und gelesen worden waren, natürlich, ohne daß er irgend etwas Verdächtiges darin gefunden hatte.
Ja, einmal merkte sie an einem geheimen Zeichen, daß ihr Koffer von fremder Hand geöffnet und ihre Briefschaften durchstöbert worden waren, aber mit keiner Miene verriet sie, daß sie irgend etwas davon gewahrt habe.
Mister Flexan wußte nicht, welch eine gefährliche Person er in sein Haus aufgenommen hatte, wie jeder seiner Schritte, jede seiner Handlungen beobachtet wurden, er wußte nicht einmal, daß keiner der Briefe nach New-York ging, sondern daß er schon auf der nächsten Station von einem Postbeamten dechiffriert wurde und dann die Mitteilung als Telegramm nach fernen Erdteilen flog.
Hätte er andererseits ahnen können, wie genau die unschuldige Miß Kenworth in seinen Briefschaften Bescheid wußte, mit welchem Raffinement sie sich Zutritt zu seinem Arbeitszimmer zu verschaffen wußte, wie sie kein Mittel scheute, um sich darüber zu orientieren, wohin, mit wem und über was er korrespondierte und welche Briefe er empfing, er würde nicht mehr solch offenes Vertrauen ihr gegenüber gezeigt haben.
Aber kein Argwohn stieg in ihm auf.
Miß Kenworth war ja eine so ausgezeichnete Erzieherin, eine so liebevolle Mutter für Martha, sie nahm teil an den Gesellschaften, welche der freigebige Mister Flexan auf der Plantage öfters in größerem oder kleinerem Maßstabe gab, sie verschmähte sogar nicht, in den engen Herrenzirkeln zu verkehren und gab manchen Witz zum besten, über den sich die Gäste köstlich amüsierten.
Alle waren darin einig, daß Miß Kenworth eine exzellente Gesellschafterin sei, und Mister Jones Flexan wurde allgemein um eine solche Gouvernante beneidet. Bei derartigen Reden aber konnte der Hausherr gewöhnlich einen leisen Seufzer nicht unterdrücken.
War Miß Kenworth jedoch allein, so trat in ihrer Laune gewöhnlich ein Umschlag ein, sie gebärdete sich wie eine Verzweifelte, jammerte, klagte und sank schließlich in ein dumpfes Brüten, bis sie plötzlich zusammenschrak und sich mechanisch emporraffte, um noch einen Brief zu schreiben.